Alain Froment: „Die Idee der Pflege ist ein tierisches Erbe“
Ein junger Mann auf der Insel Borneo (Indonesien) soll vor 31.000 Jahren erfolgreich amputiert worden sein. Dies geht aus einer Studie hervor, die kürzlich in der Zeitschrift Nature veröffentlicht wurde. Der Anthropologe Alain Froment analysiert die Bedeutung dieser Entdeckung.
Das älteste archäologische Zeugnis einer Amputation, das auf 31.000 Jahre datiert wird, wurde kürzlich in Indonesien entdeckt. Hat Sie diese Entdeckung überrascht?
Alain Froment: Das Alter ist sehr erstaunlich! Wir hatten bereits Amputationsspuren, die mehrere tausend Jahre alt waren, aber wir hatten nichts Vergleichbares. 31.000 Jahre sind ziemlich kurz nach dem Auszug aus Afrika und der Besiedlung Südostasiens, wo dieser Fund gemacht wurde. Wir haben hier den unbestreitbaren Beweis für einen sehr frühen chirurgischen Eingriff. Ich teile jedoch nicht einige Schlussfolgerungen der Autoren des Artikels, die darin ein Zeichen für ein von Generation zu Generation weitergegebenes Wissen sehen, das von großer technischer Meisterschaft zeugt.
Aus welchen Gründen?
Aus dieser fernen Epoche haben wir nur wenige Skelette und kaum vollständige Skelette. Folglich entgeht uns vieles. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass die Praxis weit verbreitet, kodifiziert und beherrscht war, aber wir können es nicht mit Sicherheit sagen. Ich persönlich stelle mir eher eine Art Notoperation vor: Wenn jemand schwer verletzt ist, kann man ihn entweder sterben lassen oder eine Operation versuchen, die man nicht unbedingt beherrscht. In diesem Fall hat diese Maßnahme funktioniert, was nicht so erstaunlich ist. Natürlich birgt eine Amputation auch Gefahren. Die Wunde muss geschlossen werden, Blutungen und Infektionen müssen vermieden werden usw. Aber es handelt sich nicht um eine Operation von so großer Komplexität, die große Fachkenntnisse erfordert. Lange Zeit wurde in der christlichen oder islamischen Welt zur Strafe eine Hand oder ein Fuß abgehackt ... und der Verurteilte überlebte in der Regel, obwohl die Menschen damals noch keine Antibiotika hatten. Ich möchte außerdem hinzufügen, dass die Jäger und Sammler über gewisse Kenntnisse der Anatomie verfügten. Wenn sie ein Wildtier erlegten, verwerteten sie es in seiner Gesamtheit. Sie hatten zwangsläufig eine gewisse Vorstellung vom Aufbau der Organe.
Wie wurden die chirurgischen Techniken im Laufe der Geschichte perfektioniert?
Amputationen, wie übrigens auch die Trepanation [Öffnung des Schädels], die nach unserem heutigen Wissen vor 10.000 Jahren aufkam, sind gefährliche Operationen. Jeder Versuch birgt ein Risiko. Trotz allem wurden diese Techniken im Laufe der Geschichte immer weiter perfektioniert. Im neolithischen Lozère haben wir es zum Beispiel mit einem enormen Prozentsatz an Menschen zu tun, die trepaniert wurden, sehr oft vernarbten und überlebten. Dies zeigt, dass die Praktiker den Eingriff und die Folgen der Operation gut kannten. Zwar wurden diese Praktiken später formalisiert, insbesondere durch griechische Autoren wie Hippokrates, doch sie beruhen auf einem langen Erbe. Wie hat sich diese technische Beherrschung verbessert? Zunächst würde ich sagen, dass die Menschen ab der Jungsteinzeit mit der Zunahme von Kriegen und der Intensivierung der Gewalt keine andere Wahl hatten, als zu versuchen, zu verstehen, wie man Wunden verbindet oder bestimmte chirurgische Eingriffe durchführt. Es ist auch möglich, dass einige unserer entfernten Vorfahren gelegentlich an Tieren experimentiert haben. Diese Hypothese stellte ich zusammen mit Fernando Ramirez Rozzi nach der Entdeckung eines trepanierten Kuhschädels in der Vendée (4800 Jahre vor unserer Zeitrechnung) auf. Als wir den Eingriff mit Trepanationen an menschlichen Schädeln aus derselben Zeit verglichen, kamen wir zu dem Schluss, dass es sich um dieselbe Technik handelte. Es gab jedoch keinen überzeugenden objektiven Grund für den Eingriff. Daher unsere Vermutung, auch wenn sie sehr spekulativ ist - gestützt nur durch einen anderen Fall von Trepanation an einem Wildschweinschädel.
