Der neue alte Radikalismus der Konservativen
Konservative Parteien greifen zunehmend zu Mitteln der extremen Rechten, um ihre Macht in Krisenzeiten zu sichern. Natascha Strobl über den radikalisierten Konservatismus, seine Strategien und drohende Abgründe.
Unsere politische Gegenwart wirkt wie eine endlose Reihe von Skandalen und Aufregungen auf der Folie realer und existenzieller Krisen. In der Stabilisierung der Verhältnisse würde konservativen Parteien als staatstragenden Akteuren eigentlich eine Schlüsselrolle zukommen. Doch sie verhalten sich nicht mehr, wie man es von konservativen Parteien gewöhnt ist. Die Republikaner in den USA, die Tories in Großbritannien oder die ÖVP in Österreich sind ja eigentlich klassisch konservative Parteien. Sie übernehmen aber Sprache, Rhetorik und ideologische Elemente der extremen Rechten. Jeder Anspruch auf Konsens und Staatsräson wird über Bord geworfen und gegen eine Lust an Polarisierung eingetauscht. Auch in Deutschland begehen Teile der Unions-Parteien genau diesen Weg. Die Folgen für die Demokratie sind fatal.
Krisendynamik
Der radikalisierte Konservatismus ist eine Dynamik innerhalb des Konservatismus, die einsetzt, wenn der parteiförmige Konservatismus selbst in die Krise gerät. Die verschiedenen, kumulierenden Krisen führen dazu, dass die Akzeptanz für das etablierte politische System schwindet. Das große Versprechen der Nachkriegszeit - es wird von Generation zu Generation besser und es gibt mehr Wohlstand für alle – ist längst nicht mehr einlösbar. Die Krisen und ihre Folgen sind fast nicht mehr zählbar: Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 ist nicht überwunden und die Klimakrise wird gerade erst fassbar. Eine Fülle an sozialen Krisen macht den Alltag der meisten Menschen mühsam und frustrierend. Dazu kommen gesellschaftliche Krisen der Repräsentation und der Identität.
Das alles führt zu einer großen Ratlosigkeit der etablierten Parteien. Sie sind es gewohnt, einem System Stabilität zu verleihen, das im Großen und Ganzen akzeptiert und angenommen wird. Dieses System ist das Nachkriegssystem, das aus einem Kompromiss zwischen Kapitalismus und starkem Sozialstaat entstanden ist. Es hat, mit vielen Ein- und Ausschlüssen, auch lange funktioniert. Die Auflösung dieses Kompromisses begann mit einem Überhang zu Gunsten neoliberaler Wirtschaftsinteressen und einem Zurückdrängen des Primats der Politik, also einer Verknappung demokratischer Entscheidungsspielräume. Regierungen, und damit das ganze Parteiensystem, wurden zu Statisten des Schauspiels von Globalisierung, Marktintegration und Transnationalisierung. Die wirklich wichtigen Entscheidungen wurden und werden längst nicht mehr in Parlamenten, sondern von der „unsichtbaren Hand des Marktes“ getroffen. Das führte – in Verbindung mit sozioökonomischer Prekarität und soziokulturellem Depravierungsempfinden – zu einer großen Frustration. Und nicht zuletzt zu einem Gefühl des „auf mich kommt es nicht an, die da oben machen was sie wollen“. Genau dieses Gefühl nutzten die Parteien des klassischen europäischen Rechtspopulismus ab Ende der 80er Jahre für ihren Aufstieg.
Radikalisierte Konservative
Auf diesen Zug springen nun die klassisch konservativen Volksparteien auf, um der eigenen Irrelevanz zu entkommen. Sie wollen das System nicht mehr stabil halten, sie wollen es zerstören. Es spielt dabei überhaupt keine Rolle, ob Kurz, Trump, Spahn oder Johnson ideologische Überzeugungstäter sind oder nicht. Das Resultat ist, dass es konservative Parteien gibt, die mit den Mitteln der extremen Rechten arbeiten und damit Erfolg haben. Das passiert auf strategischer, ideologischer aber auch handwerklicher Ebene. Dieser radikalisierte Konservatismus hat dabei einen absoluten Machtanspruch, den er nicht mehr bereit ist, im Ausgleich, im Konsens zu teilen. In den Nachkriegsdemokratien haben sich zwei systemstabilisierende Parteien entwickelt, eine konservative und eine (sozial)demokratische. Die konservative Partei verlässt nun diesen Konsens und überlässt damit der (sozial)demokratischen Partei die alleinige Rolle einer systemerhaltenden (und damit konservativen) Partei.
