Hegel-Konjunkturen
Die Gesinnung eines Denkers identifiziert man am liebsten zweifelsfrei – Marxist oder Marktliberaler? Staatsdiener oder Freiheitsdenker? Hegel aber ist einmal Feind der Linken, dann der Rechten. Essay über einen Philosophen zwischen den Fronten.
Lange Zeit schien Hegels politische Zuordnung klar: Der preußische Staatsphilosoph, der für „vernünftig“ hielt, was „wirklich“ ist, galt als Apologet der nachrevolutionären Restaurationsepoche und Vordenker späterer Zwangsgebilde, etwas des Zweiten und Dritten Deutschen Reiches. Dass das Individuum in seinem System wie ein Zahnrad wirkt, das man gut ölen oder austauschen muss, damit es den Betriebsablauf von Staat und Weltgeschichte nicht stört, war ganz nach rechtskonservativem Geschmack, der mit linker und liberaler Liederlichkeit nichts anfangen konnte und stattdessen auf Hierarchie und Schicksal setzte. Daher blieb das linke Interesse an Hegel stets auf dessen Methode beschränkt. Marx etwa setzte dem bloß betrachtenden Flug der „Eule der Minerva“ das „Schmettern des gallischen Hahns“ entgegen, um alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes Dasein fristet. Selbst im zum Staat erstarrten Realsozialismus des 20. Jahrhunderts war noch etwas von diesem Veränderungsimpuls zu spüren.
Auf der anderen Seite der Mauer suchte Adorno mit dialektischen Mitteln einen Ausweg aus der Misere von Faschismus, Stalinismus und Kulturindustrie, in denen er etwas von jenem unerbittlichen Zwang wirken sah, den Hegel bejaht hatte. Nur wer vor dieser totalitären Konsequenz zurückweicht und das System von innen auflöst, kann sich, so Adorno, auf Hegel einlassen. Noch harscher fiel die liberale Kritik aus. Sie konnte an Hegel gar nichts Gutes erkennen, hielt ihn für einen Mystiker, Kauderwelschler und Kopfverdreher, dessen irrationale Lehre geradewegs zur Auflösung der Vernunft, zu Unterwerfung und Krieg führe, weshalb Karl Popper eine Linie „von Hegel zu Hitler“ zog.
Hegel als Philosoph des Great Reset?
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