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Bild: Lisaetwikipedia (CC BY-SA 4.0)

Interview

Edgar Morin: „Die Menschheit kann der Kopilot der Natur werden“

Edgar Morin, im Interview mit Martin Legros veröffentlicht am 01 September 2021 24 min

Edgar Morin hat an der Résistance teilgenommen, das Aufbegehren von 1968 erlebt und die Dringlichkeit der ökologischen Frage vorhergesehen. Dieser nunmehr hundertjährige Philosoph des „wilden Denkens“ blickt im Gespräch auf ein Leben voller Kämpfe zurück.

 

Am 8. Juli 2021 feierte er seinen einhundertsten Geburtstag, aber ein Jahrhundertmensch ist Edgar Morin seit langem. Geboren wurde er in Paris als Sohn von Vidal Nahoum, einem Händler und sephardischen Juden aus Thessaloniki, der 1918 nach Frankreich gekommen war, und Luna Beressi, der geliebten Mutter, die an Herzversagen stirbt, als Edgar 10 Jahre alt ist. Der junge Edgar Nahoum studiert Jura und Politikwissenschaften, tritt in die Kommunistische Partei ein und engagiert sich ab 1941 in der Résistance, wo er seinen Nachnamen in Morin ändert. Als Kommunist, Jude und Gaullist begeht er „die drei Todsünden jener Zeit“; allerdings tritt er 1951 aus der Partei aus, veröffentlicht eine bemerkenswerte Selbstkritik und gründet mit Kostas Axelos die Zeitschrift Arguments, ein Hort intellektueller Freiheit, in dem die Moderne mit dem Denken von Marx und Heidegger verknüpft wird. Nachdem er Soziologe am renommierten staatlichen Zentrum für Wissenschaftsforschung CNRS wird, richtet er sein Interesse auf Objekte jenseits der damals ausgetretenen Pfade. Nach einer Untersuchung über die Glaubensvorstellungen rings um den Tod vertieft er sich in die Magie des Kinos. Dieses ist für ihn das „Reich der Schatten“, die „Höhle Platons“, doch mit einem wesentlichen Unterschied: „Während wir intensiv verzaubert, besessen, erotisiert, exaltiert, entsetzt sind, während wir lieben, leiden, genießen und hassen, wissen wir doch jederzeit, dass wir in einem Kinosessel sitzen und ein imaginäres Schauspiel betrachten ...“ Morin profiliert sich auch als ein hervorragender Analytiker der Gegenwart. Die brandaktuellen Artikel, die er 1968 gemeinsam mit Claude Lefort und Cornelius Castoriadis schreibt (Mai 68. La brèche, Fayard), erfassen gut den Charakter dieser Revolution, die keine ist. In den 1990er Jahren ist er mit Terre-Patrie (Seuil) wiederum einer der ersten, der das Ausmaß der ökologischen Herausforderung erkennt: „Wir lebten auf einer abstrakten Erde, wir lebten auf einer Erde-als-Objekt. Unser Fin-de-siècle hat die Erde-als-System entdeckt, die Erde Gaia.“

Seinen seit den 1960er Jahren verfolgten transdisziplinären Ansatz systematisiert er ab 1977 in den sechs Bänden seines Hauptwerks La Méthode (Seuil). Darin legt er seine Idee der „Komplexität“ dar, die das Wissen und die Dimensionen des Menschen miteinander verbindet. Seinem Freund Régis Debray zufolge hat Edgar Morin die Ressourcen zum klaren Denken aus seiner eigenen Biographie geschöpft: „Ein Liberaler mit Leib und Seele, der das Soziale durchkämmt, ein Individualist, der sich Gedanken um die Brüderlichkeit macht, ein Jude, der sich um die Palästinenser sorgt, ein reiner Kosmopolit, der einen Sinn für Heimat hat. Einer, der nacheinander durch Nazismus, Stalinismus und Neoliberalismus hindurchgegangen ist, ohne jemals den Kopf oder die Richtung zu verlieren.“ Mehr noch als ein Jahrhundertmensch ist Edgar Morin letzten Endes ein Orchestermensch, der versucht hat, auf allen Instrumenten der Erkenntnis zu spielen, alle Zeichen des Neuen zu erhaschen – um besser die Singularität des Menschlichen zu begreifen und uns auf einen neuen „Weg“ der Zivilisation zu lenken. 
 


