Alles ist erleuchtet
Zum Fest der Bücherliebe: fünf Empfehlungen aus der Redaktion, die Weihnachten wahr, schön und gut werden lassen.
1
Vom Börsencrash erzählen
„Geld. Was ist Geld?“, fragt eine der Figuren in Hernan Diaz’ Roman Treue. Glaubt man, eine Antwort zu erhaschen, entgleitet sie einem schon wieder. Und so bleibt nur dieses amorphe, flüchtige und doch arbeitende, wachsende, wütende Etwas, das die amerikanische Gesellschaft der 1920er-Jahre in ungeahnte Höhen befördert und mit dem nächsten Crash wieder in die Tiefe reißt. Im Zentrum steht der legendäre New Yorker Investor Andrew Bevel, der am Finanzmarkt, Fiktion aller Fiktionen, reüssiert wie kein anderer. Sein Vermächtnis und das seiner toten Frau vermag er aber nicht zu kontrollieren. Stattdessen präsentiert der Roman immer neue, miteinander konkurrierende Narrative. Ein grandioses Spiel mit der Wahrheit. / Jana Glaese
Hernan Diaz
Treue
übers. v. Hannes Meyer
Hanser Berlin, 416 S., 27 €
2
Den Strukturwandel überdenken
Der öffentliche Vernunftgebrauch befindet sich, so Jürgen Habermas, in einer Krise. Verantwortlich sind soziale Medien, die Zeitungen als Informationsquelle abgelöst, Wahrheits- und Relevanzfilter jedoch nicht übernommen haben. Eine Überflutung mit Unsinn ist die Folge, verstärkt durch Algorithmen. Diese wollen die User nicht mit anderen Ansichten belästigen, weshalb sie nur anzeigen, was gefällt. So zerfällt die Öffentlichkeit. Muss die Theorie des kommunikativen Handelns also umgeschrieben werden? Mit ihr suchte Habermas nach Verständigungsmöglichkeiten im spätbürgerlichen Zeitalter. Im nachbürgerlichen Kosmos der Digitalität ist das vielleicht schon nicht mehr möglich. / Moritz Rudolph
Jürgen Habermas
Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik
Suhrkamp, 108 S., 18 €
3
Das Bärenfell feiern
Diese Frau hat nicht nur ein Zimmer für sich allein, sondern ein fantastisches Haus voller Bücher, eine Insel im Norden Kanadas – und einen Bären. Dass sie manchmal schreit vor Glück, liegt aber auch am (bitte lesen Sie nur weiter, wenn Tabubrüche in Ordnung gehen) Bärensex. Die kanadische Autorin Marian Engel hat Bär schon 1976 veröffentlicht, und seither wurde selten so witzig und tiefgründig über Macht, Ausbeutung und Sehnsucht geschrieben. Die große philosophische Frage – Wie ist es, ein Bär zu sein? – ist damit noch nicht beantwortet, aber trotzdem: ein Roman wie ein Pelz in finsteren Zeiten, nicht zuletzt, weil seine Heldin unterm Sternbild des Großen Bären nach einer besseren Zukunft sucht. / Jutta Person
Marian Engel
Bär. Roman
übers. v. Gabriele Brößke
btb, 208 S., 20 €
4
Vor dem Staat fliehen
Sind wir als Menschheit falsch abgebogen? Diese Frage drängt sich nach der Lektüre von Thomas Wagners neuem Buch Fahnenflucht in die Freiheit auf. Darin nämlich vertritt der Soziologe die These, dass die Menschheit zum Opfer ihrer Bequemlichkeit geworden ist. Konkret: Wo Sesshaftwerdung und Staatenbildung in der frühen Menschheitsgeschichte sinnvoll waren, sind sie uns später zum Verhängnis geworden. Bei Konflikten beispielsweise könnten sich zwei Parteien nicht mehr aus dem Weg gehen. Kundig deutet Wagner auf die Gitterstäbe des sozialen Käfigs hin und führt vor Augen – mit Piraten oder Hippies als Beispielen –, dass eine Flucht in die Freiheit immer möglich ist. / Dominik Erhard
Thomas Wagner
Fahnenflucht in die Freiheit. Wie der Staat sich seine Feinde schuf – Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie
Matthes & Seitz Berlin, 271 S., 25 €
5
Kulturelle Aneignung riskieren
Überschreitet ein Kind, das sich als Indianer verkleidet, eine moralische Grenze? Zieht es unlauteren (Lust-) Gewinn aus der Aneignung einer unterdrückten Kultur? Jens Balzer war einst selbst dieses Kind, das es liebte, Federschmuck, lange Haare und Mokassins zu tragen, und es sind die heutigen Debatten um „cultural appropriation“, die ihn zu seinem Essay bewogen haben. Klug nutzt Balzer die poststrukturalistische Theorie, um misslungene von gelungener Aneignung zu unterscheiden. Was die Kriterien sind? Hier soll nicht gespoilert werden. Nur so viel: Es geht um eine Ethik, „die das Fremde im Eigenen freudig umarmt“. Tut ein kleiner Junge, der seine schwarzen Zöpfe im Spiegel bewundert, womöglich genau das? / Svenja Flaßpöhler
Jens Balzer
Ethik der Appropriation
Matthes & Seitz, 87 S., 10 €
Weitere Artikel
In der Sonne denken
Gut, schön und wahr: Die Redaktion empfiehlt fünf Bücher für den philosophischen Sommer.

