Akustischer Egoismus
In Bus und Bahn werden laut Videos geschaut und Telefonate mit Lautsprecher geführt. Der öffentliche Raum wird zur Kulisse für Privatleben. Woher kommt das?
Mittlerweile ist die Situation für all diejenigen, die häufiger auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind, nicht mehr neu: Man steigt in eine Bahn oder einen Bus, hat sich gerade gesetzt oder einen passenden Stehplatz gefunden, da fällt diese Person auf, die ungefähr in Zimmerlautstärke YouTube-Shorts, TikTok-Videos oder Instagram-Reels anschaut. Alternativ videofoniert die Person und all die Antworten aus der Leitung, das Krächzen und die Nachfragerei, alles ist für jeden im Umkreis von zehn Metern verständlich. (Und manchmal erhascht man noch einen Blick auf den Bildschirm, wo ein fleischiges Kinn vom Handylicht aus der Froschperspektive ausgeleuchtet wird.)
Wie damit umgehen? Die meisten Menschen entscheiden sich dafür, die akustische Belästigung gekonnt zu ignorieren. Außer dem ersten taxierenden Blick sieht man vielen danach nichts mehr an, es ist, als wäre das alles nicht da. Eine verständliche Taktik. Man weiß immerhin nie, wen man da vor sich hat. Würde die Situation eskalieren? Ist mein Gegenüber jähzornig, aggressiv, gar bewaffnet? Und doch gibt es immer wieder Menschen, die die Unsitte ansprechen. Und die Reaktionen weisen eine ziemliche Bandbreite auf: Von fast unterwürfigem Einlenken über genervtes Reduzieren der Lautstärke bis zu regelrechten Wutausbrüchen. Bei einigen scheint es ein Bewusstsein dafür zu geben, dass hier der öffentliche Raum über Gebühr eingenommen wird, andere betrachten den Konsum ihrer Videos oder ihr lautstarkes Telefonat als ihr angeborenes Recht, dessen Infragestellung einer infamen Ehrverletzung gleichkommt.
Von vielen Menschen wird diese neue Unart anhand ethnischer oder generationeller Trennlinien eingeordnet. Es seien ja die ungehobelten Ausländer, die sich nicht benehmen könnten, oder die Jugendlichen, die sowieso ans Smartphone gefesselt seien und keinen Sinn mehr für ihre reale Umwelt hätten. Abgesehen von dem unterschwelligen Rassismus und einer Abwertung junger Menschen, die darin zu finden ist, wird die „Analyse“ schlichtweg dem Phänomen nicht gerecht, weil es sich quer durch die postmigrantische Gesellschaft und fast alle Altersstufen zieht. Der zwanzigjährige biodeutsche Dachdecker nimmt sich das Smartphone-Manspreading auf dem Nachhauseweg genauso heraus wie die bulgarische Großmutter, die mit ihrer Tochter telefoniert.
Landnahme des Smartphones
Wer eine Erklärung jenseits solch eindimensionaler Betrachtungsweisen sucht, kommt nicht umhin, die Landnahme des Smartphones im Alltag damit in Verbindung zu bringen. Es erlaubt immerhin, ständig in einen Datenstrom einzutauchen, der mit der Arbeit, mit Freunden und weit entfernten Verwandten in Kontakt bleiben lässt und über die sozialen Netzwerke ein nicht enden wollendes Unterhaltungsangebot bereithält. Diese Entwicklung wird zumeist unter Suchtgesichtspunkten in den Blick genommen. Was nicht falsch ist: Bei vielen Menschen lässt sich an dieser Stelle eine ausgeprägte Verhaltenssucht erkennen, die so unglaublich perfide ist, weil es kaum noch möglich ist, ohne dieses Gerät im Alltag auszukommen. Und so bleiben die Digital-Detox-Trends eben genau das: Trends, die gegen die Integration des Smartphones ins gesellschaftliche Getriebe kaum ankommen.
