Die Lehren Rousseaus
Was sagen Sie auf die Frage, wie es Ihnen geht?
Meine eigene Antwort in diesen Tagen beginnt, wie mir auffällt, oft so: „Eigentlich ganz gut, aber …“ Zufrieden bin ich mit diesem Anfang nie, denn was er genau besagen soll, ist bei Licht besehen alles andere als klar. Genau genommen ergibt er noch nicht einmal Sinn. Denn was heißt „eigentlich“? Geht es mir nun gut oder nicht?
Natürlich weiß ich, warum ich diese Einschränkung mache und worauf das „aber“ verweist. Zwar war die Weltlage, wie ein Blick in die fernere und nähere Vergangenheit zeigt, noch nie in Ordnung, doch jetzt, in unserer Zeit, sind die Nachrichten, wer wollte das bestreiten, regelrecht erdrückend. In der Ukraine herrscht ein schrecklicher Krieg, der täglich weitere Opfer fordert und mit einem manifesten Eskalationsrisiko einhergeht. Zudem ist eine neue, gefährliche Blockbildung zwischen Ost und West, inklusive nuklearer Aufrüstung, zu befürchten; in Afrika droht eine gigantische Hungerkatastrophe. Die Coronakrise, die vor allem im globalen Süden verheerende ökonomische und humane Folgen gezeitigt hat, verschärft die dramatischen Kollateralschäden des Krieges zusätzlich. Derweil dräut über allem der Klimawandel; in Frankreich, Indien und vielen anderen Ländern herrscht Dürre.
Wie Ihnen vielleicht auch drückt mir all das auf die Stimmung, macht mir bisweilen sogar Angst, verhindert jede Zuversicht. Wie noch morgens gut gelaunt aus dem Bett steigen, wenn sich der Horizont zusehends verdüstert? Wie meinen Kindern gegenüber ehrlich sein, ohne ihnen die Fröhlichkeit zu rauben? Wie den Kaffee in der Sonne genießen, wenn tausend Kilometer weiter östlich Menschen tage- und wochenlang in Bunkern und U-Bahnschächten ausharren?
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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