Mythos Natur
Wie wir leben, ist seit jeher von der Natur bestimmt. Doch auch unser Verständnis von ihr ist historisch gewachsen und sollte an der Trennung zwischen Natürlichem und Kulturellem zweifeln lassen. Ein Ausstellungsbesuch.
Ob im Tourismus oder beim Klimaschutz: Natur wird oft als Gegenpart zu einer menschlichen Kultur und Zivilisation verstanden. Sie wird dabei als das noch nicht berührte Land dargestellt, das es zu bereisen oder zu schützen gilt. Doch diese Erzählung ist irreführend. Denn die – zumindest in Europa – als Natur bezeichneten Felder, Wiesen und Wälder, in denen manch ein Städter Zuflucht sucht, sind genauso von Menschen hergestellt, wie der Rasen der Münchner Allianz Arena. In Deutschland gibt es kaum einen Zentimeter Land oder ein Gewässer, das nicht vom Menschen auf die ein oder andere Art beeinflusst ist. Was wir als Natur begreifen, so der Geobotaniker Hansjörg Küster, ist „Natur aus zweiter Hand“. Angesichts dieser Künstlichkeit stellt sich nicht nur die Frage, ob und inwiefern wir noch von Natur als dem Gegenteiligen des menschlichen Zivilisationsprozesses sprechen können, sondern noch viel fundamentaler, was Natur eigentlich ist.
Im Wandel der Zeit
Die neue Ausstellung Natur und deutsche Geschichte des Deutschen Historischen Museums Berlin setzt sich mit genau diesen Fragen auseinander. Dabei ist der Name Programm. Durch die Gläser der deutschen Geschichte behandelt die Ausstellung den sich über die Zeit verändernden Umgang mit der Natur und das sich damit transformierende Selbstverständnis der Menschen. Die Zeitspanne reicht dabei von den Reflexionen einer Hildegard von Bingen bis zu den Antiatomkraft- und Naturschutzbewegungen der 1980er Jahre. Anhand von ausgewählten kulturellen Artefakten wird in die unterschiedlichen Epochen hineingezoomt und das jeweils zum Ausdruck kommende Naturverständnis thematisiert. Unter diesen Artefakten: ein Fischereivertrag zwischen Konstanz und Überlingen aus dem Jahr 1536, der die Nutzung des Bodensees regeln sollte, die aus Peru kommende Kartoffel, die im 17. und 18. Jahrhundert die Versorgung der Bevölkerung revolutionierte, sowie ein Minimodell eines Eimerketten-Raupen-Schwenkbaggers, der exemplarisch für den Kohleabbau der Nachkriegszeit steht.
Dabei wird zum einen deutlich, wie sehr sich die historischen Gesellschaften in ihren Lebensformen und Selbstverständnissen durch die sich historisch gewandelten Möglichkeiten der Naturbeherrschung verändert haben. Die Ausstellung präsentiert die gesellschaftliche Transformationsbewegung als eine Wechselbeziehung zwischen materiellen Verhältnissen und Ideenbildung. In der Geschichte der Natur offenbart sich damit die Natur der Geschichte. Zum anderen wird deutlich, dass sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung auch das Verständnis der Natur, also was Natur ist, konstant gewandelt hat. Galt im Mittelalter die Natur noch als Ausdruck einer göttlichen Ordnung, in die sich der Mensch einpassen müsse, wurde sie in der frühen Neuzeit immer mehr zu einem zu erforschenden und kontrollierenden Objekt. Im Zuge der Industrialisierung wurde die Natur zum Counterpart der schmutzigen Produktionsverhältnisse. Man begann, mit der Natur eine Idee der Eigentlichkeit und Reinheit zu verbinden, die sie zunehmend zur Projektionsfläche unterschiedlicher politischer Forderungen machte. Besonders die Evolutionstheorien von Jean-Baptiste de Lamarck bis zu Charles Darwin sollten mit einem vermeintlichen Gesetz des Stärkeren und der natürlichen Auslese das Denken der Zeit prägen und im kolonialen Rassedenken und späteren Nationalsozialismus ihren zweifelhaften Höhepunkt finden.