Wenn uns die Idee des Pflegens so offensichtlich erscheint, wie kam sie dann unseren fernen Vorfahren in den Sinn?
Meiner Meinung nach ist sie zum größten Teil ein tierisches Erbe. Wir sammeln heute immer mehr Belege – vor allem bei Schimpansen, aber auch bei Arten, die genetisch weiter von uns entfernt sind – für den Gebrauch von Heilpflanzen. Die Primatologin Sabrina Krief hat zeigt, dass Schimpansen sich selbst heilen. Wenn sie Parasiten haben, schlucken sie haarige Blätter, um den Darm auszufegen. Wenn sie Fieber haben, kauen sie besondere Blätter, die sie sonst nicht essen. Auch wenn wir keine eindeutigen Hinweise darauf haben, kann man sich vorstellen, dass es auch in der Tierwelt Möglichkeiten gibt, Wunden zu behandeln (z. B. mit Speichel, der antiseptische Eigenschaften hat). Angesichts dieses Erbes ist es nicht verwunderlich, dass die Menschen schon sehr früh Lösungen für die Wundbehandlung entwickelt haben. Es gibt nur wenige Zeugnisse dafür - insbesondere für die Behandlung von Weichteilverletzungen, die die Zeit nicht überdauern, im Gegensatz zu einer Amputation, die eine Spur auf dem Knochen hinterlässt. Es steht jedoch fest, dass die Pflege nicht etwas Neues ist. Eine ganze „Archäologie der Pflege“ muss noch erforscht werden.
Die Anthropologin Margaret Mead soll einmal gesagt haben, dass ein gebrochener und wieder zusammengenähter Oberschenkelknochen das älteste Zeichen der Zivilisation ist. Die Archäologie der Pflege trägt dazu bei, die Rolle dieser Solidarität in der ältesten Menschheitsgeschichte neu zu bewerten?
Auch wenn es zweifelhaft ist, die Aussage Frau Mead zuzuschreiben, unterstreicht sie, dass es keine Menschheit ohne Solidarität gibt. Manche stellen sich das Leben unserer fernen Vorfahren als egoistischen Überlebenskampf vor und wundern sich, dass wir nun die Menschlichkeit der Menschheit "entdecken"... Aber es ist dieses Vergessen der gegenseitigen Unterstützung, das wirklich erstaunlich wäre. Der Mensch ist ein soziales Tier. Er schützt die Schwachen, pflegt die Verletzten, hilft den Behinderten - ein Forschungsfeld, das sich in voller Blüte befindet, siehe z. B. die Arbeiten von Valérie Delattre. Zumindest im Rahmen der Gruppe. Diese Solidarität ist im menschlichen Unterbewusstsein verankert.
Sie drückt sich insbesondere im Mutter- bzw. Elterninstinkt aus?
Es gibt sicherlich einen Zusammenhang, ja. Die Unreife des menschlichen Säuglings ist eines der markantesten Merkmale unserer Spezies im Vergleich zu anderen. Der Säugling bleibt lange Zeit auf den Schutz und die Aufmerksamkeit seiner Eltern, allgemeiner der menschlichen Gruppe, angewiesen, bevor er seine Selbstständigkeit erlangt. Dies wirkt sich sicherlich auf den sozialen und solidarischen Charakter der Spezies aus. •