In der Sonne denken
Gut, schön und wahr: Die Redaktion empfiehlt fünf Bücher für den philosophischen Sommer.
1
Geradlinig
Tove Ditlevsens erstmals vollständig ins Deutsche übersetzte Autobiografie entwickelt mit ihrem schlichten, geradlinigen Stil einen starken Sog: In drei Bänden erzählt die dänische Autorin ihren Aufstieg vom Arbeiterkind zur angesehenen Dichterin, der ihr in den 1940er-Jahren durch eine Verbindung von außergewöhnlichem Mut und glücklichen Fügungen gelingt. Mit Mitte zwanzig jedoch wird sie durch eine nicht minder unwahrscheinliche Verkettung von Umständen opiatabhängig und lebt jahrelang nur noch für den betäubenden Rausch: Für ihn ist sie bereit, den Arzt, der ihr die Spritzen verabreicht, zu heiraten, ihre Kinder zu vernachlässigen und das Schreiben aufzugeben. Absolute Glückseligkeit und Schmerzfreiheit, zeigt sich hier eindrücklich, sind nur um den Preis eines zerstörerischen Realitätsverlusts zu haben. Ganz los kommt die Autorin von der Abhängigkeit ihr Leben lang nicht mehr, ihre Bücher entstehen zu großen Teilen in Suchtkliniken.
– Theresa Schouwink
Tove Ditlevsen
Kopenhagen-Trilogie: Kindheit, Jugend, Abhängigkeit
übers. v. Ursel Allenstein,
Aufbau, insgesamt 448 S., insgesamt 54 €
2
Paradiesisch
Es gibt sie, diese Flecken Erde, die von der Natur so reich beschenkt wurden, dass man als Binnenlandbewohner nur ein Gefühl zwischen Neid und Bewunderung empfinden kann. Zu diesen gehört zweifellos das französische Seebad Juan-les-Pins, das nicht nur mit der Mittelmeerküste, sondern auch mit einem märchenhaften Pinienwald gesegnet ist. Ausgehend von diesem Ort hat der Journalist und Filmemacher Lutz Hachmeister eine Kulturgeschichte der Côte d’Azur verfasst: Intellektuelle, Künstler und Geschäftemacher treten auf und machen jene Exzentrik und jugendliche Verschwendung spürbar, die nirgendwo intensiver wirkt als an solch paradiesischen Orten. Hachmeister verliert sich mitunter in architektonischen oder lokalgeschichtlichen Details, gleichwohl spürt man genau, dass der Philosoph Peter Sloterdijk recht hatte, wenn er schrieb: „Wahrheit ist keine Eigenschaft von Sätzen, sondern Sommertagen.“
– Nils Markwardt
Lutz Hachmeister
Hôtel Provençal. Eine Geschichte der Côte d’Azur
C. Bertelsmann, 240 S., 22 €
3
Melancholisch
Melancholie durchweht diesen Roman, der um die Frage kreist, was „Daheim“ eigentlich ist: Falle oder Freiheit? Die Ich-Erzählerin lebte vor 30 Jahren in einer Einraumwohnung, existierte in der starren Struktur monotoner Arbeit. Jetzt, nach der Trennung von ihrem Mann, mit dem sie eine erwachsene Tochter hat, wohnt sie in einem kleinen Haus am Meer. Doch auch hier herrscht eine gewisse Enge, die Frau arbeitet bei ihrem Bruder, der im Dorf eine Kneipe betreibt und mit dem sie nicht viel verbindet außer einer nur angerissenen, wohl eher unglücklichen Kindheit. Weite stellt sich ein, als Mimi auftaucht. Auch sie braucht das Alleinsein, sodass sich die Ich-Erzählerin ohne viele Worte mit ihr verbündet. Glücklich ist die namenlose Hauptfigur aber nie. Auch nicht mit dem Schweinezüchter, den sie begehrt, ohne ihm zu verfallen. Distanz wird immer gewahrt, der einzige Rückzugsraum ist und bleibt: sie selbst. Falle oder Freiheit?
