Alain Finkielkraut: „Der ,erste Mensch‘ ist eine Figur, die neue Fäden knüpft“
In Camus’ letztem, unvollendetem Roman Der erste Mensch sieht Alain Finkielkraut den Entwurf einer neuen Metaphysik, die mit der Vision des Absurden bricht. Ein Gespräch über die Feier der Natur, Maßhaltung und die Überwindung menschlicher Geschichte.
Philosophie Magazin: Sie haben zu einer Wiederentdeckung von Camus’ Werk beigetragen und gezeigt, dass es auch für unsere Zeit Erhellendes birgt. Persönlich haben Sie Camus allerdings recht spät für sich entdeckt. Wann sind Sie seinem Werk zum ersten Mal begegnet und was hat Sie letztlich zu ihm zurückgeführt?
Alain Finkielkraut: Ich habe nicht mit Camus angefangen, meine erste philosophische Lektüre war Sartre. Ich war 15 Jahre alt, als ich zwar nicht „Das Sein und das Nichts“ las – ich war keineswegs frühreif in Sachen Philosophie –, aber seinen Essay „Baudelaire“. Ich entschied mich zunächst für Sartres Existenzialismus, eine Philosophie, die besagt, dass das Sein des Menschen in der Freiheit, in der Nichtübereinstimmung mit sich selbst liegt. Das verhalf meinem Unbehagen als Jugendlichem zu einer gewissen Erklärung und Legitimität. Meine erste Begegnung mit Camus war eher in der Schule: Am Gymnasium stand „Der Fremde“ auf dem Lehrplan. Ich mochte das Werk nicht und kann mich auch heute noch nicht dafür erwärmen.
Warum nicht?
Ich finde es sehr konstruiert. Dieser von der Welt isolierte Mann, Meursault, der keinerlei Emotionen hat, scheint mir eine künstliche Figur zu sein; die Gesellschaft, die ihn verurteilt, weil er bei der Beerdigung seiner Mutter nicht geweint hat, kommt mir völlig unwirklich vor. Und Camus’ neutrale, trockene, emotionslose Schreibweise hat etwas Gezwungenes an sich. In meiner Schulzeit hielt ich Camus abschätzig für einen „Philosophen für Abiturienten“. Eine erste Rehabilitierung fand statt, als ich mich auf mein Staatsexamen als Lehrer vorbereitete. Auf dem Lehrplan stand „Die Pest“ und ich musste dazu eine Unterrichtsstunde für die berüchtigte Abschlussprüfung halten. Entgegen meinen Erwartungen gefiel mir das Buch, obwohl ich mit Vorbehalten an die Sache herangegangen war.
Befürchteten Sie, dass die Moral der Geschichte die literarische Dimension des Romans erdrücken würde?
Die Pest ist ein sehr bewegendes Buch, trotz der allegorischen Dimension. Und ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt, das Buch wortwörtlich zu lesen und nicht als Metapher für Faschismus und Résistance. Übrigens hat mich durch Zufall ein Gespräch mit Philip Roth in diesem Punkt bestätigt. Roth hatte mir das Manuskript von „Nemesis“, seinem letzten Roman, geschickt, in dem er die verheerenden Folgen einer Polio-Epidemie in Newark im Jahr 1944 schildert. Roth fragte mich, ob ich darin eine Ähnlichkeit zu „Die Pest“ entdeckt hätte. Ich verneinte dies und argumentierte, dass die Polio-Epidemie in seinem Roman im Gegensatz zu Camus nicht allegorisch sei, sondern für sich stehe. Erstaunt erklärte mir Roth, dass dies in den Vereinigten Staaten nicht die gängige Interpretation sei: Die Amerikaner lesen „Die Pest“ wortwörtlich und reduzieren die Geschichte nicht auf die allegorische Dimension. Damit bestätigte Roth mich in meiner ersten Lesart.
Wie kamen Sie dazu, sich mit Camus’ philosophischem Denken zu beschäftigen?
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