Vom Schutz zur Koexistenz
Natur, so wird deutlich, hat nicht nur hinsichtlich ihrer Beschaffenheit Geschichte, sondern wesentlich auch als Konzept an sich. Natur in ihrem Sein ist nicht natürlich. Sie ist kein unendlich gleichbleibender Zyklus aus Werden und Vergehen. Ganz im Gegenteil. Was Natur ist, untersteht genauso historischen Wandlungsprozessen, wie die konkrete Gestalt unserer natürlichen Umwelt selbst. Es macht eben einen Unterschied, ob man Natur als Ausdruck einer göttlichen Vollkommenheit, als zu beherrschende äußere Natur oder als vulnerables System, das es zu schützen gilt, versteht. Implizit thematisiert die Ausstellung damit über die Darstellung der sich wandelnden Naturverständnisse die Frage nach dem grundlegenden Sein der Natur an sich. Darin liegt der philosophische Erkenntnisgrund, Natur in einem historischen Museum darzustellen.
Es wird deutlich, dass sich die Trennung zwischen Natur auf der einen und Kultur auf der anderen Seite als ein Trugbild erweist. „Jede Landschaft“, so bringt es die Historikerin Viktoria Urmersbach treffend auf den Punkt, „ist schon Kultur, bevor sie Natur ist. Der Gegensatz ist eine Konstruktion – eine mächtige, älter als die Romantik.“ Die Erkenntnis der Historizität des Naturseins hat tiefgreifende Konsequenzen. Sie unterläuft jede politische Position, die sich in der Argumentationsführung auf ein vermeintlich Natürliches bezieht. Dies betrifft insbesondere Ansichten über vermeintliche Unterschiede zwischen den Menschen hinsichtlich des Geschlechts, der Rasse oder der Sexualität. Eine Politik, die sich an natürlichen Differenzen ausrichtet, birgt, wie die Ausstellung am Beispiel des Kolonialismus und Nationalsozialismus vor Augen führt, die Gefahr von Diskriminierung und Unterdrückung. Und nicht nur das: Jemand, der sich auf ein Natürliches bezieht, begeht nicht nur in den meisten Fällen einen naturalistischen Fehlschluss, sondern will damit auch sagen, dass es in dem bestimmten Punkt nichts zu diskutieren gibt. Damit wird jeder Diskurs im Keim erstickt und damit die Basis eines jeden politischen Raums zerstört.
Kann man angesichts der Historizität der Natur überhaupt noch sinnvoll von einer Natur als Entität sprechen? Und wenn nicht, was würde das beispielsweise für den Natur- und Klimaschutz bedeuten? Zunächst zeigt die Ausstellung, dass Naturschützer einer durch und durch romantischen Naturvorstellung unterliegen. Zudem übernehmen sie, indem sie die Natur als schützenswert darstellen, die Trennung zwischen Natur und Kultur bedingungslos, ohne dabei die Schattenseiten dieser Unterscheidung zu reflektieren. Sie kommen nicht über die Idee der Natur als das Andere, das es entweder zu beherrschen oder zu schützen gilt, hinaus. Dabei liegt vielleicht im Sinne des Klimawandels der eigentliche Schritt darin, zu erkennen, dass es so etwas wie die Natur als Einheit nicht gibt. Vielleicht könnte uns eine solche Annäherung von der nicht zu begreifenden Abstraktion des Naturbegriffs befreien und den Blick frei für das Konkrete, d.h. die konkreten Tiere und Pflanzen machen. Es müsste dann darum gehen, als Mensch und Gesellschaft statt der Herrschaft eine Koexistenz mit der Umwelt einzugehen, sich also auf die konkreten Umgebungen, in denen man lebt, einzulassen und für sie verantwortungsvoll Sorge zu leisten. Letztlich gilt es, den Menschen nicht länger als das Andere der Natur zu verstehen, sondern als Teil einer komplexen Einheit, die es vor allem im Sinne der eigenen Existenz zu bewahren gilt.•
Die Ausstellung „Natur und Deutsche Geschichte. Glaube – Biologie – Macht" ist bis Juni 2026 im Deutschen Historischen Museum zu sehen.
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