Das Stadtbild ist ein Stadt-Bild
Friedrich Merz’ Aussage über das Stadtbild hat zahlreiche Diskussionen ausgelöst. Was bisher unbeachtet blieb: Es handelt sich um eine ästhetische Aussage, die von bürgerlicher Nostalgie zeugt. Josef Früchtl über das Verhältnis von Politik und Ästhetik sowie über einen angemesseneren Blick auf die Stadt.
Betrachten wir die Sache einmal aus einer allgemeineren Perspektive. Bundeskanzler Friedrich Merz hat sich zu einer unbedachten Äußerung über ein Problem hinreißen lassen, das wir im Stadtbild haben. Das Problem hat den dunklen und anspielungsoffenen Namen „Migration“, und das Wir, das dies anspricht, kann die gegenwärtige Bundesregierung sein, aber auch wir alle. Aufmerksame und sprachlich sensibilisierte Zeitgenossen haben schnell bemerkt, dass das Problem weitaus weniger im Stadtbild als im Weltbild von Friedrich Merz liegen könnte. Das Bild, das eine Stadt bietet, wird dann geprägt von einem, vereinfacht gesagt, sauerländisch-sauertöpfischen Blick auf die Welt.
Philosophisch und wahrnehmungspsychologisch gesehen, liegt hier in der Tat ein Problem. Denn was ausgesprochen wird, als gäbe es ein Faktum – es gibt ein sichtbares Problem in unseren Städten, das mit Migranten zu tun hat –, ist in Wirklichkeit nur ein Bild, das wir uns machen. Viel mehr als Merz und seinen konservativen Parteifreunden bewusst ist, ist das Stadtbild ein Stadt-Bild. Die Wahrnehmung ist hier noch mehr als üblicherweise von Gefühlen imprägniert. Hier geht es nicht um Tatsachen, sondern Atmosphären.
Faschismus als Ästhetisierung der Politik
Dazu kommt ein Problem, das in der Philosophie vor allem im 20. Jahrhundert breit unter dem Titel „Ästhetik und Politik“ diskutiert worden ist. Als drohende Mahnung steht hier auf der einen Seite Walter Benjamins Definition des Faschismus am Ende seines berühmten Aufsatzes über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Faschismus ist Ästhetisierung der Politik. Wer die Politik kurzerhand ästhetischen Maßstäben unterwirft, liefert sie dem Faschismus aus.
Auf der anderen Seite stehen Theoretiker wie John Dewey, Hannah Arendt und jüngst Jacques Rancière. Ästhetik im weiteren Sinn steht demnach im Zentrum der Politik, sofern es in der Politik grundsätzlich um Sichtbarkeit (Wahrnehmbarkeit) und Unsichtbarkeit geht. Sich selbst als Individuum oder als Gruppe in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen, indem man sozusagen ausruft: „Ich bin hier, wir sind hier und lassen uns nicht totschweigen“, ist ein außerordentlicher politischer Akt.
Interessant ist gegenwärtig, dass die Verbindung, ja die Verschmelzung von Politik und Ästhetik vor allem von der politischen Rechten propagiert wird. Hier kennt man keinen Schrecken vor den Lehren aus der realen und geisteswissenschaftlichen Geschichte. Benjamins Mahnung ist ja nur der illusionslose Höhepunkt einer Entwicklung, die mit der Romantik ihren Anfang nimmt und die Vielgestaltigkeit und Ambivalenzen dieser kulturellen Bewegung immer mehr zugunsten einer Deutung beiseite wischt, die den Topos der Anti-Modernität und des Anti-Liberalismus feiert.
Vor diesem Hintergrund ist es keinesfalls überraschend, wenn einer der gewandten Wortführer der autoritären Rechten in den USA, Curtis Yarvin, den englischen Essayisten und Historiker Thomas Carlyle (1795 – 1881) zu seinem intellektuellen Leitstern erklärt. „Ich bin ein Carlyleianer“, schreibt er mit Bekennerstolz in einem Carlyle gewidmetem Blog. Er stellt ihn dort in zügelloser Übertreibung sogar auf eine Stufe mit Shakespeare, wobei richtig ist, dass Carlyle in seiner Zeit als angesehener Schriftsteller gilt. Bewundert wird er zunächst durchaus auch auf der Seite der politischen Linken, bei Friedrich Engels und Walt Whitman. Aber in seinen späteren Schriften treten die autoritären und rassistischen Elemente immer deutlicher hervor, sodass Bertrand Russel in seinem Essay The Ancestry of Fascism (1935) eine Linie von Carlyle über Nietzsche (einem bestimmten Nietzsche) zu Hitler ziehen kann (der sich in seinem Führerbunker, wie Hugh Trevor-Roper in The Last Days of Hitler beschreibt, Carlyles Buch über Friedrich den Großen depressiv und pseudo-heroisch zu Gemüte führt).