Gleichzeitig präsentiert sich die radikalisiert konservative Partei als neue, frische Alternative zu einem überholten Nachkriegskonsens. Sie hat erkannt, dass das System an allen Ecken und Enden bröckelt und wir in einer Zeit multipler Krisen leben. In dieser Krisenzeit ist das Möglichkeitsfenster für Neues so offen wie nie. Denn die globale Pandemie hat gezeigt, dass die Handlungsmöglichkeiten von Regierungen doch gegeben sind und dass über Nacht viele Finanzmittel und Gesetze zur Verfügung gestellt bzw. beschlossen werden konnten. Dessen gewahr ist sich jedoch v.a. der radikalisierte Konservatismus. Gleichzeitig wird das Bedienen der Interessen verschiedener Kapitalfraktionen im alten System immer prekärer. Diese setzen nun nicht selten auf die Radikalisierung konservativer Parteien und unterstützen sie auch tatkräftig, etwa in Form von Spenden. Politischer Machterhalt und der Machterhalt von bestimmten Kapitalfraktionen wie die großen Tech-Unternehmen gehen also Hand in Hand.
Ein Arsenal an Strategien
Um ihre Politik und ihren Machtanspruch durchzusetzen, verwenden radikalisierte Konservative verschiedene Strategien. Dazu gehört erstens das kalkulierte Übertreten von Regeln. Das können formale Regeln sein, etwa Gesetze. Die ÖVP unter Sebastian Kurz hat zum Beispiel das erlaubte Wahlkampfbudget bei den Nationalratswahlen 2017 fast um das Doppelte überschritten. Sie zahlte dafür eine vergleichsweise geringfügige Strafe und auch der Image-Schaden hielt sich in Grenzen. Denn das eigentliche Ziel war erreicht: die ÖVP wurde Erste und Sebastian Kurz Kanzler. Zweitens: Der Bruch der informellen Regeln. Dieser ist weniger leicht zu fassen. Es geht dabei um Fragen der Moral, des Anstands und der Etikette. Es ist eine Spezialität von Donald Trump, hier die Grenzen nicht nur auszuloten, sondern regelmäßig zu überschreiten. Das führt dazu, dass die Gegner:innen in eine (recht konservative) Rolle der Verteidiger:innen der gesellschaftlichen Werte und des Anstands verfielen. Es ist auch eine Aufreibungsstrategie, die eine Dauerbeschäftigung für Gegner:innen und Medien zur Folge hat.
Drittens zentrieren sich diese Parteien rund um eine Führungsperson. Diese Führungsperson wird fast religiös verehrt und bekommt innerparteilich formal und informell absolute Machtfülle. Diese Macht wird von den bestehenden demokratischen Strukturen hin zu einem demokratisch nicht legitimierten Netzwerk von Berater:innen und Vertrauten verlagert. „Familie“ kann hier zu einem weiten Begriff werden. All dies geschieht jedoch nicht allein aus nihilistischem Machtkalkül, sondern vor allem aufgrund einer politischen Agenda. Diese besteht in einer Aushöhlung des demokratischen Systems sowie einem Umbau in ein autoritäres System, wobei die Ausgestaltung diffus bleibt. Diese politische Agenda hat viertens die Aushöhlung aller demokratischen Strukturen zum Ziel. Das zeigt sich in einem schnellen Umbau des Sozialstaats, aber auch in Attacken auf die unabhängige Justiz und kritische Medien. Steve Bannon machte als Berater von Trump schon klar, dass Letztere der eigentliche Feind seien.
Fünftens wird der Emotionspegel immer auf Anschlag gehalten. Radikalisiert konservative Parteien befinden sich im permanenten Wahlkampf. Es geht immer darum, die nächsten 24 Stunden medial zu gewinnen. So werden Aufreger und Schlagzeilen am Fließband produziert, ganz gleich, ob sie Substanz haben oder nicht. Dabei entsteht sechstens eine Parallelwelt. Die inszenierte und behauptete Realität hat immer weniger mit einer faktischen Realität gemeinsam. Das hat sich beim Brexit-Votum gezeigt, welches längst auch von den Tories zum Kulturkampf gegen eine fiktive liberale oder linke Agenda aufgeladen wurde.