Im Zusammenhang mit den akustischen Zumutungen im öffentlichen Raum aber stellt sich nun die Folgefrage, auf welche Weisen das Smartphone alltägliche Praktiken und soziale Interaktionen verändert. Aus diesem Blickwinkel zeichnen sich nämlich noch andere Unsitten ab. So wird unter dem Schlagwort „Phubbing” – ein englisches Kofferwort aus „phone” und „snubbing”, also so viel wie „brüskieren” – ein Kleben am Smartphone während einer realen zwischenmenschlichen Kommunikationssituation kritisiert. Mittlerweile fast schon Alltag: Man spricht mit jemandem und das Gegenüber holt das Handy hervor, beginnt zu lesen, zu tippen oder zu scrollen, ist gedanklich nur noch halb im Gespräch. Die Soziologin Sherry Turkle hat das bereits in ihrem Buch Alone Together beschrieben, in dem sie unter anderem von einem Vortrag auf einer Konferenz berichtet, bei dem nahezu das gesamte Publikum sich hinter Laptops verschanzte, sich online anderen Beschäftigungen hingab und dem Vortragenden nur zuweilen einen Anstandsblick zuwarf, der Interesse simulieren sollte.
Gephubbt werden auch Menschen, denen dieser Aufmerksamkeitsentzug unwahrscheinlich stärker schadet als Akademikern: Kinder nämlich, und zwar von ihren Eltern. Ein Problem, das die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vor Kurzem dazu veranlasst sah, eine Kampagne zum Thema zu lancieren, auf deren Plakaten Sätze zu lesen sind wie: „Heute schon mit Ihrem Kind gesprochen?” Und das mit Recht, denn Kinder, die immer wieder dieser Form von Vernachlässigung ausgesetzt werden, laufen Gefahr, in ihrer kognitiven und sprachlichen Entwicklung substantiell zurückzufallen.
Was sich beobachten lässt, ist eine Aufteilung der sozialen Sphäre in einen realen und einen virtuellen Bereich, die oft koexistieren, mitunter aber auch in Konkurrenz zueinander treten. Viele Menschen führen online – über Chatgruppen, Foren, soziale Netzwerke und Messenger – Freundschaften, Beziehungen und Bekanntschaften über tausende von Kilometern hinweg, zum Teil ohne die andere Person je von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. So viel sei positiv vermerkt. Die Auswirkungen des Internets sind in dieser Hinsicht zweischneidig. Einerseits ergeben sich neue Interaktionsformen, andererseits leidet oftmals der echte zwischenmenschliche Kontakt.
Zu diesem Ergebnis kommt auch der US-amerikanische Wissenschaftler Robert Putnam in der überarbeiteten Version seines soziologischen Klassikers Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, ursprünglich im Jahr 2000 erschienen. Hierin untersuchte Putnam zunächst die Individualisierung der Gesellschaft und den Zusammenbruch von Gemeinschaften ab den 80er-Jahren, dargestellt anhand des Niedergangs der Hobby-Bowling-Ligen in den USA. Das Ergebnis seiner Überarbeitung: Trotz der neuen Möglichkeiten hat das Internet den Verlust der geteilten sozialen Erfahrungen eher intensiviert. Dieser Verlust, wie er nicht müde wird zu betonen, lässt sich allerdings schon weit vor der massenhaften Nutzung von Internet und Smartphone feststellen.
Wie passt nun aber die neue Mode des rücksichtslosen öffentlichen Medienkonsums in dieses Bild? Im Sinne Putnams ließe sich argumentieren, dass dieses Verhalten ein Ausdruck ebenjenes Gemeinschaftsverlustes ist. Für den Menschen, der in der Bahn ohne Kopfhörer TikTok-Videos schaut, sind die anderen Fahrgäste eben nicht mehr Teil einer temporären Gemeinschaft, die einen gemeinsam genutzten Raum teilt, sondern gewissermaßen Statisten, die zufällig auch anwesend sind. Der YouTuber, dessen Videos man sehen will, oder die Cousine, mit der man telefoniert, sind eben mental näher als die Person im Vierer gegenüber.