Biederer Dualismus
Helden, große Männer, die Geschichte machen, sind Carlyles und Yarvins Vorbilder. Politisch ist das Ideal eine Art Tech-Monarchie. Donald Trumps liebäugelndes Spiel mit der Figur des Königs nimmt Yarvin gewiss ernst, um so mehr, als er weiß, dass die Technologie-Oligarchen aus dem Silicon Valley den neuen, evangelikal aufgeladenen Autoritarismus mächtig unterstützen. Aber es geht nicht nur um krude Politik. Es geht auch um den alten, religiös-manichäischen Kampf zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkel, Ordnung und Chaos. Im alltäglichen Leben treten diese überbordenden Prinzipien allerdings bescheidener auf, nämlich in der ästhetischen Art die Welt wahrzunehmen. „Chaos ist böse, Ordnung ist gut“ heißt es in dem Blog über Carlyle. Dieser biedere Dualismus lässt sich problemlos auf die Gestaltung der Welt projizieren. So streift der bürgerlich-nostalgische bis reaktionäre Romantiker durch die Lande und durch Städte und sieht immer wieder fehlende Ordnung, einen Mangel in der gewünschten Harmonie. Ein Problem im Stadtbild.
Gibt es dazu sozusagen ein linkes Gegenmodell? Eines, das die Dialektik, die Zwiespältigkeit der Aufklärung bedenkt, also auch der Romantik ein gewisses Recht belässt und den demokratischen Liberalismus nicht auf den Müllhaufen der Geschichte wirft? Sicherlich gibt es dieses Modell, und sein Markenzeichen ist nach wie vor „Vielfalt“, so wie es selbst vielfältig ist. One size fits all ist kein Ideal für ein Leben, das glücken soll.
Und so lässt man sich von der Soziologie seit Georg Simmel die Erfahrung des Fremden als Grundschicht der Großstadt erläutern. Fremde sind demnach die, die gekommen sind, um, für eine gewisse Zeit wenigstens, zu bleiben. Menschen auf der Grenze zwischen verschiedenen Kulturen (Bayern und Berlin, z.B.). Die Koexistenz des Fremden und Verschiedenen ist daher ein Kern der Stadtkultur, eine Koexistenz, die meistens friedlich bleibt, manchmal aber auch nicht. Eine Vielfalt, die Neues hervorbringt, manchmal aber auch Schocks. Eine Kultur der Differenz, die eigensinnige Freiheit erlaubt, aber auch in der Indifferenz der Anonymität verschwinden kann, in Nicht-Beziehungen, die allein vom abstrakten Geldverkehr geregelt werden.
Man lässt sich selbstverständlich durch die Literatur seit dem frühen 19. Jahrhundert exemplarische Geschichten über die Großstadt erzählen, von Edgar Allen Poe und Honoré de Balzac über Charles Dickens und Charles Baudelaire zu Alfred Döblin, Bertold Brecht und Paul Auster und vielen anderen. Man taucht seit dem 20. Jahrhundert in die Stadtwelten des Films ein, die dunkle Film Noir-Welt von Gangstern, Mördern und Ehebrecherinnen, oder die glitzernde Welt des großen Geldes, in der es nicht weniger gewalttätig zugeht als in den Hinterhöfen der Slums. „Kein Kunstwerk kann es mit einer Großstadt aufnehmen”, heißt es in Woody Allens Midnight in Paris, denn eine Stadt wie Paris ist überwältigend in ihren Reizen, Irritationen und dem endlosen Spiel des Zufalls. Manchmal kann man sich wie in einer Zeitreise in die 1920er Jahre oder die Belle Époque fühlen.
So schult einen die Kunst in einem ästhetischen Blick auf die Stadt, der keine bieder-romantische Verschmelzung mit der Politik erlaubt, sondern ebenso sacht wie unnachgiebig dazu einlädt, Ambivalenzen und Gegensätze auszuhalten. Im demokratischen Sinn ist dies die Größe, nach der Carlyle in seinem Heroenkult und Yarvin in seiner Tech-Manager-Ideologie suchen. Um es mit Walt Whitman zu sagen: „Widerspreche ich mir selber? Nun gut, dann widerspreche ich mir. (Ich bin groß/I am large, ich enthalte eine Menge/I contain multitudes.)”•
Josef Früchtl ist emeritierter Professor für Kunst- und Kulturphilosophie an der Universität Amsterdam. Sein Buch „Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne“ (Suhrkamp, 2004) ergründet Formen des modernen Helden im Film. Zuletzt erschien von ihm „Demokratie der Gefühle. Ein ästhetisches Plädoyer“ (Meiner, 2021).
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