Herr Morin, Sie feierten jüngst Ihren einhundertsten Geburtstag. Fühlen Sie sich schwer beladen von einem Jahrhundert Leben?

Ich bin erstaunt, amüsiert und beunruhigt.

Wieso beunruhigt?

[Lacht.] Ich glaube, bei jedem runden Geburtstag, jedes Mal, wenn in unserem Leben das Dezimalsymbol auftaucht, ruft das unweigerlich Unruhe hervor. Erinnern Sie sich daran, wie es war, als Sie 20 oder 40 wurden? Das war ein etwas besonderer Lebensabschnitt, oder nicht? Nun stellen Sie sich einmal 100 Jahre vor! Wieso verspüren wir diese Unruhe angesichts einer Zahl? Das mag daran liegen, dass die Null zugleich ein Nichts und ein Ei repräsentiert. In ihr ist die Idee des Geburtstags selbst gedrängt zusammengefasst. Was ist ein Geburtstag? Tod und Wiedergeburt: Man feiert den Tod des vergangenen Jahres, um im folgenden Jahr zu neuem Leben zu erwachen. Aber wenn man 100 Jahre erreicht hat, ist die Wiedergeburt quasi unsichtbar. Man sieht vor allem die andere Seite, die des Lebensendes. 100 Jahre, das ist keine gewöhnliche Zahl. Diese Jahreszahl ist fatal!

In einem Ihrer ersten Bücher, L'Homme et la Mort, konstatierten Sie ein Schwinden der Rituale und behaupteten, ein Antrieb der westlichen Moderne sei es gewesen, „den Tod zurückzudrängen“. Liefern Sie mit Ihren 100 Jahren nicht eine existenzielle Bestätigung für diese Hypothese?

Im Fazit der ersten Ausgabe dieses Buches vor siebzig Jahren habe ich die Hypothese vorgebracht, dass die Fortschritte in Wissenschaft und Medizin, die im letzten Jahrhundert eine zunehmende Verlängerung der Lebenserwartung gestattet haben, zur Konsequenz hätten, dass sie das Leben unbegrenzt verlängern würden, was ich die „Amortalität“ genannt habe. Worum handelt es sich? Um ein durch Regeneration, Reparation oder Reanimation des Lebewesens verlängertes Leben. Nach der Veröffentlichung des Buches haben dann die Biologen, die soeben das Phänomen der Zellalterung nachgewiesen hatten, meiner Hypothese entgegengehalten, dass der Tod tatsächlich im Innersten der Organisation des Lebendigen hockt, einer Organisation, die auf Kommunikation basiert und auf Dauer nicht die Fehler vermeiden kann, die sie selbst schädigen. Das System des Austauschs zwischen DNA und RNA beinhaltet, wie jedes Kommunikationssystem, Bugs und Fehler; letztlich ist es also zum Dahinsiechen bestimmt. Das war gleichbedeutend mit einem Dementi meiner Idee, dass wir den Weg hin zu einer unbegrenzten Ausdehnung des Lebens eingeschlagen hatten. Dem habe ich in den folgenden Auflagen Rechnung getragen, indem ich von meinem ursprünglichen Optimismus Abstand genommen habe. Doch vor einigen Jahren kam es zu einer neuerlichen Wende, als mich mein Freund Jean-Claude Ameisen, Immunologe und biologischer Forscher, darüber informierte, dass im Lichte der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, vor allem im Bereich der Stammzellen, meine Ausgangshypothese wieder sehr an Triftigkeit gewinnen würde. Stammzellen können nämlich die Organe „verjüngen“. Tatsächlich ist Leben ein ständiger Regenerationsprozess, nicht nur durch den Sauerstoff, der unsere Zellen entgiftet, und durch die Nahrung, die uns mit der Energie versorgt, die wir mit unseren Aktivitäten, einschließlich der physiologischen, verbrauchen, sondern auch durch das ständige Ersetzen alter Zellen durch neue. Allerdings nutzt sich dieser Prozess ab: Wir altern, weil wir uns immerzu verjüngen. Um es etwas derb zu sagen: Weil wie uns immerzu verjüngen, krepieren wir. Mit 100 Jahren und in dem Geisteszustand jugendlicher Neugier, in dem ich verblieben bin, empfinde ich Verjüngung und Altern zugleich.

Heute wird aus transhumanistischer Perspektive Ihre Idee, „den Tod zurückzudrängen“, wieder aufgenommen. Was halten Sie davon?

