Die Gerd und Soyeon-Show
Gerhard Schröder ist jetzt auf Instagram. Auf dem Kanal seiner Frau Soyeon Schröder-Kim offenbart der Altkanzler eine naturnahe Gemütlichkeitsoffensive, die aus polit-ästhetischer Perspektive einige grundsätzliche Fragen aufwirft.
In medialer Hinsicht ist es womöglich das eigentümlichste Comeback des Jahres: Gerhard Schröder auf Instagram. Auf dem dortigen Kanal seiner Frau Soyeon Schröder-Kim kann man dem Altkanzler, der sich in den letzten Jahren zwar sporadisch immer mal wieder in Interviews zu Wort meldete, insgesamt aber aus der Öffentlichkeit eher verschwunden war, seit kurzem nämlich buchstäblich ins Wohnzimmer gucken. Oder in die Küche. Oder auf den Balkon. Und dabei sieht man den einstigen SPD-Vorsitzenden, wie er als eine Art ästhetisches Mash-Up aus Kollegah und Peter Frankenfeld beschwingt Bratkartoffeln zubereitet, stolz frisch gepflückte Blumen streichelt, in Puschen die Terrassen-Tomaten inspiziert, durch einen Hagebuttenstrauch hindurch Hagebutten erklärt oder in Trainingsjacke am akkurat dekorierten Esstisch Rilkes Herbsttag aufsagt.
Bei manchen mag sich ob dieser pantoffelheldigen Knuffeligkeit unwillkürlich eine gewisse Reflex-Sympathie einstellen, die en passant goutiert, dass sich die Ästhetik der Demokratie eben nicht im pseudo-höfischen Pomp eines Trump oder Erdogan findet, sondern vielmehr im mittelmäßigen Inventar des Reihenhauses zu sich kommt. Andere mögen sich hingegen an Karl-Heinz Bohrers berühmt-berüchtigte Abrechnung mit dem deutschen Polit-Provinzialismus erinnern, in der der einstige FAZ-Literaturchef die „bornierte Selbstenthüllung“ des parlamentarischen Personals aufs Schärfste geißelte. Doch ganz gleich, wie das eigene Urteil hier auch ausfallen mag, wirft Gerhard Schröders digitale Renaissance einige polit-ästhetische Fragen auf, die über geschmackliche Präferenzen hinausgehen.
Senfpeitsche an der Tanke
Denn man erinnere sich zunächst: Schröder, der einst bemerkte, dass er zum Regieren nur „BILD, BamS und Glotze“ brauche, wusste in seiner Amtszeit stets jenes Franz-Josef-Wagner-Deutschland inszenatorisch zu bespielen, das der gleichnamige Borderline-Kolumnist der BILD-Zeitung seit Jahrzehnten so knapp wie pathetisch ausmalt. Pflegte Schröder doch selbst noch in Brioni-Anzügen stets die Aura eines Kanzlers, der zumindest symbolpolitisch all jene „abholt“, die nachts an der Tanke müde eine Senfpeitsche ziehen, sich bei der zweiten Flasche Lambrusco einen Hauch von Italianità in den Schrebergarten holen oder zur Entspannung einfach mal gerne eine Runde „um den Block“ fahren. Dass die Adressierung des „kleinen Mannes“, die Schröder durch seine eigene soziale Herkunft ja authentisch beglaubigte, in programmatischer Hinsicht wiederum völlig anders ausfiel, weil der soziale Kahlschlag der Hartz-Reformen vor allem die ökonomisch Schwachen traf, gehört freilich zur negativen Dialektik sozialdemokratischer Spätgeschichte.
Bleibt man jedoch einstweilen bei der selbstinszenatorischen Kompetenz des Altkanzlers, offenbaren seine Instagram-Auftritte vor diesem Hintergrund nun einen eigentümlichen Kontrast. Das zeigt sich bereits daran, dass Schröder, der aus seiner chauvinistisch imprägnierten Einstellung zur Rollenverteilung ja nie einen allzu großen Hehl gemacht hatte, was sich etwa an seiner bekannten Bezeichnung des „Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend“ als „Familie und Gedöns“ zeigte, als Komparse seiner Ehefrau auftritt. Denn es ist ja Soyeon Schröder-Kim, unter deren buchstäblicher Regie der Altkanzler die digitale Bühne betritt. Nun darf man zwar unterstellen, dass dies keineswegs einer bloßen Laune entsprungen ist, sondern vielmehr einen klaren strategischen Vorlauf hatte, nicht zuletzt, weil Gerhard Schröders neues Podcast-Projekt just in jenen Mai-Tagen startete, als er verstärkt auf dem Instagram-Kanal seiner Frau auftauchte.
