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Bild: © Lutz Jaekel/laif

Interview

Christoph Möllers: „Ich halte die individualliberale Sicht für verfehlt“

Christoph Möllers, im Interview mit Theresa Schouwink veröffentlicht am 09 September 2021 8 min

Pandemie und Klimakrise wecken bei vielen die Furcht, die kollektive Freiheit dränge die individuelle Freiheit an den Rand. Aber stimmt das? Der Verfassungsrechtler Christoph Möllers über das komplexe Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft.

 

Herr Möllers, das Impftempo hat sich in Deutschland deutlich verlangsamt. Es wurde deshalb viel über eine mögliche Impflicht diskutiert. Wie beurteilen Sie das?

Das Thema ist deswegen so schwierig, weil hier zwei Dinge zusammenkommen, von denen man in der Regel annimmt, sie wären klar getrennt. Gewöhnlich denken wir: Es gibt einerseits persönliche Entscheidungen, die sich auf eine Person beziehen und mit denen andere nichts zu tun haben – ich kann etwa in mein Tagebuch schreiben, was ich will. Andererseits gibt es Entscheidungen, die Außenwirkungen entfalten, die daher nicht so intim sind. Beim Impfen jedoch fällt beides zusammen. Es ist einerseits sehr intim, auf den eigenen Körper bezogen. Andererseits schützt es andere und übersteigt deshalb das Individuum. Diejenigen, die sagen, es gehe um einen intimen Eingriff, haben recht. Und diejenigen, die sagen, es gehe um den Schutz von anderen, haben ebenfalls recht. Deshalb ist die Diskussion so aufgewühlt.

Wäre eine Impfpflicht aus verfassungsrechtlicher Sicht denkbar?

Verfassungsrechtlich wird das im Einzelnen durchgearbeitet werden. Wir kennen bereits bestimmte Formen von Impfpflichten – etwa bei der Masernimpfung, die für Kinder gilt, wenn sie Kita oder Schule besuchen, oder für Personen, die dort arbeiten. Wir haben mit Impfpflichten sehr große Erfolge erzielt, beispielsweise bei der Bekämpfung der Pocken. Insofern ist das verfassungsrechtliche Problem das kleinere. Das größere besteht darin, Akzeptanz zu schaffen, und dem könnte eine Pflicht im Wege stehen. Ich denke daher, dass der Staat die Impfung nicht anordnen wird, aber privaten Unternehmen, Geschäften und so weiter die Möglichkeit gibt, Ungeimpfte auszuschließen. Das erzeugt natürlich einen gewissen Druck.

Sie machen in Ihrem Buch „Freiheitsgrade“ ein Verständnis des Liberalismus stark, das neben der individuellen Freiheit gleichermaßen der kollektiven Freiheit Bedeutung zuerkennt. Was verstehen Sie unter dieser?

Kollektive Freiheit heißt zunächst schlicht, dass wir uns in Entscheidungszusammenhängen selbst bestimmen, die mehr als eine Person umfassen – indem wir etwa Politik machen, einen Familienrat gründen oder Ähnliches. Die individualliberale Sicht wäre, dass wir uns dadurch einschränken: Wir sind erst einmal frei und dann schränkt uns die Gemeinschaft aus irgendwelchen nützlichen Gründen ein. Der Begriff der kollektiven Freiheit impliziert hingegen, dass wir uns nicht nur einschränken, sondern auch ermächtigen, Dinge zu tun, die wir alleine nicht tun könnten. Ich halte die individualliberale Sicht für verfehlt: Tatsächlich könnten wir alleine gar nicht als Individuen existieren. Der Begriff des Individuums ergibt nur Sinn, wenn er sich auf eine Gemeinschaft bezieht. Auch die Vorstellungen von Selbstverwirklichung und individueller Suche nach Glück sind in bestimmten Gemeinschaften entstanden und nicht überall gleichermaßen virulent. Man muss Abstand davon nehmen, das Individuum zu etwas Natürlichem und die Gemeinschaft zu etwas Abgeleitetem zu erklären.

Würden Sie sagen, in der Pandemie konnte man eine Form der kollektiven Freiheit, der gemeinsamen Handlungsmacht beobachten?

Man hätte jedenfalls die Möglichkeit gehabt, die Bewältigung der Krise als ein Gemeinschaftsprojekt zu verstehen, bei dem wir auch unsere Freiheit ausüben, indem wir uns einschränken. Das heißt nicht, dass der individuelle Freiheitsverlust unwichtig ist. Man muss die Intuition, sich körperlich frei bewegen zu wollen, nicht wegrationalisieren. Trotzdem kann man sagen, dass es ein kollektives Projekt und kein autoritäres Unterfangen war. Schließlich haben wir über die Maßnahmen permanent diskutiert und nachgesteuert. Das ist ganz anders gelaufen als in China.

Üblicherweise würden wir wohl eher sagen, dass es bei der Pandemiebekämpfung nicht um kollektive Freiheit ging, sondern um das Gemeinwohl, die Gesundheit, Sicherheit. Dinge, die mit der Freiheit in Spannung stehen.