Die Perspektive einer unbegrenzten Verlängerung des Lebens sollte nicht losgelöst werden von den technologischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Transformationen, die dazu tendieren, eine Spaltung zu erzeugen zwischen denen, die Zugang zu einer solchen Übermenschlichkeit haben, und den anderen. Schon in der Antike war die Unsterblichkeit den Fürsten und Pharaonen vorbehalten, Sklaven und niederes Volk waren von ihr ausgeschlossen. Einer der machtvollsten Effekte des Christentums bestand dann in der Demokratisierung des ewigen Lebens. Im Gegensatz dazu wird die von den Transhumanisten verteidigte Verlängerung des Lebens den Privilegierten und Mächtigen vorbehalten bleiben. Man sieht das bereits beim Organhandel auf globalem Maßstab: Es sind die Milliardäre, die nun Nieren kaufen können, um ihr Leben zu verlängern. Und bei den kognitiven Fähigkeiten, die die Transhumanisten künftig in die Gehirne implementieren wollen, ist das noch offensichtlicher.

Wäre das Zurückdrängen des Todes das Sprungbrett für eine neue Aristokratie?

So ist es. Die Menschen mit erweiterten Fähigkeiten („augmented human“) werden einer Übermenschheit angehören und es sich gewiss nicht nehmen lassen, die anderen als „Untermenschen“ zu behandeln. Die Aussicht auf eine unbegrenzte Verlängerung des Lebens, die mich vor fünfzig Jahren faszinierte, erscheint mir heute, da sie sich zu konkretisieren scheint, als ein viel beunruhigenderes Phänomen. Sie bringt die Möglichkeit einer neuen Übermenschheits-„Rasse“ mit sich. Hinzu kommt, dass wir mehr und mehr abschätzen können, wie sehr wissenschaftlicher und technischer Fortschritt mit einer Zerstörung der Biosphäre, einer Krise der demokratischen Mächte und einer maßlosen Ausweitung der Macht des Geldes einhergeht. Der euphorische Blick auf den Fortschritt ist also nicht sinnvoller als die katastrophischen Untergangsszenarien.

 


Edgar Morin in 6 Daten:


1921 Geburt am 8. Juli in Paris, Rue Mayran
1941 Eintritt in die Résistance, Beitritt zur Kommunistischen Partei Frankreichs
1969 Aufenthalt in La Jolla (Kalifornien) am Salk Institute for Biological Studies
Ab 1970  Forschungsdirektor am CNRS
1977-2004 Veröffentlichung von La Méthode (6 Bände, Seuil)
2021 100. Geburtstag am 8. Juli
 


 

Welche Haltung sollen wir dann zur Zukunft einnehmen?

Wir manövrieren durch eine ungewisse Epoche, in der sich nicht vorhersagen lässt, was sich in der Zukunft abspielen wird. Mit dieser Ungewissheit zu denken, ist angebrachter als der Versuch, sie zu überwinden. Außerdem haben wir mit Covid soeben die Erfahrung einer Krise gemacht, die gezeigt hat, dass es unmöglich ist, die Viren und Bakterien aus unserer Umwelt zu tilgen: Sie haben eine außergewöhnliche Fähigkeit zu Erneuerung und Mutation. Wie bei der Kernkraft ist uns auch im bakteriologischen Bereich bewusst geworden, dass man die Möglichkeit erheblicher Unfälle niemals ausschließen kann. Je technischer die Welt ist, desto höher ist das Unfallrisiko. Angesichts dieser grundlegenden Ungewissheit müssen wir es schaffen, in unserem Geist widersprüchliche Szenarien koexistieren zu lassen. Mehr noch: Wir müssen in Betracht ziehen, dass der wissenschaftliche, technische und ökonomische Fortschritt bis dahin ungekannte Möglichkeiten hervorgebracht hat – die in Hiroshima zutage getretene tödliche Möglichkeit der Auslöschung, die Möglichkeit der Zerstörung der irdischen Biosphäre, des Untergangs unserer Gesellschaften und Zivilisationen, und zugleich die Möglichkeiten zu einer Übermenschlichkeit, im physischen und technischen, nicht im geistigen oder moralischen Sinn. Dieses doppelte, widersprüchliche Szenario ist im Gange, wir erleben es blind und unbewusst. Wir schlafwandeln durch ein Abenteuer unbekannten Ausmaßes.