Marcus S. Kleiner: „Wenn mein Buchhändler sich wie diese Algorithmen verhielte, würde ich ihn anzeigen“
Für viele ist nichts entspannender als ein Abend vor Netflix. In seinem jüngst erschienenen Buch Streamland argumentiert der Medienwissenschaftler Marcus S. Kleiner jedoch: Für die willkommene Ablenkung zahlen wir einen hohen Preis. Denn die algorithmisch generierten und persönlich zugeschnittenen Empfehlungen veränderten unser Verhalten weit über den Bildschirmrand hinaus. Warum Netflix und Co. das Erbe der Aufklärung gefährden und welche Schritte dennoch aus einer On-demand-Gesellschaft führen könnten, erläutert der Autor im Interview.

16. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazins bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 16. Türchen: Unser Redaktionshund Jimmy rät zu Politische Philosophie der Tierrechte von Bernd Ladwig (Suhrkamp, 411 S., 22 €)

Familie - Zuflucht oder Zumutung?
Der Herd ist noch an. Es fehlen einige Gabeln sowie Tante Barbara, die wieder „im Stau“ steckt. Egal. Anfangen, „bevor das Essen kalt wird“, mahnt meine Mutter wie jedes Jahr. Vor allem aber: „Langsam essen!“ Vater hat derweil schon den zweiten Bissen im Mund. Der Neffe spielt unter der Tischplatte auf seinem Smartphone. Meine Schwester versetzt ihm dezent einen Tritt. Der Schwager zischt: „Lass ihn doch einfach!“ Dass die Flüchtlingskrise als Thema tabu ist, hatten wir im Vorfeld per Rundmail zwar ausdrücklich vereinbart, aber was interessiert das schon Onkel Ernst? Denn erstens hat er kein Internet und zweitens kein anderes Thema. Ein verzweifelter Blick auf die Uhr. Und zur Gattin. Noch 22 Stunden und 34 Minuten, bis der Zug zurück nach Hause fährt. Durchhalten. Frieden wahren. Schließlich ist heute Weihnachten. Und das hier meine Familie.
Geschenktipps: Liebe zur Weisheit
Philosophisch feiern: Die Redaktion empfiehlt fünf Bücher für ein erleuchtetes Weihnachtsfest.

24. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfahl das Team des Philosophie Magazins vom 1. Dezember bis heute jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 24. Türchen: zum Abschluss eine weihnachtliche Überraschung!
Wir verlosen 3x ein Jahresabo Plus. Darin enthalten sind alle 6 regulären Ausgaben, 3 Sonderausgaben sowie der Zugang zu sämtlichen Online-Inhalten.
Zur Teilnahme schicken Sie einfach eine Mail mit dem Betreff „Weihnachten“ an gewinnspiel@philomag.de Einsendeschluss ist der 26.12.2020 um 23:59 Uhr. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden per Zufallslos bestimmt und am 27.12.2020 per Mail benachrichtigt.
Viel Glück und ein frohes Fest!

Was macht uns schön?
Wir leben in einer Zeit, in der sich alle Normen aufzulösen scheinen. Doch gerade in Fragen der Schönheit wird der Normierungsdruck immer stärker. Von den Griechen noch mit dem Wahren und Guten gleichgesetzt, unterliegt sie in der modernen Gesellschaft dem Verdacht der Oberflächlichkeit und Gedankenferne. Gerade weil Schönheit uns unmittelbar anzieht, bleibt sie verdächtig. Gerade weil sie von jedem ersehnt wird, kriegt sie keiner recht zu fassen. Nur eines scheint sicher: Ein Leben ohne Schönheit wäre schlicht unerträglich. Sie ist der wahre Preis unserer Existenz: Aber welcher Weg führt am verlässlichsten zu ihr? Muss Schönheit leiden? Lässt uns nur die Liebe schön sein? Oder liegt wahre Schönheit in der Selbstvergessenheit?
Gibt es einen guten Tod?
Kein Mensch entgeht dieser Frage. Für die meisten bleibt sie mit Angst behaftet. In den aktuellen Debatten zur Sterbehilfe wird über den guten Tod vor allem im Sinne des guten Sterbens und damit reiner Machbarkeitserwägungen verhandelt. Wo liegen unvertretbare Leidensgrenzen? Hat der Mensch das Recht, selbst über sein Ende zu bestimmen? Gibt es den wahrhaft frei gewählten Suizid überhaupt? Im Zuge dieser Konzentration auf das Sterben geraten die lebensleitenden Fragen aus dem Blick. Wie gehen wir mit der eigenen Endlichkeit und der unserer Nächsten um? Können wir uns mit dem Tod versöhnen? Wie sieht eine menschliche Existenz aus, die ihr Ende stets verdrängt? Oder ist das bewusste Vorauslaufen in den Tod – wie es beispielsweise Sokrates oder Heidegger behaupten – nicht gerade der Schlüssel zu einem gelungenen Dasein? Mit Beiträgen unter anderem von Svenja Flaßpöhler, Reinhard Merkel, Philippe Forest, Thomas Macho und David Wagner