Doch selbst wenn es sich bei Schröders häuslicher Gemütlichkeitoffensive um eine Art aufmerksamkeitsökonomisches Guerilla-Marketing handelt, welches noch den Nebeneffekt hat, dass es von seiner unzerbrechlichen Freundschaft zu Putin ablenkt, welche durch den Mordanschlag auf Alexej Nawalny jüngst wieder im kritischen Licht der Öffentlichkeit stand, bleibt der Altkanzler in instagram-inszenatorischer Sicht dennoch: ein Statist seiner Frau. Zumal die studierte Germanistin, Dolmetscherin und Managerin Soyeon Schröder-Kim auch nur einen kleinen Teil ihrer Instagram-Posts ihrem, wie sie öfter schreibt, „Yopsigi“ (koreanisch: „Nebenmensch“ bzw. Ehepartner) widmet. In einer wohlwollenden Lesart ließe sich in der Bildpolitik der Schröders, so strategisch sie denn auch sein mag, somit eine gewisse feministische Verschiebung erkennen, die den Altkanzler in den Sphären der Reproduktion in Szene setzt.
Von Marx zu Heidegger
Gleichwohl fällt in der Schröder'schen Reihenhaus-Romantik noch etwas anderes auf. Der Selbstinszenierung des Altkanzlers fehlt nun völlig jene proletarische Komponente, die er in seiner Amtszeit zumindest noch symbolpolitisch hochhielt. Das mag zwar nur folgerichtig sein, da alles andere für den Architekten der Agenda-Politik sowie Gazprom- und Rosneft-Lobbyisten nur noch zynischer wirken würde, als es das sowieso schon tut. Bemerkenswert scheint dabei jedoch, was inszenatorisch an die vakante Stelle getreten ist: die Natur.
Wo Schröder einst die Welt zwischen Senfpeitsche und Tanke bespielte, adressiert er symbolisch nun das Jack-Wolfskin- und Terrassen-Deutschland, das gern auch mal „waldbaden“ geht. Das ist für einen begüterten Halb-Ruheständler subjektiv zwar nachvollziehbar, offenbart pars pro toto aber auch eine Art philosophische Grundverschiebung vieler sozialdemokratischer Karrieren. Was, wie auch beim einstigen Jusos-Vorsitzenden-Schröder, oft beim kämpferischen Marxismus anfängt, endet dann in einer Art naturnahen Schwund-Heideggerianismus. Zumal Schröder womöglich bald auch eine biographische Komponente mit dem Schwarzwald-Philosophen teilt. Denn so wie die Generation Instagram den Altkanzler nun vielleicht eher als Ehemann von Soyen Schröder-Kim entdeckt, lernen jüngere Menschen Heidegger heute ja meist nur noch als einstigen Boyfriend von Hannah Arendt kennen. •
Weitere Artikel
Wie beeinflussen Influencer?
Haben Influencer auf Instagram und Co. mittlerweile einen größeren Einfluss auf die öffentliche Meinung als Fernsehmoderatorinnen, Nachrichtensprecher und Journalistinnen in den traditionellen Medien? Wer sich aktuell die Kanäle von Weltstars wie Christiano Ronaldo, Dwayne Johnson oder Ariana Grande ansieht, die ihre Follower zur Einhaltung der Corona-Maßnahmen aufrufen und damit enorme Resonanz hervorrufen, könnte diesen Eindruck durchaus gewinnen. Doch warum sind derartige Posts so wirkungsvoll?

Gerd Kempermann: „Die allermeisten Gedanken können ergangen werden“
Wenn Philosophen in Säulenhallen lustwandeln oder auf einsamen Waldspaziergängen dem Gang der Welt nachgrübeln, dann kann der Neurowissenschaftler Gerd Kempermann das erklären: Gehen ist dem Denken zuträglich, weil Gehirne überhaupt erst im Zusammenhang mit der Bewegung entstanden sind.