Deutschland als Ausnahme?
Lange schien es, als sei Deutschland die große Ausnahme. Das war auch schon bei der Entwicklung des populären Rechtsextremismus so. Während alle umliegenden Länder schon in den 90ern, spätestens den 2000ern, ihre Spielart des populären Rechtsextremismus entwickelten, schien Deutschland lange immun. Mit der Gründung der AfD und ihrer zweifachen Radikalisierung nach rechts, jeweils nach Wechsel des Parteivorsitzes, holte man mit schnellen Schritten auf. Trotzdem ist Deutschland noch das Land, in dem nicht einmal auf Länderebene eine rechtsextreme Partei mitregiert. In allen anderen Ländern ist dies längst der Normalzustand und die demokratischen Parteien arrangieren sich auf die eine oder andere Weise.
Auch die deutschen Unions-Parteien schienen sich lange Zeit trotz diverser Rechtsausleger ihrer staatstragenden Rolle gewahr. Das traf auf Angela Merkel zu, aber auch auf die Wahl von Armin Laschet als Spitzenkandidat. Friedrich Merz schien und scheint auch nicht der ideale Kandidat für die Radikalisierung des Konservatismus zu sein. Zum einen ist er seit Jahrzehnten fester Bestandteil des politischen Systems. Zum anderen fehlt ihm das nötige Charisma und die Entertainer-Qualität, die die messianisch gefeierten Führungsfiguren des radikalisierten Konservatismus in anderen Ländern mitbringen. Das heißt aber nicht, dass es nicht eine gewichtige Fraktion innerhalb der Unions-Parteien gibt, die trotz allem diese Transformation der CDU/CSU antreibt. Sie zentriert sich um Jens Spahn (der auch wenig zum deutschen Sebastian Kurz taugt) und setzt destruktive Akzente, etwa in der unrühmlichen Rolle bei der Hetzjagd auf die verhinderte Verfassungsrichterin Frauke Brosius-Gersdorf. Umso mehr die Koalition, und damit die Union, in die Krise gerät, umso verlockender wird dieser Kurs innerhalb der Partei werden.
Ein globales Phänomen
Historisch gesehen ist diese Entwicklung nicht neu. In Ländern wie Österreich radikalisierte sich in der Zwischenkriegszeit die konservative Partei derart, dass sie die demokratische Republik demontierte und durch einen autoritären Ständestaat (Austrofaschismus) ersetzte. In der Weimarer Republik waren Konservative nicht nur Koalitionspartner der NSDAP, sondern zuvor in den Präsidialkabinetten wesentlich daran beteiligt, den Parlamentarismus auszuschalten. Es ist daher ein Irrglaube, einzelne Proponenten als Unfälle oder Anomalien der Geschichte zu betrachten. Das ist gefährlich, denn diese Position übersieht, dass die Wurzeln dieser Entwicklung in der zunehmenden Krisenhaftigkeit der politischen Nachkriegssysteme liegen. Radikalisierter Konservatismus ist also Symptom, nicht Ursache, der Krisenzeiten. Dabei ist er längst ein weltweites Phänomen. So unterschiedlich die jeweiligen politischen Systeme und ihre Historie auch sein mögen, in vielen Ländern sind es konservative Parteien, die (semi)autoritäre Systeme installieren (oder es zumindest versuchen): Polen, Ungarn, Brasilien, USA oder Österreich. Mindestens in einem dieser Länder, den USA, scheint der radikalisierte Konservatismus gar nahtlos in Faschismus überzugehen. •
Natascha Strobl ist Politikwissenschaftlerin und Autorin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Rechtsextremismus, die Neue Rechte und die Identitäre Bewegung. Ihr Buch „Radikalisierter Konservatismus“ erhielt den Anerkennungspreis des Bruno-Kreisky-Preises für das Politische Buch 2021.
Dieser Text ist Teil der Reihe „Die Kartierung des politischen Raums“
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