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Bild: SNA (Imago)

Essay

Tüfteln wie der Teufel – Putin und die Schrecknisse der Bricolage

Christoph Paret veröffentlicht am 30 September 2025 12 min

Putin gilt als Mann mit Plan: Er will die Vorherrschaft des Westens brechen und das russische Imperium wiederherstellen. Doch ein genauer Blick verrät: Putin bastelt und improvisiert, flickschustert und dilettiert. Ist er am Ende gar ein Postmoderner?

Hängt im ersten Akt ein geladenes Gewehr an der Wand, dann sollte es spätestens im dritten Akt abgefeuert werden. Man muss Tschechows Ratschlag an junge Dramatiker im Hinterkopf haben, um zu verstehen, warum sich der Ukrainekrieg endlos hinzieht. Bei diesem Krieg ist es nämlich so, als hätte sich der Vorhang über ein Stück erhoben, dessen Bühne voller Gerümpel ist. Die Schauspieler improvisieren mit dem, was zur Hand ist. Als hätte man die Requisitenkammer in die Bühne verwandelt, findet sich immer noch ein weiterer Gegenstand, mit dem sich Menschen umbringen lassen und die Zeit totschlagen lässt. Zur Anwendung kommen Waffen aus allen Stücken, die das Theater jemals gegeben hat, den futuristischsten wie historischsten. Und so ist man schon im x-ten Akt eines Stücks, in dem fortwährend geschossen wird. Ein Ende ist nicht absehbar.

Wenn es dagegen nach Militärökonomen wie Marcus Keupp gegangen wäre, hätten Russland schon vor Jahren die Kampfmittel ausgehen müssen. Ihr Irrtum? Sie dachten ein wenig wie Tschechow-Zuschauer. Suchend richteten sie den Blick an die Wand, als hinge die Länge des Stücks von der Anzahl der Gewehre ab, die dort hängen. Kühl zählten sie das vernichtete Kriegsgerät und berechneten die Abnutzungsrate der russischen Armee. Doch eine Abnutzungsrate erweist sich als schlechte Kennziffer, wenn man es mit jemandem zu tun bekommt, der aus dem Abgenutzten selbst Kapital schlagen kann. So einer ist der Bastler. Der Bastler hat noch immer einen auf Lager, mitunter gilt das wortwörtlich: Im Fundus eines längst untergegangenen Imperiums findet er jahrzehntealtes Militärgerät, das er flott macht für eine Art des Krieges, den sich die damaligen Waffenbauer nicht im Entferntesten ausgemalt hatten. Die Frage, welches Erbe uns der real existierende Sozialismus hinterlassen hat, erfährt in unseren Tagen eine höhnische Antwort: Seine Waffenarsenale, gepaart mit einer großen Bereitschaft und Übung im Herumbosseln.

 

Wer hat Angst vor der Bricolage?


Vor Putin mochte der Bastler das liebenswürdige Wappentier einiger versprengter Nostalgiker gewesen sein, die dem in der Industrie untergegangenen Handwerk hinterhertrauern; die müde Hoffnung der Konsumkritiker, die in ihm die leibhaftige Verweigerung der „Wegwerfgesellschaft“ sahen; der postheroische Heros der Kulturwissenschaftler, die auf Collage und Crossover setzten, nachdem niemand mehr so recht an ein kohärentes Werk glauben mochte. Der Bastler hatte den Status eines schönen Extras. Man bastelte umso eher als man es nicht nötig hatte. Man bildete sich aufs Basteln wer weiß was ein. Wenn Odysseus nach seiner Irrfahrt nach Hause kehrt, sollte er von seiner Gattin allein anhand seiner Bastelei erkannt werden. 

In der Dialektik der Aufklärung heißt es: „So antwortet ihr der Gemahl mit der umständlichen Erzählung von seiner dauerhaften Bastelei: als prototypischer Bürger hat er in seiner Smartheit ein hobby. Es besteht in der Wiederholung handwerklicher Arbeit, von der er im Rahmen der differenzierten Eigentumsverhältnisse notwendig längst ausgenommen ist. Er erfreut sich ihrer, weil die Freiheit, das ihm Überflüssige zu tun, ihm die Verfügungsgewalt über jene bestätigt, die solche Arbeiten verrichten müssen, wenn sie leben wollen.“ Freiheit, das Überflüssige zu tun als Bestätigung der eigenen Verfügungsgewalt über andere? Schön wär’s. Spätestens mit Putin wird aus dem Hobby der Bastelei selbst eine Form der Verfügungsgewalt.