Sie definieren sich als „Mensch, Franzose, mit jüdisch-sephardischen Wurzeln, italienischen und spanischen Anteilen, durch und durch mediterran, kulturell Europäer, Weltbürger und Kind der Mutter Erde“. Wie koexistieren diese Daseinsformen?

Sie sind zwar alle in meinem ICH vereint, doch sie wechseln einander ab, je nach den Umständen, den örtlichen Gegebenheiten, den Gesprächspartnern. Ich würde aber sagen, wenn die eine Identität in den Vordergrund tritt, bleiben die anderen wie ein Lichthof immer um mich herum. Meine Identitäten kumulieren sich eher in ihrer Pluralität, als dass sie miteinander in Konflikt geraten. Trotzdem, mein Substantiv ist sozusagen die Identität als Mensch, während die anderen Identitäten die Adjektive dazu sind – und das wichtigste davon ist französisch.

Ihr Familienname, Morin, ist der Deckname, den Sie während der Résistance angenommen haben, anstelle von Nahoum, dem Namen Ihres Vaters. Woher kommt der Name Morin? Und warum haben Sie ihn als Pseudonym nach dem Krieg beibehalten?

Das mit der Résistance einhergehende Leben im Untergrund verlangte die Wahl eines Decknamens. Wenn der Deckname der Gestapo bekannt war, musste man ihn wechseln. Bei mir war das der Fall, ich hatte zunächst „Manin“ gewählt, der Held aus Malraux' Roman Die Hoffnung und zugleich der Name des Anführers der kurzlebigen Republik Venedig von 1848, die heroisch den Österreichern Widerstand leistete. Doch der Kamerad, dem ich diesen Decknamen gesagt hatte, als ich in Toulouse zu einer Versammlung eintraf, stellte mich als den Kameraden „Morin“ vor. So bin ich zu Morin geworden. Bei meinen Kameraden und Freunden bin ich es geblieben, und als ich nach dem Krieg meine ersten Artikel drucken ließ, hatte ich auch, wie viele andere damals, den Drang, meinen bürgerlichen Namen zu französisieren. So blieb ich also Morin. Ich wollte aber den Namen meines Vaters, den ich offiziell behalten habe, nicht aufgeben. Ich lebe recht gut mit dieser doppelten Identität, trotz mancher Scherereien, gerade bei Ausweiskontrollen. Indem ich die beiden Namen behielt, fühlte ich mich zugleich als „Sohn meines Vaters“ und „Sohn meiner Werke“.

Zur Résistance gekommen sind Sie in Toulouse, obwohl Sie Jura und Politikwissenschaften in Paris studierten. Wie wird man als Zwanzigjähriger Widerstandskämpfer in der Résistance?

Das war eine Fügung aus dem gemeinsam erlebten historischen Ereignis, meiner eigenen intellektuellen Entwicklung und dem existenziellen Bedürfnis des tatendurstigen jungen Mannes, der ich damals war. Ich war zwanzig und davon überzeugt, dass in meiner Situation, 1942, Leben nicht darin bestehen konnte, zu überleben und abzutauchen, sondern dass es implizierte, mein Leben zu riskieren. Überleben kann zum Leben notwendig sein, doch ein nur dem Überleben gewidmetes Leben war kein Leben mehr. Auf historischer Ebene ist ein doppeltes Ereignis ausschlaggebend gewesen: Zu Beginn des Jahres 1941 kommt es plötzlich zum ersten sowjetischen Sieg gegen die Nazis, wodurch Moskau gerettet wird, und der japanische Angriff auf Pearl Harbor lässt die Vereinigten Staaten in den Krieg eintreten. Für mich bedeutete das ein Geschehen des Unwahrscheinlichen und die Geburt der Hoffnung. Damals habe ich schließlich, obwohl ich zahlreiche Berichte gelesen hatte, die bezeugten, dass die russische Revolution pervertiert und der Stalinismus ein Despotismus war, meinen eigenen Antistalinismus zurückgedrängt. Wie andere auch, habe ich gedacht, dass die Mängel der Sowjetunion dem Erbe der zaristischen Rückständigkeit und der kapitalistischen Umzingelung geschuldet waren, die zu einer Belagerungsmentalität geführt hatten, wie während des revolutionären Terrors in Frankreich. Ich hatte den Glauben gewonnen, dass der sowjetische Sieg die Heraufkunft einer brüderlichen Gesellschaft in der UdSSR erlauben würde. Hinzu kam die Abenteuerlust. In meinem Kopf hallte der Ruf wider, den schon der junge René de Chateaubriand vernimmt: „Steigt auf, ersehnte Stürme!“ Der Eintritt in die Résistance war für mich ein Moment der Emanzipation. Ich bin ich selbst geworden, verantwortlich Handelnder und Akteur der Geschichte, auf Leben und Tod mit meinen Kameraden vereint. In jenem Moment bin ich auch Kommunist geworden, doch zu meinem Glück war ich in einem gaullistischen, später von François Mitterand geführten Netzwerk der Résistance MNPDG (Mouvement national des prisonniers de guerre et déportés) integriert, in der ich sehr froh war, eine doppelte Identität zu leben: die eine in meiner mystischen Verbindung mit der Partei, die andere mit den weniger strengen und sektiererischen Kameraden aus der Résistance. Mein Glück ist damals, im Einklang mit mir selbst, die Brüderlichkeit und die hoffnungsvolle Erwartung gewesen, und das, obwohl ich mich tödlichen Gefahren ausgesetzt habe und den Verlust sehr naher Menschen zu beklagen hatte, darunter den meines deutschen, antifaschistischen Assistenten Jean Krazatz und den meines Klassenkameraden Claude Dreyfus.

