Wie Emmanuel Macron die Strategie des Ärgerns erfand
Mit seiner Aussage, dass er Ungeimpfte ärgern wolle, hat Emmanuel Macron nicht nur ein mediales Beben ausgelöst, sondern auch einen neuen Weg im Umgang mit Impfunwilligen eingeschlagen.
Der französische Präsident Emmanuel Macron sprach in einem Interview mit der Zeitung Le Parisien davon, „die Ungeimpften ärgern zu wollen“. Im Original verwendete er dafür den umgangssprachlichen Fäkalbegriff „emmerder“ (vom französischen „merde“ für „Scheiße“), der sich ins Deutsche wahlweise und nie ganz passend mit „jemanden ärgern“, „piesacken“ oder aber „ankacken“ übersetzen lässt. Besonders die Wortwahl sorgte in Frankreich für Empörung, was die Frage aufwirft: Wie lässt sich diese Aussage in den größeren Kontext der französischen Corona-Politik einordnen und welche vielschichtigen Bedeutungen hat der von Macron verwendete Begriff?
Das Wort „emmerder“ stammt aus dem 14. Jahrhundert und bedeutet im ursprünglichen Sinn, etwas oder jemanden mit Exkrementen zu bedecken. Die Absicht dahinter war, zu beschmutzen, zu beschämen und zu stigmatisieren. Ab dem 17. Jahrhundert nimmt der Begriff in Frankreich seine übertragene heutige Bedeutung an. Ebenso wie das von den Griechen erfundene Stigma, das die Schande und Ungnade einer Person durch Körpermarkierungen anzeigt, zielt „emmerder“ symbolisch darauf ab, jemanden aus der Gruppe auszuschließen, indem es ihn besonders sichtbar und abstoßend macht. Wie der amerikanische Soziologe Erving Goffman in seinem Buch „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“ beschreibt, höre in unserer Gesellschaft jemand, der mit dem Siegel der Schande behaftet ist, auf, für uns eine gewöhnliche Person zu sein, und falle so auf die Stufe eines verdorbenen Individuums zurück. Die Stigmatisierung, die andere in Verruf bringt, ist in unserer Gesellschaft leider alltäglich. Hier ist es jedoch der oberste Vertreter des französischen Staates, der in die, wie Goffman es nennt, „Dynamik beschämender Andersartigkeit“ eintritt.
„Emmerder“ bedeutet auch stören, belästigen, nicht in Ruhe lassen. Wenn der französische Präsident sagt „wir werden es weiter machen, bis zum Ende, das ist die Strategie“, betont er einen Begriff von Dauer, der bereits im verwendeten Verb impliziert ist. Es geht darum, mit dem Finger auf die Ungeimpften zu zeigen, aber auch darum, ihnen das Leben zu erschweren: „Sie können nicht mehr ins Restaurant gehen, Sie können keinen mehr trinken gehen, Sie können nicht mehr im Café sitzen, Sie können nicht mehr ins Theater gehen, Sie können nicht mehr ins Kino gehen“, so Emmanuel Macron in direkter Ansprache an die bisher Impf-Unwilligen. Es ist eine Art Guerillakrieg, den der französische Staat nach eigenen Angaben gegen die Minderheit der nicht geimpften Personen führt, bis diese sich vollständig ergeben. Der verwendete umgangssprachliche Begriff mildert natürlich die kriegerische Metapher, aber gerade dadurch schafft er eine Atmosphäre gutmütiger Brutalität.
Weder Überzeugungsarbeit noch Zwang
Diese Schärfe, dieser Stilbruch bei einem Präsidenten, der sonst gerne Denker und Schriftsteller zitiert und die große Geste nicht scheut, verrät auch eine Form milder Verachtung. Jemanden ärgern bedeutet nämlich, etwas oder jemanden für unbedeutend halten – wie wenn man z. B. sagt: „Ich scheiß auf den neuen Typen in der Firma, der hat nichts zu melden.“ Nicht geimpfte Menschen verdienen es demnach Macron zufolge nicht, als Gegner bekämpft zu werden, die man respektiert, sondern nur, in ihrem täglichen Leben mit Einschränkungen geärgert zu werden.
Aus dem Munde eines Präsidenten, der noch vor einigen Tagen dazu aufrief, das „Land in Einheit voranzubringen“ und „die Generationen, die sozialen Kategorien, die Herkunft und die Gebiete nicht gegeneinander auszuspielen", bedeutet die Abschiebung der Ungeimpften in die Kategorie der „Verantwortungslosen“, die „nicht mehr Bürger“ sind, sie unterhalb dieser verschiedenen Gruppen anzusiedeln, die es zu versöhnen gilt.
Diese Strategie des Ärgerns erstaunt umso mehr, als sie jenseits der beiden Strategien liegt, die die französische Exekutive bisher forcierte. Zur Diskussion stand stets eine Wahl zwischen freundlicher Überredung auf der einen Seite und klaren, einheitlichen Ansagen auf der anderen. Die Überzeugungsarbeit bestand in der Anwendung von Nudge-Techniken oder „Anstößen“, wie sie von dem Verhaltensökonomen Richard Thaler und dem Rechtswissenschaftler Cass R. Sunstein Ende der 2000er Jahre definiert und gefördert wurden. Als Anhänger eines libertären Paternalismus stützten sie sich auf alle jene Techniken der sanften Suggestion, die von privaten oder öffentlichen Akteuren eingesetzt werden, um als gut oder sinnvoll angesehene Verhaltensweisen zu fördern, ohne Zwang anzuwenden. Von der Aufschrift „Rauchen ist tödlich“ auf Zigarettenschachteln über Anreize zum Umweltschutz bis hin zu Fliegen, die in Pissoirs geklebt werden, um Reinigungskosten zu sparen, zielt Nudging darauf ab, die Freiheit des Einzelnen zu respektieren und gleichzeitig sein Handeln zu lenken.
Provokateur und Befrieder zugleich
Emmanuel Macron, der eine Impfpflicht aus praktischen Gründen ablehnt („Wie sollte das kontrolliert werden und welche Strafe gibt es?“), wendet sich nun auch von der Strategie genannter Anstöße ab. Er schlägt stattdessen einen Weg ein, der weder in Richtung des liberalen Nudges noch hin zum staatlichen Zwang führt. Er ermutigt Bürger, die von der Gefahr, die Ungeimpfte für die Gesellschaft und insbesondere für das Pflegepersonal darstellen, genervt sind, strenger gegen die Verweigerer vorzugehen. Er stigmatisiert, wie wir gesehen haben, die Letzteren und heizt damit die Debatte noch weiter an.
Macron, so scheint es, positioniert sich derzeit in zwei unterschiedlichen Rollen, die sich auf den ersten Blick widersprechen. Als Präsident will er schützen und zusammenführen. Als Kandidat will er im Zuge der anstehenden Präsidentschaftswahl in Frankreich für Aufmerksamkeit sorgen und die Debatte dominieren. Aber im Namen seiner „Lust“ (sowohl „die Ungeimpften zu ärgern“ als auch erneut zu kandidieren) behauptet er, gleichzeitig Provokateur und Befrieder sein zu können. Indem er den Ungeimpften das Bürger-Sein abspricht, zeigt er auch auf, was die wahren Bürger Frankreichs hundert Tage vor der Wahl seiner Meinung nach auf gar keinen Fall tun dürfen: sich über ihn ärgern. •