Die Freiheit, die sie meinen
Das Bundesverfassungsgericht hat gestern ein „epochales“ Urteil zum Klimaschutz gefällt. Dabei liegt der Entscheidung ein Freiheitsbegriff zu Grunde, der den politischen Diskurs der kommenden Jahre massiv prägen dürfte.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) nannte es „epochal“, Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ein „historisches Ereignis“, FDP-Chef Christian Lindner den „Anlass für einen klimapolitischen Neustart“. Und in der Tat: Das Urteil, das das Bundesverfassungsgericht gestern nach der Klage von Fridays for Future und anderen Klimaschützern verkündete, hat es in sich. Denn die Karlsruher Richter:innen erklärten nicht „nur“ das deutsche Klimaschutzgesetz für teilweise verfassungswidrig und forderten die Bundesregierung dazu auf, bis Ende 2022 die Reduktionsziele für Treibhausgasemissionen für die Zeit nach 2030 näher zu regeln. Das Gericht offenbarte in seinem Urteil zudem einen Freiheitsbegriff, der den politischen Diskurs der nächsten Jahre und Jahrzehnte massiv prägen dürfte.
Dass das Bundesverfassungsgericht die aktuellen Klimaschutzziele im Endeffekt als, salopp gesagt, zu lasch und unkonkret aburteilte, begründete es nämlich wie folgt: Da Deutschland sich gemäß dem Pariser Klimaabkommen dazu verpflichtet hat, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, sind die Regelungen des aktuellen Klimaschutzgesetzes insofern nicht ausreichend, als dass sie „hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030“ verschieben. Die nach 2030 erforderlichen Minderungen müssten „dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden“. Und da von diesen Maßnahmen „praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen“ wäre, „weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden“ sind, wären die „zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden“ in der Zukunft „durch die angegriffenen Bestimmungen [...] in ihren Freiheitsrechten verletzt.“
Zwei Seiten derselben Medaille
Kurzum: Das Bundesverfassungsgericht fordert die Politik mit dem Urteil de facto auf, einen ambitionierteren Klimaschutz zu betreiben, weil zu nachlässige Maßnahmen sonst dazu führten, dass die Freiheitsrechte in der Zukunft noch viel stärker eingeschränkt werden müssten. Oder zugespitzter formuliert: Aus der Perspektive der Karlsruher Richter:innen würde der Klimaschutz – der fast immer auch mit Regulierungen und bestimmten Einschränkungen verbunden ist – die Freiheit des Einzelnen unterm Strich nicht beschneiden, sondern bewahren. Zumindest implizit macht sich das Gericht damit einen Freiheitsbegriff zu eigen, den der in Tübingen lehrende Philosoph Claus Dierksmeier in seinem 2016 erschienenen Buch Qualitative Freiheit (transcript) auf den Begriff gebracht hat.
Dierksmeier verwirft darin zunächst die philosophiehistorisch tradierte Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit, also der Freiheit von etwas, beispielsweise von staatlichen Regelungen im Straßenverkehr oder bestimmten Steuern, und der Freiheit zu etwas, beispielsweise der Möglichkeit einer Schulausbildung oder einer sozialen Grundsicherung. Diese Unterscheidung sei deshalb unzureichend, weil positive und negative Freiheit am Ende oft die beiden Seiten derselben Medaille wären. Dierksmeier schreibt: „Ohne positive Freiheit keine Gerechtigkeit; ohne Gerechtigkeit keine funktionierende Gesellschaft; ohne Gesellschaft kein Schutz des individuellen Selbstentwurfs; mithin ohne positive Freiheit keine negative Freiheit.“
Verbesserung von Lebenschancen
Stattdessen differenziert Dierksmeier zwischen quantitativer und qualitativer Freiheit. Ein quantitatives Freiheitsverständnis zielt dabei vor allem auf die Erhöhung subjektiver Präferenzen sowie die Minderung persönlicher Einschränkungen ab. Liegt diesem die Maßgabe „je mehr, desto besser“ zugrunde, geht es also, zugespitzt gesagt, darum, dass der Einzelne möglichst das machen kann, was er möchte. Im Extremfall wäre das jener Auspuff-Liberalismus, der sich im Wesentlichen in einer „freie Fahrt für freie Bürger“-Ethik erschöpft. Ein qualitativer Freiheitsbegriff folgt hingegen dem umgekehrten Motto: „je besser, desto mehr“. Bei ihm geht es also nicht „nur“ um die Erhöhung individueller Wahlmöglichkeiten, sondern vor allem auch um die wechselseitige Verbesserung von Lebenschancen. Oder wie Dierksmeier diese Unterscheidung bildlich zusammenfasst: „Quantitative Freiheitstheorien betrachten Freiheit wie einen Bogen Papier, der umso kleiner wird, an je mehr Personen davon Stückchen ausgeteilt werden. Es liegt also im Interesse der Einzelnen, andere Menschen von jenem knappen Gut auszuschließen, um den eigenen Anteil daran zu vergrößern. Qualitative Freiheit tendiert hingegen dazu, Freiheit wie ein Licht anzusehen, dessen Leuchtkraft umso stärker wird, an desto mehr Personen es weitergegeben wird.“
Hat die qualitative Freiheit also immer ein Abwägen von Freiheiten zum Ziel, um letztere nicht nur einigen wenigen, sondern möglichst vielen zukommen zu lassen, so ist das genau jener Geist, den auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts atmet. Schließlich forderten die Karlsruher Richter:innen – de facto – ein höheres Maß an Klimaschutzregelungen ein, die den Einzelnen zwar womöglich punktuell einschränken können, die Freiheit vieler anderer – insbesondere künftiger Generationen – aber überhaupt erst ermöglicht. Oder umgekehrt formuliert: Wo ökologische Zerstörung herrscht, können die allermeisten Menschen nicht frei sein. •
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