In Ihrem letzten Buch, Leçons d’un siècle de vie, fällen Sie ein allem Anschein nach ikonoklastisches Urteil über das Verhalten der Franzosen unter der deutschen Besatzung. Ihnen zufolge waren sie gar nicht so kollaborationistisch, wie man allgemein annimmt ...

Da es damals keine Meinungsumfragen gab und die Presse servil gegenüber den Besetzern war, verfüge ich über keine statistischen oder journalistischen Daten, um diese Behauptung zu untermauern. Wenn ich mich aber auf meine Erfahrungen stütze, gesammelt im Laufe unzähliger Gespräche während meines Umherreisens durch Frankreich, in den Zügen, in denen man früher viel miteinander sprach, neige ich zu der Überzeugung, dass ein beträchtlicher Teil der französischen Meinung damals „pétaino-gaullistisch“ war – an dem Glauben an eine stillschweigende Übereinkunft zwischen den beiden Männern festhaltend, wobei der eine die Rolle des „schützenden Schildes“ und der andere die des „befreienden Schwertes“ spielte. In ihrem alltäglichen Verhalten stellte die Mehrheit der Franzosen einen massiven Widerstand unter Beweis, gewiss nicht direkt gegenüber dem Besatzer, sondern eher gegenüber den vom Besatzer geschaffenen widrigen Umständen, indem sie sich irgendwie zu helfen wussten, um an Nahrung, Kleidung etc. zu kommen. Diese ambivalente Haltung hat nach dem Sieg keine Spuren hinterlassen, der Pétaino-Gaullismus hat sich in Luft aufgelöst. Ich halte trotzdem an meinem Befund fest, mag er auch gemessen an den Bildern, die man sich üblicherweise von der Besatzungszeit macht, ikonoklastisch sein – wie übrigens etliche der politischen Urteile, zu denen ich in der Folge gekommen bin.

Sie haben die Befreiung von Paris am 26. August 1944 sehr intensiv erlebt. Und mit den gleichen Worten von kollektivem Aufbegehren sprechen Sie über den Mai '68. In jenen Momenten, schreiben Sie, erlebe man „die poetische Qualität des Lebens“. Ist das eine Loslösung des Lebens innerhalb des Lebens selbst?

Ich habe die Befreiung von Paris tatsächlich im Herzen der Stadt miterlebt. Gemeinsam mit meinen Freunden Marguerite Duras und Dionys Mascolo, in einem Wagen mit offenem Verdeck durch die Straßen fahrend, mit einer Trikolore in der Hand und im Wind, als Zielscheibe für die Kugeln der letzten, auf den Dächern hockenden Kollaborateure ... Ich würde das nicht als Loslösung des Lebens beschreiben, sondern eher als dessen Erblühen in Intensität und heiterer Gelassenheit. Die Kommunion, die Übereinstimmung mit der Gemeinschaft, ist ein glückseliger Zustand, doch kann er auch seine finstere Seite haben. Ich habe diesbezüglich die „dunklen Ekstasen des Eros“ erwähnt, vor allem aber jene erschreckend ekstatischen Zeremonien der mystischen Verehrung von Führer, Duce, Stalin, all diese fanatischen Aufmärsche.