 

Krieg über sein Ende hinaus


Schluss mit diesem Krieg!? Leider wissen Bastler als solche einfach nicht, wann Schluss ist. Bastler sind verliebt ins Gelingen, wobei diese Liebe in ihrem Fall umso verblüffender ist als sie sich durch keinerlei Gegenbeweise beirren lassen. Dabei sind sie von diesen Gegenbeweisen geradezu umringt: Ihr Interessengebiet gilt allein dem Kaputten, dem Aufgegebenen, dem Schrott, dem links liegen Gelassenen, dem Erledigten, dem Zerschossenen und Zerbombten. Der Bastler richte sich einzig und allein „an eine Sammlung von Überbleibseln menschlicher Produkte“, liest man im Wilden Denken Claude Lévi-Strauss‘, mittels derer er immer noch „glänzende und unvorhergesehene Ergebnisse zeitigen“ kann. Für andere mag gelten, dass sie so lange weitermachen, bis ihre Pläne durchkreuzt werden. Doch die sarkastische Bemerkung „Das fängt ja schon mal gut an“ bezeichnet die Art und Weise, wie der Bastler immer anfängt. 

Putin hatte vor, Kiew innerhalb von zwei Tagen einzunehmen. Wäre Erfolg in diesem Krieg davon abhängig gewesen, dass irgendein Plan sich erfüllt, er hätte ihn bereits zu Anfang schmählich verlieren müssen. Nun, weder das eine noch das andere geschah. Vielmehr wurde genau diese Verknüpfung zwischen Planerfüllung und Sieg gleich zu Beginn des Krieges gekappt. Die Kriegspläne scheiterten viel zu schnell, als dass dies dazu führte, diesen Krieg selbst scheitern zu lassen. 

Der Ukrainekrieg hält sich am Leben, weil der Augenblick des Sieges (oder der Niederlage) versäumt wurde und seither unermüdlich weitergewerkelt wird. Zauber des Beginns? Wunder des Weitermachens! Die Feier der lustigen Zweckentfremdung gehört zum guten Ton in den Kulturwissenschaften. Doch sie erweist sich angesichts der Phänomenologie dieses Krieges als falsche Fröhlichkeit: Von Lastwagen, die Teile von Fertighäusern zu transportieren scheinen, heben Drohnen ab; an handelsübliche zivile Drohnen werden Sprengsätze montiert; Uralt-Fliegerbomben werden zu präzisen Gleitbomben umfunktioniert; Ladas werden rudimentär mit Metallplatten gepanzert und mit eilig zusammengeschweißten Geschützrohren ausgestattet; über eine stillgelegte Gaspipeline infiltrieren Soldaten eine Stadt; Infanteristen fahren Sturmangriffe mit ungepanzerten Motorrädern, Quadbikes oder mit chinesischen Golf Carts; Schiffsanker durchpflügen die Ostsee, um Unterseekabel zu zerreißen. 

Man spricht von einem Abnutzungskrieg, zutreffender wäre es, von einem Nachnutzungs- und Umnutzungskrieg zu reden. Fast wehmütig erinnert man sich daran, dass Friedrich Kittlers Formel von der Rockmusik als „Mißbrauch von Heeresgerät“ (gemeint war, dass der Medienverbund von Funkgerät und Grammofon, gedacht zum Befehlsempfang und zur Befehlsspeicher, zu einem Musiksender umfunktioniert wurden) einmal als anstößig empfunden wurde. Wir haben allen Anlass, uns über den Missbrauch von Zivilgerät in erklärten und nicht erklärten Kriegen zu sorgen. Klar, die Ukraine bastelt auf dem Schlachtfeld nicht weniger als Russland, doch das ist nicht weiter erstaunlich. Der Underdog war immer dazu verdammt zu basteln. Auffällig in diesem Fall ist, dass Russland, die angebliche Supermacht, ebenso kämpft wie ein Underdog, der sich nur improvisierend über Wasser hält und mit dem vorliebnehmen muss, was zur Hand ist. Rambo-Russland! 