Ja, aber man kann Freiheit immer nur unter den bestehenden Bedingungen ausüben, und zu diesen gehört auch die Natur, die Gesundheit. Die konventionelle Gegenüberstellung von Freiheit und Sicherheit vernachlässigt, dass wir Freiheit ausüben und ermöglichen, indem wir Übel bekämpfen. Das ist zentral und gilt manchmal selbst für Kriege. Die Gegenüberstellung vernachlässigt zudem, dass in demokratischen Ländern in freiheitsbezogenen Verfahren über die Maßnahmen entschieden wurde. Man kann das im Einzelnen kritisieren und fragen, wo die Opposition war, ob alles immer korrekt gelaufen ist und vieles mehr. Aber der Umgang mit der Pandemie ist ein fortlaufender Prozess, in dem die Beteiligten an den staatlichen Stellen immer schauen, wie viel Akzeptanz sie mit bestimmten Entscheidungen generieren können.

Und die Akzeptanz war ja überraschend hoch.

Ja, extrem hoch. Man hatte nie das Gefühl, dass gegen Mehrheiten regiert wurde.

Wie würden Sie das Verhältnis von kollektiver und individueller Freiheit generell beschreiben? Besteht hier immer eine Spannung? Vermindert mehr vom einen das andere?

Das ist sehr kompliziert. Erstens ist das Verhältnis eines, das man nicht arretieren kann. Es ist ein Grundproblem der politischen Philosophie, dass sie es festschreiben will. Eigentlich bedeutet Politik nämlich genau das – das Verhältnis zwischen diesen beiden Formen von Freiheit auszuhandeln, zu verschieben und zu verändern. Zweitens ist wichtig, dass das Verhältnis zwischen beiden nicht notwendig ein Nullsummenspiel darstellt: Die eine Freiheit geht nicht unbedingt auf Kosten der anderen. Das erkennen wir schon daran, dass in Ländern, in denen kollektiv frei entschieden wird, auch die Grundrechte besser geschützt werden. Es gibt individuellen Rechtsschutz eigentlich nur in Demokratien. In nichtdemokratischen Ländern gibt es hingegen sowohl weniger politische, kollektive Freiheit als auch weniger individuelle. Aber natürlich gibt es auch Situationen, in denen die eine Form der Freiheit doch auf Kosten der anderen geht. Individuelle Freiheit auf Kosten von kollektiver haben wir beim Eigentumsschutz: Handlungsmöglichkeiten von Menschen verschwinden etwa durch privates Grundeigentum. Den umgekehrten Fall – kollektive Freiheit auf Kosten der individuellen – gibt es natürlich auch: Der Staat schränkt individuelle Rechte ein. So ergibt sich ein komplexes Tableau, bei dem man sich die konkreten Konstellationen genau angucken muss, ohne zu schnell zu verallgemeinern.

Besonders lautstark pochen derzeit wieder die „Querdenker“ auf ihre individuelle Freiheit, die sie durch die Coronamaßnahmen bedroht sehen. Auf der anderen Seite sind viele der Meinung, dass die Irrationalität der Querdenker eine Bedrohung für die liberale Demokratie ist. Wie beurteilen Sie das?

Der Anblick der Querdenker-Demonstrationen ist in seiner auch von mir empfundenen Absurdität ein Stachel, sich daran zu erinnern, dass freiheitliche Praktiken nicht in vernünftigem Handeln aufgehen. Das möchte ich sehr starkmachen gegen die philosophischen Traditionen des Liberalismus, die heute dominant sind. Diese neigen zu der Behauptung, Freiheit heiße Freiheit zur Vernunft. Aber wir sind körperliche Wesen und können die physische Seite unserer Freiheit nicht einfach wegtheoretisieren. Dazu gehört, sich Freiheiten im Sinne der Unverantwortlichkeit, im Sinne des Impulses, des Begehrens und so weiter zu erhalten. Wir werden für das wünschenswerte Verhältnis von willkürlicher und rationaler Freiheit keine finale Formel finden. Das Einzige, was ich noch schrecklicher fände als den Anblick dieser Querdenker-Demos, wäre eine Welt, in der es sie nicht gäbe.

In Ihrem Buch bemerken Sie, dass eine Gleichsetzung von Freiheit mit rationaler Rechtfertigung einer „Machtergreifung artikulierter Mittelschichten“ gleichkäme.

Man kann den Vernunftanspruch freiheitlicher Gemeinschaften nicht einfach beiseitewischen. Aber man muss auch sehen, dass die Möglichkeiten, sein eigenes Handeln zu begründen, zu rechtfertigen, ungleich verteilt ist, dass beim „Geben und Nehmen“ von Gründen das „Geben“ Macht voraussetzt. Ich sehe nicht recht, wie etwa deliberative Demokratietheorien mit diesem Problem umgehen.