Während eines guten Jahrzehnts waren Sie Anhänger der kommunistischen Partei, ungeachtet der Verbrechen und Lügen des Stalinismus. Sie sind jedoch auch einer der ersten französischen Intellektuellen, der versucht hat, die Natur des kommunistischen Glaubens zu verstehen – in Ihrem Buch Autocritique [Selbstkritik] aus dem Jahr 1959.

Der Kommunismus ist eine Religion des irdischen Heils, die bei ihren naiven Gläubigen eine riesige Illusion und bei ihren nicht-naiven Gläubigen die Befriedigung aus Unterwerfung und Herrschaft mit sich brachte. Er ist der letzte Avatar des jüdisch-christlichen Messianismus, von Marx auf laizistische Weise zum Leben erweckt, von Lenin und Trotzki mit letzter Energie vollstreckt und in der UdSSR siebzig Jahre lang mit einer verlogenen Mythologie durchgesetzt. Wie jede große Religion hatte der Kommunismus seine Helden, seine Heiligen, seine Märtyrer, seine Henker und seine Idioten. Das Abdriften der Diktatur des Proletariats in die Diktatur der Einheitspartei hat auch gewaltige intellektuelle Driften hervorgerufen. Überall auf der Welt hat die Partei viele, die anfangs vom Geist der Brüderlichkeit beseelt waren, zunehmend sektiererisch und fanatisch werden lassen. Ebenjene wurden von der Partei ausgewählt und auf Führungspositionen befördert.

Nach dem Krieg haben Sie mit Marguerite Duras, deren früherem Gatten, dem auf wundersame Weise aus den Konzentrationslagern heimgekehrten Robert Antelme, ihrem neuen Geliebten Dionys Mascolo und mit Ihrer Frau Violette eine utopische, freundschaftliche, amouröse und politische Gemeinschaft gebildet. Wie sah diese Denk- und Lebensgemeinschaft aus?

1945, direkt nach dem Krieg, habe ich mit meiner Frau Violette zwei Jahre in Deutschland verbracht, als Attaché im Generalstab der 1. französischen Armee, dann als Propagandachef – eine Erfahrung, aus der heraus ich ein Buch verfasst habe, L'An zéro en Allemagne [1946, dt.: Das Jahr Null. Ein Franzose sieht Deutschland, übers. von Ingeborg Havemann, Berlin (Volk und Welt) 1948]. Bei unserer Rückkehr nach Frankreich hat uns Marguerite ein Zimmer in ihrer Wohnung angeboten, in der auch Robert Antelme wohnte, den Dionys Mascolo, der Geliebte von Duras und beste Freund von Antelme, aus dem Lager Dachau zurückgeholt hatte. Zwei Jahre lang waren wir eine außergewöhnliche Gemeinschaft, in der wir unser Leben, unsere Ideen, unsere Freizeit und unsere Lektüren miteinander geteilt haben. Abends veranstaltete Marguerite als Gastgeberin und Köchin regelmäßig Festessen, zu denen die Queneaus und die Merleau-Pontys, Georges Bataille oder René Clément kamen. Wir diskutierten ununterbrochen, tanzten und gingen oft aus, um Juliette Gréco oder Boris Vian zu hören. Diese Gemeinschaft löste sich auf, als Marguerite und Violette schwanger wurden. Sie war ein Zustand der Gnade, den wir der liebevollen Harmonie zwischen den Ichs und dem Wir dieser Gemeinschaft verdankten. Ich habe das in meinem Leben mehrfach erlebt, und oft hat sich dieser Zustand der Gnade aufgelöst, als ob die Kräfte der Zersprengung stärker wären als die Kräfte des Zusammenhalts – erst kam die Zersprengung der Personen, dann die unaufhaltsame finale Zersprengung unserer Zellen. Ich habe aber auch Liebesbeziehungen und Freundschaften erlebt, die nur der Tod unterbrochen hat und die in meinem Geist lebendig bleiben.