Entscheidender ist jedoch ohnehin ein anderer Punkt. Die Ukraine bosselt überhaupt nur auf dem Schlachtfeld herum, setzt ansonsten aber in aller Biederkeit und Solidität auf Sicherheitsgarantien, auf internationales Recht, auf das Einhalten von Verträgen, sie favorisiert einen nachhaltigen Frieden, sie gibt sich europäischer ist als jedes europäische Land , und NA(h)Todiger als jedes NATO-Mitglied. Unter dem Regime Putins lässt sich dagegen eine einzige Ausweitung der Wiederverwertungszone feststellen, über jede klassische Kampfzone hinaus. Das beginnt bei verrosteten Öltankern (die „Schattenflotte“) und es endet mit abgehalfterten SPD-Exbundeskanzlern, die wir schon längst in den Ruhestand verabschiedet hatten und die als „Gasgerd“ ihre Wiederauferstehung in Schimpf und Schande feiern.

 

Zweite Chancen mit Putin


Der Fall Schröder ist symptomatisch: Es mag mit Blick auf die ominösen „Fensterstürze“, die Russen in gehobener Position immer wieder zu Tode bringen, zynisch klingen, doch Putin ist der Mann der zweiten Chancen. Ob es sich um arbeitslose Männer in abgelegenen russischen Dörfern handelt – die Überflüssigen des Weltmarkts, die weder als Konsumenten noch als Produzenten ins Gewicht fallen - ob es sich um Mörder und Vergewaltiger in Gefängnissen handelt, die die russische Gesellschaft selbst längst aus dem Verkehr gezogen hat, sie alle finden sich plötzlich als Kanonenfutter an einer Front verheizt und Zwecken zugeführt, die sie niemals auf dem Schirm hatten. 

Es betriff nicht Russen allein. Zurecht ist die Kategorie des „nützlichen Idioten“ in letzter Zeit neu in Umlauf gekommen. Putin „recycelt“ die liberalen Kämpfer gegen die Netzzensur, die in ihrer neuen Rolle russischen Internettrollen freie Bahn gewähren oder die westlichen Demokratien als Räume der unterdrückten Rede bloßstellen. Putin „recycelt“ den Typus des linken Refugee-Aktivisten, der auf die Durchsetzung europäischer Standards setzt und sich auch für jene Flüchtlinge einsetzt, die über Weißrussland nach Europa eingeschleust werden. Putin „recycelt“ die Pilatus-Pazifisten der SPD, die ihre Hände in Unschuld waschen, während sie den Aggressor gewähren lassen, Putin verwertet mit der AfD eine nationalistische Partei wieder, die auf einmal die Rolle des Vaterlandsverräters spielen darf. Jeder frage sich einmal, was er mit diesen Leuten noch anfangen könnte, und man wird sehen, dass Putin, die ausländische Macht, mit ihnen definitiv immer noch ein wenig mehr anfangen kann als man selbst. Nicht zu reden von der Wiederaufbereitung Trumps: „He's playing Trump like a violin“. Die Lage wäre weit weniger dramatisch, wenn Putin sich damit begnügte, Gebietsansprüche auf einige ehemalige Sowjetrepubliken zu erheben, in Wahrheit begreift er schon längst den Globus als Feld seiner Bricolage. 

 

Weiter sein als Putin


Der Bastler fängt nicht bei null an - das Phantasma der Moderne -, er fängt mit allem noch etwas an, insbesondere mit dem, was für null und nichtig erklärt wurde. Deshalb gibt es, neben ihrer offensichtlichen Gegnerschaft, eine seltsame Arbeitsteilung zwischen Progressiven und Putins teuflischer Bricolage. Die Progressiven sind in technologischer, kultureller und moralischer Hinsicht längst weiter als Putin, und das heißt: sie haben ungeheuer viel abgeschrieben und aussortiert. Das hat unweigerlich den Effekt, dass sich die Müllberge der Geschichte immer höher türmen, aus denen dann andere, sind sie nur schambefreit genug, sich frei bedienen können. Und was hatte man sich nicht alles verbeten und versagt: Die Geschichte, das Patriarchat, den Nationalismus, den Imperialismus und den Militarismus und die Propaganda und das Öl und den Atomkrieg als Option. All das wird jetzt von Putin, in dieser Hinsicht weit mehr noch Mistkäfer als Mistkerl, aufgelesen „nach dem Prinzip ‚das kann man immer noch brauchen‘“ (Lévi-Strauss).