Gerd Gigerenzer: „Wir sollten die Illusion der Gewissheit verlernen“
Wie können wir uns in einer unsicheren Gegenwart richtig entscheiden? Der Psychologe und Risikoforscher Gerd Gigerenzer über gelingende Kontingenzbewältigung und die Kraft der Intuition.

Anneke Kim Sarnau - Die Raue
„Rock“ steht auf ihrem rechten Arm, „Roll“ auf dem linken. Hauptsache borstig. Das ist das Motto der doppelten Grimme-Preisträgerin Anneke Kim Sarnau, eine der beliebtesten Schauspielerinnen Deutschlands. Im „Polizeiruf 110“ ist sie als impulsive Kommissarin Katrin König an der Seite von Charly Hübner zu sehen.
Männer und Frauen: Wollen wir dasselbe?
Manche Fragen sind nicht dazu da, ausgesprochen zu werden. Sie stehen im Raum, bestimmen die Atmosphäre zwischen zwei Menschen, die nach einer Antwort suchen. Und selbst wenn die Zeichen richtig gedeutet werden, wer sagt, dass beide wirklich und wahrhaftig dasselbe wollen? Wie wäre dieses Selbe zu bestimmen aus der Perspektive verschiedener Geschlechter? So zeigt sich in der gegenwärtigen Debatte um #metoo eindrücklich, wie immens das Maß der Verkennung, der Missdeutungen und Machtgefälle ist – bis hin zu handfester Gewalt. Oder haben wir nur noch nicht begriffen, wie Differenz in ein wechselseitiges Wollen zu verwandeln wäre? Das folgende Dossier zeigt drei Möglichkeiten für ein geglücktes Geschlechterverhältnis auf. I: Regeln. II: Ermächtigen. III: Verstehen. Geben wir Mann und Frau noch eine Chance!
Augustinus und die Zeit
Was ist Zeit ?
Zu spät! Denn sobald man sich die Frage stellt, weiß man es nicht mehr. Es scheint eine Eigenart der Zeit zu sein, uns durch die Finger zu gleiten, sich nicht fassen zu lassen, im Leben wie im Denken. Diesen unergründlichen Charakter der Zeit stellt Augustinus schon im 4. Jahrhundert heraus und umreißt damit eine grundlegende Frage, die Philosophen und Wissenschaftler noch heute beschäftigt: Existiert die Zeit nur dadurch, dass wir sie wahrnehmen? Oder existiert sie an sich, unabhängig davon, was wir von ihr spüren? Der Physiker Étienne Kleinzeigt, dass die Fragen, die Augustinus aufwirft, zentral für die aktuelle Forschung zum Universum sind. Augustinus, so Klein, ist der Vordenker der kühnsten Spekulationen über unsere Raumzeit. Der Philosoph Jean-Luc Marion hat das Vorwort für unser Beiheft verfasst. In seiner anregenden Interpretation des elften Buchs der „Bekenntnisse“ untersucht er die überraschende Schönheit der Seelenzeit in Augustinus’ Denken.
Umberto Eco im Gespräch: "Die Sprache ist eine permanente Revolution"
Seiner Herkunft nach Philosoph, wurde Umberto Eco als Romanautor und kosmopolitischer Essayist zu einer intellektuellen Legende. Die Leichtigkeit, mit der er alle Themen angeht, zeigt, dass Denken eine lustvolle Tätigkeit ist.