In La Jolla, Kalifornien, haben Sie Ende der 1960er Jahre eine andere „Gemeinschafts“-Erfahrung gemacht. Sie haben dort vor allem mit Hilfe von Rockmusik und Drogen Zustände der Trance und des kollektiven Rauschs ausprobiert ... Hatten diese Erfahrungen einen günstigen Einfluss auf Ihre damalige Arbeit?

Das Gras hat mir bei meiner Arbeit nicht geholfen, aber es hat das gesellige Beisammensein, die Zustände der Gnade begünstigt, und es hat mir erlaubt, meine Schlafstörungen zu überwinden. Der Zustand von Besessenheit oder von Trance kommt spontan in mir auf, wenn ich schreibe oder eine Vorlesung halte. Es ist der „Normal“-Zustand für jede wahre künstlerische und intellektuelle Kreation, zu der später die Rationalität ihren kontrollierenden Anteil beitragen kann.

In den Vereinigten Staaten haben Sie sich auch für die Arbeiten zur Selbstorganisation der lebenden Systeme interessiert, und namentlich für die Arbeiten von Heinz von Foerster [1911-2002], dem Gründer der Kybernetik zweiter Ordnung, zu den komplexen Systemen. Was haben Sie aus diesen Untersuchungen gelernt?

Von Foerster hat mich in die Selbstorganisation eingeführt, die eigentlich eine Auto-Öko-Organisation ist, in der jede autonome organisierende Aktivität Energie verschwendet und in ihrer Umgebung Energie finden muss. Daher die scheinbar widersprüchliche Vorstellung von abhängiger Autonomie. Er hat mir außerdem das Konzept der „rekursiven“ Erkenntnis beigebracht: Ein produzierender Prozess braucht seine Produkte, um sich zu reproduzieren, wie es beispielsweise zwischen Art und Individuen der Fall ist. Er hat mir gezeigt, dass sich die Ordnung mit Chaotischem kombinieren muss, damit es Organisation gibt.

„Wir sind Maschinen, vor allem aber nicht-triviale Maschinen“, schreiben Sie heute und beziehen sich dabei implizit auf von Foerster. Was meinen Sie damit?

Der Begriff der „nicht-trivialen Maschine“ gewinnt seine ganze Relevanz zur Stunde der digitalen Revolution. Von Foerster zeigte: Je „trivialer“ die individuellen Verhaltensweisen waren, desto vorhersagbarer würde sich das Verhalten der Gesamtheit erweisen, zu der sie gehören – was sich heute bei der allgemeinen Rückverfolgbarkeit durch Analyse der Webdaten bestätigt, wo die Individuen anscheinend umso durchschaubarer sind, als sie Verhaltensweisen annehmen, die dem entsprechen, was man von ihnen erwartet. Die triviale Maschine ist die künstliche Maschine, die wir fabrizieren und deren Verhalten bekannt ist, ausgehend von Programmen, die sie befehlen. Der Mensch hingegen handelt nicht immer vorhersehbar, weil er in der Lage ist, zu erfinden, kreativ zu schaffen und dadurch Unerwartetes einzubringen. Was es heute zu verteidigen gilt, ist die Möglichkeit nicht-trivialer Verhaltensweisen. Die Technokraten und Ökonokraten, die unsere Gesellschaften kontrollieren, glauben, dass diese Gesellschaften triviale Maschinen sind, genau wie die rein rechnerisch betrachteten Menschen. Sie glauben, dass eine Algorithmisierung der Gesellschaft durch Künstliche Intelligenz ein harmonischer Prozess wäre, während sie doch bedrückend, um nicht zu sagen repressiv wäre. Von Foersters Lektion besagt, dass das Lebendige, Menschliche, Historische, Soziale nicht algorithmisierbar ist. Nur willkürlich aus Zeit und Raum ausgeschnittene Fragmente der Realität sind es. Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen. Denn nach den großen religiösen und politischen Mythologien leben wir heute im Zeitalter der transhumanistischen Mythologie.

Ihr philosophisches Denken kreist um das Konzept der „Komplexität“. Wie lässt es sich definieren?