 

Krieg gegen die Dauer


Man sollte sich nicht in falscher Ruhe wiegen bei dem Gedanken, dass Russland dabei fortwährend schlechte Qualität liefert. Hier eine eilig selbst zusammengeschusterte Geschichte Marke Eigenbau, dort die zusammengestoppelten Bündnisse mit einem China, einem Iran oder einem Nordkorea, die, was auch immer sie zusammenhält, gewiss im Namen keiner universellen Ideen oder einer gewachsenen historischen Erfahrung verbunden sind (die „strategischen Partnerschaften“). Das alles klappt vielleicht nur halbwegs und es geht nicht lange gut, aber es klappt nun einmal und es geht. Auch das entspricht der Logik der Bricolage. Denn der Bastler erlaubt es sich nicht nur, aus dem Hapernden noch etwas zu machen, er nimmt sich zusätzlich die Freiheit, etwas auch wirklich schlecht zu machen. Durch nachhaltige Reparaturen würde er sich nur selbst aus dem Spiel kegeln. Der Sozialphilosoph Alfred Sohn-Rethel hat das vor hundert Jahren in Neapel beobachten können: Durch eine dezidiert schlechte Reparatur wird sichergestellt, dass immer wieder bastelnd nachjustiert werden muss.  Der Bastler würde niemals die finale Lösung anbieten, er offeriert am laufenden Band Notlösungen. Denn wer hat gesagt, dass es lange gut gehen soll und nicht vielmehr gerade noch einmal, wieder und immer wieder? 

So hat man bei Putin zwar kaum einmal den Eindruck, hier würde etwas Bedeutsames geschaffen, aber man stellt doch regelmäßig überrascht fest, dass er es wieder mal geschafft hat. Lächerlich, sich zu fragen, was seine übergreifenden Ziele sind, was das große Vorhaben hinter seinem Tun ist, welchen Platz in den Geschichtsbüchern er einnehmen will. Geschichte ist hier allenfalls Privatobsession eines Mannes, der nach Art eines Modelleisenbahnbesitzers in seinem Hobbykeller in jahrelanger Arbeit eine ganze Landschaft entstehen lässt. Doch abgesehen davon, dass die Geschichte selbst nur Teil jenes Krempels ist, den Putin reaktiviert, wird zunehmend offensichtlicher, dass er den Westen von zwei Seiten in die Zange nimmt: Von der Seite dessen, der den längeren Atem der Geschichte hat und der spöttisch beobachtet, wie die Demokratien von der Kurzatmigkeit von Wahlen aufgerieben werden, und von der Seite dessen, dessen Zeithorizont nicht weiter als zwei Wochen oder zwei Monate reicht. Putins Geheimrezept: Improvisierend die Lage aussitzen. Jede Gelegenheit nutzen, um Zeit zu schinden. Lächerlich deshalb, ihm vorzuwerfen, er verfolge keine nachhaltige Strategie, sei ein unzuverlässiger Bündnispartner, mit ihm sei kein „dauerhafter Frieden“ möglich. 

Vielleicht muss man bis zur Funktionsweise der Mythen zurückgehen, um zu verstehen, dass es Gebilde gibt, die einzig und allein darauf angelegt sind, zusammenzustürzen. Bei Franz Boas ist zu lesen: „Man könnte meinen, die mythologischen Welten seien dazu bestimmt, eingerissen zu werden, kaum daß sie sich gebildet haben, damit neue Welten aus ihren Fragmenten entstehen.“  Das ist jetzt wieder unsere Welt. Leute wie Putin wollen keine andere stabile Ordnung, sie wollen etwas anderes als eine stabile Ordnung: Das erklärt, weshalb man angesichts der momentanen Weltlage gleichzeitig den Eindruck haben kann, daß ständig etwas Irres passiert, was alle Aufmerksamkeit bündelt, und sich zugleich nichts Wesentliches ändert und sich unhaltbare Zustände weiter durch die Zeit schleppen. Und während manche erschrocken zusehen, wie die Welt zerfällt, in denen sie überdurchschnittlich gut gelebt haben, gibt es hier von anderer Seite ein dezidiertes Interesse an einer zerfallenden Welt, in der sie sich dann unablässig als Bastler betätigen können.

