Rahel Jaeggi: „Fortschritt ist weder Fakt noch Ideal“
Wir gratulieren Rahel Jaeggi zum Philosophischen Buchpreis, der ihr heute für Fortschritt und Regression verliehen wird. Im Interview plädiert sie für ein Fortschrittskonzept ohne Ziel, jenseits von Kulturimperialismus und blinder Naturbeherrschung.
Frau Jaeggi, nicht nur der Ukraine-Krieg, sondern auch die Wiedererstarkung nationalistischer Bewegungen stellen – zumindest aus europäischer Sicht – lang als sicher geglaubte Fortschrittsvorstellungen in Frage. Lässt sich dennoch an einem Konzept des Fortschritts festhalten?
Ich könnte es mir jetzt leicht machen und sagen: „Wieso sollte denn die Idee des Fortschritts in Frage stehen, bloß weil es weltgeschichtlich Rückschritte gibt?“ Die Idee der Freiheit wird ja nicht automatisch obsolet, weil es Unfreiheit gibt, genauso wie die Idee des Glücks nicht obsolet wird, weil viele Menschen unglücklich sind. Man könnte demnach einfach sagen, Fortschritt ist ein Ideal, eine Idee und die ist gültig, egal was weltgeschichtlich passiert. Sie ist der Maßstab, an dem wir das, was passiert, messen können und solche Maßstäbe brauchen wir, gerade weil die Weltgeschichte nicht so verläuft, wie wir uns das wünschen. Ganz so einfach möchte ich es mir aber nicht machen. Natürlich macht es etwas mit unseren Normen und Idealen, wenn sie permanent nicht verwirklicht werden oder sich sogar in ihr Gegenteil verkehren. Und man muss sorgfältig prüfen, ob es etwas an diesen oder an unserem Umgang mit ihnen gibt, das ihre Verwirklichung verhindert oder ihre Verkehrung ermöglicht. Ob man am Konzept des Fortschritts festhalten kann, entscheidet sich dann nicht an den bloßen Fakten des Weltgeschehens. Weder dieser entsetzliche Angriffskrieg noch der Krieg gegen die Geflüchteten an den Grenzen Europas mit seinen permanenten und systematischen Verletzungen der Menschenrechte und den unzähligen Opfern widerlegt als solches die Idee des Fortschritts. Gleichzeitig aber ist Fortschritt eben auch nicht nur eine Idee, nicht nur ein normatives Ideal. Ohne die wirkliche Möglichkeit einer Veränderung – im Sinne eines in der Geschichte angelegten Potenzials für eine andere soziale Ordnung – ist es ebenso sinnlos am Fortschritt festzuhalten. Aber man kann die Sache noch von einer anderen Seite her betrachten.
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