Umberto Eco war eine geheimnisumwitterte Figur. Wie ist aus diesem Kind einer einfachen Familie im Piemont der kosmopolitische Intellektuelle geworden, der er war? Als Enkel eines Druckers und Sohn eines Buchhalters verbrachte Eco den Krieg mit seiner Mutter in den Bergen, wo sich der Salesianerorden Don Bosco seiner annahm und in ihm die Liebe zu der Philosophie des heiligen Thomas von Aquin wachrief. Wie ist aus dem Autor zweier erfolgreicher Mittelalterkrimis und ein paar ironischer Essays über den Zeitgeist ein Gelehrter geworden, der sich wie ein Magier von Peking über São Paulo nach Paris durch die Welt bewegte, um seine intelligente und vergnügte Meinung über den Triumphzug der Simulakren zum Besten zu geben, über den Niedergang des Buches, über Verschwörungstheorien – oder über Charlie Brown als „Moment des universellen Bewusstseins“? Um dieses Geheimnis zu lüften, haben wir uns mit ihm im Louvre getroffen, wo er 2012 auf Initiative des Instituts Transcultura eine Kommission von Künstlern, Architekten und Intellektuellen aus Europa und China versammelt hatte. Das Ziel? Die Einübung einer Art intellektueller Gymnastik, die seiner Meinung nach nötig ist, wenn es gelingen soll, in der großen Konfrontation zwischen den Kulturen, die sich vor unseren Augen abspielt, Orientierung zu finden. Das, was er „geistige Vielsprachigkeit“ nennt oder die Fähigkeit, nicht nur eine einzige Sprache zu sprechen, sondern die feinen und entscheidenden Unterschiede zwischen den Kulturen auszumessen.

Imre Kertész: "Denken ist eine Kunst, die den Menschen übersteigt"
Die Redaktion des Philosophie Magazin trauert um Imre Kertész. In Gedenken an den ungarischen Schriftsteller veröffentlichen wir ein Interview mit ihm aus dem Jahr 2013.
—
Nietzsche, Wittgenstein, Camus – es war die Philosophie, die Imre Kertész den Weg zur Literatur wies. Der ungarische Nobelpreisträger blickte in seinem, wie er selbst vermutete, „letzten Interview“ zurück auf ein Leben, das sich weder durch Konzentrationslager noch die kommunistische Zensur zum Schweigen verdammen ließ.
„Wissen Sie, ich habe viel über Ihre Fragen nachgedacht“, sagte Imre Kertész gleich zu Beginn, als er uns in seiner Wohnung in Buda, einem Stadtteil von Budapest, empfing. „Mir liegt daran, mit Ihnen ein schönes Interview zu führen, weil es vermutlich mein letztes sein wird.“ Dieser testamentarische Satz könnte makaber wirken, aber im Gegenteil: Seiner kurzatmigen Stimme zum Trotz leuchtet es in seinen Augen lebhaft und verschmitzt. Seit gut einem Jahrzehnt kämpft Kertész mit der Parkinsonkrankheit, Ursache zahlloser Schmerzen und Schwierigkeiten, von denen seine veröffentlichten Tagebücher berichten. Diese Krankheit zwang ihn, 2012 offiziell das Schreiben aufzugeben, und lässt ihm täglich nur wenige kurze Momente der Ruhe.
Es ist schwer, nicht gerührt zu sein bei der Begegnung mit diesem so geprüften und zugleich so zäh durchhaltenden Menschen, der unentwegt über die Paradoxa des Daseins als „Überlebender“ nachgesonnen hat. Imre Kertész wurde 1929 geboren. 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert, dann nach Buchenwald gebracht, wo er 1945 die Befreiung des Lagers erlebte. Den wesentlichen Teil seines Lebens hat er daraufhin unter dem kommunistischen Regime in Ungarn verbracht. Kertész begann Mitte der fünfziger Jahre zu schreiben. Zugleich toleriert vom Regime und sorgsam ferngehalten von der Öffentlichkeit, veröffentlichte er in äußerst überschaubaren Auflagen und kühl aufgenommen von der offiziellen Kritik Meisterwerke wie „Roman eines Schicksallosen“ oder „Der Spurensucher“. Erst mit dem Zusammenbruch des Ostblocks wurden seine Werke in aller Welt übersetzt und fanden internationale Anerkennung, gekrönt vom Literaturnobelpreis im Jahr 2002.
Wenn es eine weniger bekannte Dimension seiner Existenz gibt, dann ist es das Verhältnis des Schriftstellers zur Philosophie. Aus Leidenschaft, doch auch, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, übersetzte Imre Kertész zahlreiche deutsche Philosophen vom Deutschen ins Ungarische, unter ihnen Friedrich Nietzsche und Ludwig Wittgenstein. Die Lektüre dieser Autoren sowie die von Albert Camus und Jean-Paul Sartre hat unentwegt sein Werk genährt. Vor allem aus dem Wunsch heraus, sich über seine – intensive und beständige – Beziehung zur Philosophie zu äußern, stimmte Kertész unserer Interviewanfrage zu.
