Aufruf zur Eigentlichkeit?
Ein isländisches Unternehmen hat eine Methode entwickelt, mit der das Todesrisiko von Menschen erstaunlich präzise ermittelt wurde. Aus philosophischer Sicht stellt sich da die Frage: Was, wenn sich eines Tages auch unsere verbleibende Lebenszeit exakt bestimmen ließe?
Mithilfe von Proteinmessungen gelang es dem isländischen Unternehmen deCODE, in einer Gruppe von 60- bis 80-Jährigen die 5 Prozent mit dem höchsten Todesrisiko innerhalb der nächsten zehn Jahre und die 5 Prozent mit dem geringsten Todesrisiko mit einer beeindruckend hohen Trefferquote zu identifizieren. Aus philosophischer Sicht wirft diese Erfolgsmeldung eine interessante Frage auf: Was wäre, wenn wir eines Tages tatsächlich in der Lage wären, unsere restliche Lebenszeit exakt zu bestimmen? Wie würde sich das menschliche Dasein dadurch verändern – individuell und kollektiv? Auf individueller Ebene kommt es natürlich ganz darauf an, wie die Prognose ausfällt.
Stellen wir uns drei gewöhnliche Männer vor, alle im Alter von 45 Jahren, denen jeweils unterschiedliche Lebenserwartungen prognostiziert werden: fünf Jahre dem ersten, 15 dem zweiten, und 45 dem dritten. Es steht zu vermuten, dass die Prognose das Leben des ersten am meisten beeinflussen würde: Fünf Jahre sind eine knappe Zeit. Also gilt es, keine weitere Zeit zu verlieren! Schluss mit den Nebensächlichkeiten, wozu noch in die Rentenkasse einzahlen und wozu überhaupt arbeiten, wenn das Ersparte doch reicht und der Job sowieso keinen Spaß macht?
Durchgeplantes Leben?
Diese Haltung entspricht ganz dem, was der Philosoph Martin Heidegger als „Aufruf in die Eigentlichkeit“ bezeichnen würde: eine authentische Existenzform, aus der alles Unwesentliche und jede fade Ablenkung getilgt worden ist. Das klingt zwar verlockend, zugleich aber auch ziemlich anstrengend. Zudem besteht die Gefahr, dass das „eigentliche“ Dasein in einen ganz anderen Modus umkippt: den eines komplett durchgeplanten und durchverwalteten Lebens, das ganz auf maximale Zeitressourcennutzung und existenzielle Effizienz getrimmt ist. Da kann man schon fast von Glück reden, dass der Aufruf in die Eigentlichkeit vermutlich umso leiser wird, je höher die prognostizierte Lebenserwartung ausfällt: Wer weiß, dass er noch 15 oder 45 Jahre zu leben hat, kann die Richtungsentscheidungen im Leben etwas besonnener angehen.
So würde Mann Nummer zwei – der, dem noch 15 Jahre bleiben – vielleicht seine Riesterrente kündigen, aber durchaus in Betracht ziehen, ein neues Sofa zu kaufen. Und der dritte im Bunde würde möglicherweise gar nichts groß ändern. Schließlich hat er noch genug Zeit. Die wichtigen Entscheidungen lassen sich da auch gerne verschieben. Wirklich interessant wird das Gedankenexperiment, wenn man die Möglichkeit zulässt, dass die Prognose das Prognostizierte beeinflusst. Wer weiß, dass er noch lange zu leben hat, lässt das tägliche Fitnessprogramm vielleicht eher schleifen, langt beim Essen besonders zu und sorgt sich nicht ums Trinken und Rauchen. Was wiederum zur Folge hat, dass sich die Lebenserwartung drastisch verringert. Würde man die drei Herren nach einem Jahr an einen gemeinsamen Tisch bitten, wäre es also durchaus denkbar, dass ausgerechnet der, dem das längste Leben beschieden wurde, den ungesündesten Eindruck macht. Gleich, ob man ein Orakel befragt oder die moderne Wissenschaft, in Handflächen liest oder in Proteinen: Das Ende bleibt offen. •
Fabian Bernhardt ist promovierter Philosoph. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich Affective Societies an der Freien Universität Berlin. Soeben erschien sein Buch „Rache. Über einen blinden Fleck der Moderne“ bei Matthes & Seitz.
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Ein isländisches Unternehmen hat eine Methode entwickelt, mit der sich vergleichsweise akkurat die restliche Lebenszeit von Menschen berechnen lässt. Grund genug für ein Gedankenexperiment: Was, wenn wir tatsächlich exakt wüssten, wie lange wir noch zu leben haben?

Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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