Das Paradox der Menschenrechte
Tausende Menschen harren an der belarussisch-polnischen Grenze aus. An ihnen offenbart sich, was Hannah Arendt bereits 1949 erkannte: Die vermeintlich universalen Menschenrechte können gerade diejenigen nicht schützen, die sie am dringendsten brauchen.
Tausende Menschen stecken noch immer im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus fest. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko hat sie, so wirft es ihm die EU vor, aus Krisengebieten einfliegen lassen und gezielt an die Grenze zum Nachbarstaat Polen gebracht. Damit will er die EU unter Druck setzen, ihn nach gefälschten Wahlen und andauernder Verfolgung der Opposition dennoch als belarussischen Präsidenten anzuerkennen, und sich für Sanktionen rächen. Polen will sich dieses Spiel nicht gefallen lassen und hält die Grenze geschlossen.
Bei Versuchen des Übertritts setzten polnische Sicherheitskräfte Wasserwerfer ein und nahmen einige Personen fest. Nachdem die Menschen tagelang bei eisigen Temperaturen in den Wäldern des Grenzgebietes ausharrten und dabei mehrere Personen ums Leben kamen, hat Lukaschenko inzwischen alle in eine Halle bringen sowie die ersten Personen zurück in ihr Herkunftsland fliegen lassen. Die Geflüchteten sind zum Spielball internationaler Politik geworden. Sie werden instrumentalisiert, nicht nur von Lukaschenko, sondern auch vom EU-Mitgliedsstaat Polen, der ihnen das Recht auf Asyl verweigert, obwohl es nach EU-Recht grundsätzlich möglich sein muss, an der Grenze einen Asylantrag zu stellen.
Die Wartenden symbolisieren ein tiefgreifendes Problem, das schon Hannah Arendt mit Blick auf die Staatenlosen ihrer Zeit erkannte: Die allgemeinen Menschenrechte, die von den Vereinten Nationen nach Ende des Zweiten Weltkriegs erklärt wurden, können gerade diejenigen, die sie am dringendsten brauchen, nicht schützen. Obwohl als universell und angeboren proklamiert, werden sie letztlich nur als Bürgerrechte innerhalb eines Nationalstaates durchgesetzt. Arendt formulierte diese Kritik als Jüdin, die selbst aus Deutschland fliehen musste und 18 Jahre lang staatenlos war, bevor sie 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Ihre Beobachtungen sind im Kern eine Kritik am liberalen Verständnis der Menschenrechte als Naturrecht. Das heißt: Wer aus dem Netz der Staaten herausfällt, wer ohne europäischen Pass am Grenzübergang von Kuznica-Brusgi steht, der kann sich nur noch auf eine abstrakte menschliche Natur berufen.
Das Recht, Rechte zu haben
Doch diese vermag es gerade nicht, Rechte zu garantieren. In Arendts Worten aus ihrem 1949 erschienenen Essay Es gibt nur ein einziges Menschenrecht: „Der Begriff der Menschenrechte brach genau in dem Augenblicke zusammen, als seine Bekenner zum ersten Male mit Leuten konfrontiert wurden, die in der Tat alle anderen besonderen Qualitäten und besonderen Beziehungen eingebüßt hatten, so daß von ihnen nichts übrig geblieben war als eben Menschsein. Die Welt hat an der abstrakten Nacktheit des Menschseins an sich nichts Ehrfurcht erregendes finden können.“
Der größte Verlust, der den Staatenlosen und Geflüchteten in dieser Situation zukommt, ist für Arendt ihr Ausschluss aus der politischen Gemeinschaft überhaupt. Eine vor-politische menschliche Natur entpuppt sich am Grenzübergang oder in den Lagern dieser Erde als leeres und zynisches Versprechen. Gleichheit oder Freiheit sind nach Arendt keine Gegebenheiten, sondern können nur im politischen Miteinander entstehen: „Als Gleiche sind wir nicht geboren, Gleiche werden wir als Mitglieder einer Gruppe erst kraft unserer Entscheidung, uns gegenseitig gleiche Rechte zu garantieren.“ Deshalb fordert sie ein „Recht, Rechte zu haben“ – also ein Verständnis jedes Menschen als immer schon politisches Mitglied. Dieses Recht hält sie für die Vorbedingung aller anderen partikularen Rechte auf Freiheit oder Gleichheit.