Neben der Pandemie ist der Klimawandel das andere große Konfliktfeld, auf dem sich Spannungen zwischen Freiheitsbegriffen zeigen. Ende April hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass das Klimaschutzgesetz zu ungenau und zu lasch sei und damit die zukünftige Freiheit der jungen Generation bedrohe. Begrüßen Sie dieses Urteil?

Meine Haltung dazu ist ambivalent. Einerseits bindet das Urteil schlicht den Gesetzgeber an seine eigenen Verpflichtungen. So weit geht es um eine realistische Umsetzung des Pariser Abkommens, zu dem sich die Bundesrepublik verpflichtet hat. Insofern ist das Urteil von einer sehr elementaren Art von Rationalität geleitet: Ergreife diejenigen Mittel, die zu den Zwecken führen, zu denen du dich selbst verpflichtet hast. Wie viel das allerdings mit grundrechtlicher Freiheit zu tun hat, ist eine andere Frage. Es stimmt, dass wir ohne Klimaschutz in einer Welt leben werden, in der die Krise härter durchschlägt und somit Gestaltungsmöglichkeiten verloren gehen. Das ist allerdings nicht die Perspektive, die wir normalerweise mit einem grundrechtlichen Freiheitsbegriff verbinden. Denn Grundrechte schützen konkrete Handlungen. Ich klage vor Gericht mein Grundrecht ein, indem ich sage: Ich möchte an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit etwas Bestimmtes tun und kann es nicht. Unsere Möglichkeiten in ein, zwei Jahrzehnten zu handeln, lassen sich aber nicht so konkret beschreiben, wie es beim gerichtlichen Grundrechtsschutz üblich ist. Insofern wird in der Begründung des Bundesverfassungsgerichts eigentlich ein Freiheitsbegriff der politischen Theorie verwendet und so getan, als handle es sich um denselben Begriff, wie wir ihn für die Grundrechte verwenden. Ich bin mir nicht sicher, ob man diese Begriffe kurzschließen kann. Das Ergebnis ist vernünftig, aber man hätte es anders begründen sollen. Es ist ein Urteil, das sich aus einer ökologischen Rationalität, nicht aus Rücksicht auf individuelle Freiheit ergibt.

Was ist generell davon zu halten, gegenwärtige Freiheiten zugunsten der Freiheit künftiger Generationen einzuschränken? Schließlich bleiben – trotz Konsens in der Klimaforschung – die Prognosen in gewisser Weise unsicher.

Das hängt von der Qualität der Zukunftsprognose ab. Natürlich habe ich kein Recht darauf, mit 120 km/h durch die Fußgängerzone zu fahren, weil die Prognose in diesem Fall solide ist. Wir machen das im Grunde immer so, wir antizipieren Zukünfte. Dann bleibt die Frage, wie gut wir das können und wer die Kosten trägt, falls wir uns irren. Wenn wir noch mal auf die Pandemie zurückkommen, kann man sagen: Man wusste im Oktober 2020 eigentlich schon, was im Dezember passieren würde – da hätte ein bisschen mehr Antizipation bei den politischen Entscheidungen auch Freiheitsgewinne erzeugen können.

Der Philosoph Hans Jonas plädierte dafür, angesichts der fatalen Auswirkungen menschlichen Handelns im technischen Zeitalter generell mit einer „Heuristik der Furcht“ zu operieren: Wir sollten uns die schlimmsten Konsequenzen einer Entscheidung vorstellen und unser Handeln daran orientieren. Auch Sie schreiben, dass es angesichts des Klimawandels vielleicht nötig wäre, mehr apokalyptisches Vorstellungsvermögen zu entwickeln. Aber bedeutet eine „Heuristik der Furcht“ nicht das Ende der Freiheit?

Natürlich hat die Orientierung an apokalyptischen Szenarien etwas extrem Entmächtigendes. Denn das schlimmste Szenario ist immer dasjenige, in dem man nicht mehr handeln kann. Auf der anderen Seite leiden wir vielleicht gerade in Bezug auf den Klimawandel an einer gewissen Fantasielosigkeit, der dann nur durch Katastrophen wie den derzeitigen Überschwemmungen und Bränden abgeholfen wird. Ich denke, dass es auch an dieser Fantasielosigkeit liegt, dass die gesellschaftliche Mobilisierungsbereitschaft so gering ist. Die Leute haben eine kurz- bis mittelfristige Perspektive eines guten Lebens und sehen nicht so richtig, was auf uns zukommt.

Die drohende Apokalypse könnte auch zum Handeln motivieren?

Ja, ich denke man muss sich klarmachen, dass es vielen Projekten kollektiver Freiheitsausübung vor allem um die Abwendung von Übeln ging. Weniger um die Hoffnung auf eine neue Welt als darum zu sagen: Wir bekämpfen jetzt Armut, Krankheit, Unwissenheit oder autoritäre Herrschaft. •

 

Christoph Möllers lehrt Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Buch „Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik“ erschien 2020 bei Suhrkamp.

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