– Svenja Flaßpöhler
Judith Hermann
Daheim
S. Fischer, 192 S., 21 €
4
Magisch
Tief im Hinterland des Zarenreichs liegt ein verschlafenes Dorf, in dem sich die beiden Dorfältesten bei der Wettervorhersage Konkurrenz machen: Pjotr vertraut auf den Fluss, Ilja besitzt ein gläsernes Röhrchen, befüllt mit einer silbrigen Flüssigkeit. Der „Iljanismus“ scheint ganz ohne Flussgeister auszukommen, zehrt aber doch von einer anderen Art der Magie. Als der Krieg mit seinen Neuheiten – Ideen, Menschheit, Zukunft – über das Dorf hereinbricht, geht nicht nur das Zauberröhrchen zu Bruch. „Ideen sind Geisterwesen“, vermutet die findige Ilja-Enkelin. Das wirklich Magische dieses Debütromans ist seine Sprache, die luftgeistgleich zwischen Gewisper und Geraune, Bedrohlichem und Verheißungsvollem, Proklamationen und Träumen schwebt. Eine Wetterzeichen- und Epochenkunde voller (doch, hier passt es wirklich): Esprit und abgründigem Witz.
– Jutta Person
Yulia Marfutova
Der Himmel vor hundert Jahren
Rowohlt, 192 S., 22 €
5
Radikal
Leslie Jamison mag, wenn es wehtut. Warum? Hier eine Vermutung: Gerade weil ihr nicht leicht etwas wehtut. Ja, weil nur das Extreme zu ihr durchdringt. Sie liebt die radikale Innenschau wie in ihrem Buch „Die Empathie-Tests“ oder erkundet die selbstzerstörerischen Kräfte ihrer Alkoholsucht in „Die Klarheit“. Jetzt sucht sie, vor dem Hintergrund radikaler Einsamkeit, nach Verständigung: Ein Schlüsselessay des Bandes erzählt vom Wal 52 Blue, der mit keinem seiner Artgenossen kommunizieren kann, weil er auf einer anderen Frequenz singt. Doch Jamison dreht diese an sich schon absurde Geschichte weiter und fragt im Stil Schopenhauers: Kann oder will 52 Blue sich nicht verständlich machen? Auch deshalb ist sie die ideale Autorin für Millennials, die sich endlich mal wieder spüren wollen.
– Dominik Ehrhard
Leslie Jamison
Es muss schreien, es muss brennen
übers. v. Sophie Zeitz
Hanser Berlin, 320 S., 25 €
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16. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazins bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 16. Türchen: Unser Redaktionshund Jimmy rät zu Politische Philosophie der Tierrechte von Bernd Ladwig (Suhrkamp, 411 S., 22 €)

Was weiß mein Körper?
Die Frage irritiert. Was soll mein Körper schon wissen? Ist das Problem denn nicht gerade, dass er nichts weiß? Weder Vernunft noch Weisheit besitzt? Warum sonst gibt es Gesundheitsratgeber, Rückenschulen, Schmerztabletten, viel zu hohe Cholesterinwerte. Und wieso gibt es Fitness-Tracker, diese kleinen schwarzen Armbänder, die ihrem Träger haargenau anzeigen, wie viele Meter heute noch gelaufen, wie viele Kalorien noch verbrannt werden müssen oder wie viel Schlaf der Körper braucht. All das weiß dieser nämlich nicht von selbst – ja, er hat es bei Lichte betrachtet noch nie gewusst. Mag ja sein, dass man im 16. Jahrhundert von ganz allein ins Bett gegangen ist. Aber doch wohl nicht, weil der Körper damals noch wissend, sondern weil er von ruinöser Arbeit todmüde und es schlicht stockdunkel war, sobald die Sonne unterging. Wer also wollte bestreiten, dass der Körper selbst über kein Wissen verfügt und auch nie verfügt hat? Und es also vielmehr darum geht, möglichst viel Wissen über ihn zu sammeln, um ihn möglichst lang fit zu halten.
3. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazin bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 3. Türchen: Unser Chefredakteur Online Nils Markwardt empfiehlt Verführungen. von Marlene Streeruwitz (Suhrkamp, 304 S., 9 €)