Die Politik der Menschenrechte beinhaltet diese von Arendt festgestellte Aporie von Anfang an. Aber sie ist noch nie so vielfach zu Tage getreten wie im 21. Jahrhundert und vielleicht nie so bildgewaltig wie in der Tragödie von Moria im September 2020. Die Aufnahmen des brennenden Lagers gingen um die Welt. Und sie zeigen nur einen kleinen Ausschnitt einer globalen Realität: Millionen von Menschen – weit mehr als zu Arendts Zeiten – befinden sich heute auf der Flucht.
Gebrochene Versprechen
Souveräne Staaten oder die Europäische Union verteidigen ihr Recht darüber zu bestimmen, wen sie aufnehmen und wen nicht. Die Maßnahmen, die im Umgang mit Geflüchteten getroffen werden, sind teils noch brutaler und institutionalisierter als zu Arendts Zeiten: Viele Flüchtende sind in die Illegalität gezwungen, sie müssen Reisedokumente fälschen, Schmuggler engagieren, tödliche Wege auf sich nehmen oder eben ihr Schicksal in die Hände eines Diktators legen, weil sie selbst darin noch eine Chance auf eine bessere Zukunft sehen.
Die Bemühungen der polnischen Grenzbeamten, die Menschen nicht ins Land zu lassen, stehen in einer Linie mit anderen abschreckenden Praktiken, die an den Rändern Europas betrieben werden. Auch Arendt kannte diese Taktik und beschreibt sie in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft aus dem Jahr 1951: „Man verschlechterte die Situation der Staatenlosen wissentlich, um Abschreckungsmaßnahmen zu schaffen, wobei manche Regierungen so weit gingen, jeden Flüchtling kurzerhand als ‚lästigen Ausländer‘ zu bezeichnen, und ihre Polizei anwiesen, sie dementsprechend zu behandeln.“ Auch die notdürftig geöffnete Halle im belarussischen Grenzgebiet, in denen die Menschen jetzt unterkommen, kann als Ausdruck dieser Logik gesehen werden. Die Lager, so bemerkte schon Arendt, sind die einzige Heimat, die die Welt den Flüchtenden zu bieten hat.
In Bezug auf den Konflikt an der polnischen Grenze sagte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gegenüber der Bild am Sonntag, die Gesellschaft müsse die Bilder notleidender Menschen aushalten. Er sprach sich gegen eine direkte Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland aus, vermutlich aus Angst davor, dass sie weitere Fluchtbewegungen anregen würde. Aussagen wie diese machen deutlich, dass sich Deutschland und die EU längst von den Versprechen der Menschenrechte und der Genfer Flüchtlingskonvention entfernt haben.
Lukaschenko als Türsteher Europas
Dass Diktatoren wie Lukaschenko zu den Türstehern Europas geworden sind und diese nun mit Menschenleben unter Druck setzen, ist vor allem der Abschottungspolitik der EU selbst geschuldet. Würde diese dafür sorgen, dass es sichere und legale Fluchtwege nach Europa gäbe, könnte Belarus sie jetzt nicht erpressen. Dass auch in Zukunft Menschen nach Europa kommen werden, ist die Realität in einer globalisierten Welt, in der Menschen vor Krieg, Hunger und Verfolgung fliehen. Dieser Wirklichkeit muss sich Europa stellen, anstatt Deals mit dem türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdogan oder der libyschen Küstenwache einzugehen, und sich zu einer Festung zu machen, an deren Außengrenzen die viel beschworenen europäischen Werte nicht mehr gelten.
Leider haben Arendts mahnende Worte nichts an Aktualität eingebüßt: „Das bloße Wort ‚Menschenrechte‘ wurde überall und für jedermann, in totalitären und demokratischen Ländern, für Opfer, Verfolger und Betrachter gleichermaßen, zum Inbegriff eines heuchlerischen oder schwachsinnigen Idealismus“. •