Thomas Fuchs: „Ein angstfreies Leben wäre ein gleichgültiges Leben“
Die Angst ist so alt wie die Menschheit. Bis heute ist kaum ein Gefühl so mächtig und verbreitet. Woran liegt das? Ein Gespräch mit dem Psychiater und Philosophen Thomas Fuchs über die leibliche Erfahrung der Angst, ihre Wurzeln und „Verkleidungen“, und wie man sich die Angst zum Freund macht.
Herr Fuchs, bei der Angst handelt es sich eigentlich um ein Frühwarnsystem, das uns in Alarmbereitschaft versetzt, wenn Leib und Leben bedroht sind. Glücklicherweise befinden wir uns heutzutage selten in solchen Situationen. Warum nehmen Angststörungen in unserer Gesellschaft dennoch zu?
Sie sagen schon richtig: Angst ist zunächst ein auf die unmittelbare Situation bezogenes Warnsystem, das die Funktion hat, Bedrohungen rechtzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken – sei es durch Flucht, Angriff oder Stillstellen. Solche unmittelbaren körperlichen Auseinandersetzungen mit Gefahr, die in eine der genannten Formen von Bewegung münden, spielen für uns aber eine immer geringere Rolle. Stattdessen ist es heute die Bedrohung der sozialen Stellung des Menschen, die für die Angst relevant ist. Also: Angst vor Statusverlust, Angst vor Beschämung, Angst vor Bedrohungen der beruflichen Zukunft, Angst vor Liebesverlust. Das sind alles keine vitalen Bedrohungen, sondern Bedrohungen, die vor allem unseren Wert betreffen.
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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