 

Kritik der kleinen Geste


Es ist das eine sich zu fragen, wie Putin zum Bastler wurde – als Reaktion auf den Scherbenhaufen der 90er Jahre? In den Maschen eines löchrigen Staatsapparat, der seit 1991 von Oligarchen unterwandert ist? In Reaktion auf die Übergröße Russlands, die nur die Improvisation zulässt? Oder als Erbe der nichtfunktionierenden sowjetischen Planwirtschaft?  Es ist das andere festzustellen, wer auf jeden Fall nicht bastelt, und das sind wir. Die Aussicht, dass die westliche Partei ausgerechnet bastelnd, ohne großen Plan besiegt werden könnte, ist verblüffend. Schließlich bildete man sich gerade hier seit Jahrzehnten viel darauf ein, alle kühnen Visionen, ambitionierten Pläne und großen Erzählungen beerdigt zu haben. Man glaubte das Prinzip der Bricolage für sich reserviert zu haben und bemängelte an der ideologischen Gegenseite „Planungsoptimismus“. In den seltenen Momenten, wo man sich zu etwas bekannte, war dies das „Durchwurschteln“, falls dies Bekenntnis genannt zu werden verdient. 

Wie kann sich da ausgerechnet die Bricolage als unsere offene Flanke erweisen? Die Antwort ist: Man wird dadurch, dass man sich die Bastelei auf die Fahnen schreibt, noch lange nicht zum Bastler, im Gegenteil. Wer große Projekte als naive Formen des Ingenieurswesen aufgibt, der hat alle Pläne von vornherein derart weichgekocht, dass es sich empfiehlt, die verbliebenen kümmerlichen Vorhaben tatsächlich planmäßig anzugehen, wie ein Ingenieur. Es ist die grundlegende Ironie unserer Zeit, dass der Inkrementalismus, das Anti-Programm schlechthin, selbst zum Programm, aber niemals zur Praxis wurde. Tatsächlich haben wir im Westen die großen Erzählungen und anspruchsvollen Vorhaben nur um den Preis beigelegt, von der Pest kleiner Erzählungen und ambitionierter Privatprojekte heimgesucht werden: „Karriereplan“, „Business Plan“, „Modularisierung“, „Projektantrag“, „Projektmanager“, „Prozessoptimierung“.

Umgekehrt hatte es gerade der Planungs-Optimismus des Sozialismus erforderlich gemacht, in großem Stil herumzubosseln. Denn das improvisierende Basteln ist nicht etwa der Gegensatz zur Umsetzung weit ausgreifender Pläne, es bildet die einzige Möglichkeit, derartige Pläne umzusetzen. Das ist der springende Punkt von Alexander Kluges fiktiver Miniatur-Autobiographie eines DDR-Ingenieurs. Es geht nichts über Reparaturerfahrung. Das Standardargument gegen den Sozialismus, dass man Planwirtschaft nur mit dem Effekt betreiben kann, dass die Pläne nicht aufgehen, verweist in Wahrheit auf einen Vorzug. Richtig, die DDR hat niemals richtig funktioniert – vier Jahrzehnte lang. Derart lange mit Hängen und Würgen Bestand haben: Das muss man erstmal hinbekommen. Und man schaffte es überhaupt nur bastelnd. 

Es verwundert deshalb nicht im Mindesten, wenn es jetzt ehemalige Sowjetrepubliken sind, die werkelnd einen Krieg weiterführen, der seinen Zenit längst überschritten hat. Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied zu damals. Dieses Mal ist es nicht der große Plan, der zur Bricolage nötigt, sondern es ist ein Krieg, der alles anders kommen lässt. Rückwirkend können einem die überambitionierten Wirtschaftspläne jedenfalls als der freundlichere Anlass für die Bricolage erscheinen. Was Derrida gelegentlich angemerkt hatte, ist erst für uns vollends zur Frage geworden: Die „Brikole war wahrscheinlich in erster Linie eine Kriegs- oder Jagdwaffe, konstruiert zum Zwecke der Zerstörung; wie kann man da noch dem Bild des friedlichen Bastlers trauen?“ •


Christoph Paret ist Philosoph und Kulturwissenschaftler. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wien und hat 2023 sein Buch Wer hat Angst vorm alten weißen Mann? Maren Ades Rendezvous mit Alain Badiou veröffentlicht.

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