Sicher: Egozentrisches Verhalten und Lärm in der Öffentlichkeit gibt es schon seit Menschengedenken, genau wie halbherziges Zuhören im Gespräch. Doch die Smartphones sind zu eigenen „Sendestationen“ geworden, durch die die Kakophonie des Internets in die analoge Öffentlichkeit tröpfelt. Diese Verschränkung von Privatem und Öffentlichem hat selbstsüchtiges bis dreistes Verhalten salon- und S-Bahn-Wagen-fähig gemacht. Die neuen Praktiken – und hier kommen wir zum eigentlichen Problem – sind bisher kaum gesellschaftlich reguliert. Die lärmenden Reels in der S-Bahn oder das Phubben noch der engsten Freunde verweisen auf eine Leerstelle: auf das Fehlen eines Smartphone-Verhaltenskodex‘, einer Kultur der digitalen Manieren. Während viel über Netiquette und Verhalten im Internet selbst geredet und geschrieben wird, ist das Verhalten an der Schnittstelle von digitaler und analoger Welt wesentlich seltener im Fokus. In den U-Bahnen und Bussen der BVG in Berlin gibt es mittlerweile Ansagen, die recht resolut darauf hinweisen, dass Videos mit Kopfhörern geschaut werden sollten. Vielleicht formt sich ein solcher Kodex gerade heraus. •
Weitere Artikel
Lauter Likes für leere Gaben
Überraschungsbesuche zu Geburtstagen sind ein Trend auf Social Media. In diesen Videos macht sich der unverhoffte Gast selbst zum Geschenk. Doch was zunächst rührend scheint, entpuppt sich als Geste des Egoismus.
Ayn Rand und der Egoismus
Heute vor 42 Jahren starb die russische Philosophin Ayn Rand, die in den USA als Ikone des Libertarismus gilt. Ihr Credo: Es lebe der „rationale Egoismus“. Der Philosoph Dominique Lecourt und der Unternehmer Peter Thiel stellen Rands Denken und Leben vor.
Die TikTokisierung der Welt
Der physische Raum folgt zunehmend der Ästhetik und Funktionslogik virtueller Welten: Einerseits werden Objekte aus dem virtuellen Raum „importiert“. Andererseits wird der öffentliche Raum wie ein Reel konsumiert.
Identitätspolitik à la Amazon
Über sein „support small businesses“-Programm fördert Amazon in den USA gezielt Shops, die von Frauen, Schwarzen oder Veteranen geführt werden. Was Einzelnen tatsächlich helfen kann, nutzt am Ende aber vor allem Jeff Bezos.
Ironisch überwacht
In einem Werbespot des Möbelanbieters Ori für einen begehbaren Kleiderschrank, der sich wortwörtlich auf Zuruf in eine gewöhnliche Schrankwand transformieren lässt, wirbt das Unternehmen für dessen Steuerbarkeit mit einem smarten Lautsprecher von Google.
Stefan Gosepath: "Es gibt eine globale Hilfspflicht"
Hilfe in Not ist mehr als ein Akt der Barmherzigkeit. Sie ist eine moralische Pflicht. Gespräch mit dem Philosophen Stefan Gosepath über individuelles Engagement, moralische Intuition und die unplausible Position des radikalen Egoismus.
Man hilft sich, wo man kann
Freundschaft ist nicht der Gegenentwurf zum Egoismus, sondern dessen erweiterte Form. Max Horkheimers Rackettheorie kann helfen, diese sanfte Art der Korruption zu verstehen.
Meine Freiheit: ja! Deine Freiheit: nein!
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey untersuchen das Milieu der Querdenker: Ihre Studie Gekränkte Freiheit zeigt, wie sich ein Gemisch aus Wut und Egoismus zum „libertären Autoritarismus“ verdichtet.