Meine grundlegende Idee ist folgende: Wenn Sie die Realität in Fragmente zerlegen, gemäß der Norm, die der Aufteilung der wissenschaftlichen Arbeit inhärent ist, dann funktioniert die aristotelische Logik sehr gut. Sobald Sie sich hingegen nicht allein um die von jeder unserer wissenschaftlichen Disziplinen selektionierten Ausschnitte aus der Realität kümmern, sondern das Ganze zu erfassen versuchen, stoßen Sie auf Aporien und Widersprüche. So sehr, dass Sie dazu gezwungen sind, die Regeln der Logik zu übertreten, ohne sich deshalb schon auf eine bessere Logik stützen zu können ... Die Komplexität überwindet diese Situation nicht, sie versucht, sie richtig abzuschätzen. Sie erkennt die Bipolaritäten an, die für die menschliche Erfahrung konstitutiv sind: Homo sapiens ist auch Homo demens, Homo faber auch Homo religionis, Homo economicus auch Homo ludens und liber. Die Komplexität liegt auch darin begründet, dass Individuum, Gesellschaft und Lebendiges durch eine Art gegenseitige Verschachtelung miteinander verbunden sind: Die Gesellschaft ist im Inneren des Individuums, das im Inneren der Gesellschaft ist, so wie sich die Spezies im Inneren der DNA jeder unserer Zellen befindet, die ihrerseits selbst in der Spezies eingebettet sind, usw. Diese Spannungen und Verschachtelungen lassen uns ans Herz des menschlichen Problems rühren, jenen Stoff von Widersprüchen, die Pascal so gut beschrieben hat. Der Mensch ist durchzogen von einer zugleich äußeren und inneren Kraft, die ihn zum Leben drängt, ohne dass er deren Sinn versteht. Und die Erkenntnis ist nur ein Oberflächenphänomen. Wie Heraklit sagt: Auch wenn wir wachen, schlafen wir. Wir sind Schlafwandler!

Sie haben von Heraklit die Motivation bewahrt, die Spannungen und Widersprüche der Conditio humana eher anzunehmen, als sie überwinden zu wollen ...

Als Erbe von Hegel und Marx habe ich es lange als die Aufgabe des Denkens erachtet, vor dem Widerspruch, auf den man trifft, nicht kehrtzumachen, sondern ihm die Stirn zu bieten, um ihn zu überwinden. Und dann habe ich mich mit Heraklit nach und nach von dieser Idee des Überwindens befreit. Wie im chinesischen Taoismus behauptet Heraklit die Einheit der Gegensätze und die Komplementarität der Gegenspieler. Eintracht und Zwietracht seien Vater und Mutter derselben Sache, sagt er. Während ich durch ein von Konflikten, Nazismus, Kommunismus, Fanatismus zerrissenes Jahrhundert hindurchmusste, machte mir Heraklit verständlich, dass man den Widerspruch nicht überwinden musste, um ihm zu entkommen, dass man permanente Spannungen leben konnte, ohne im Irrtum oder unglücklich zu sein.

Auch Pascal hatte große Bedeutung für Sie. Doch ihm zufolge verurteilt die Zerrissenheit zwischen gegensätzlichen Bestrebungen den Menschen dazu, ein „unbegreifliches Ungeheuer“ zu sein. Sie hingegen leben nicht im Schmerz dieser Spannungen. Wie versöhnen Sie die Idee einer zerrissenen Menschheit mit der Möglichkeit des Glücks?

Pascal bringt wie kein anderer die Zerrissenheit der Conditio humana ans Licht: zwischen Vernunft und Glaube, zwischen zwei Unendlichkeiten, der kosmischen und der inneren, usw. Doch die Zerrissenheit ist nicht sein letztes Wort. Zunächst, weil er zur Wette einlädt, dass es einen Ausweg gebe. Dann, weil er weiß, dass wir dazu verurteilt sind, mit diesen Widersprüchen zu leben. Weder optimistisch noch pessimistisch, versucht er, sich der Tragik unserer Situation bewusst zu sein.

Sie bleiben ein leidenschaftlicher Leser von Marx, bemüht darum, die materiellen Aspekte des sozialen Lebens zu erfassen. Doch Sie fügen die Dimension des Imaginären hinzu. Man müsse die Geschichte mit den Augen von Marx und von Shakespeare lesen, sagen Sie ...

Von der Marxschen Idee geprägt, dass die materiellen Existenzbedingungen die Infrastruktur des gesellschaftlichen Lebens sind, habe ich beim Schreiben meines Buches über den Tod den universellen Charakter der Mythen und Glaubensvorstellungen wiederentdeckt. Es gibt keine Gesellschaft ohne Religion. Nehmen Sie die materiellste Gesellschaft der Geschichte, die Vereinigten Staaten: Sie haben das Zeichen Gottes auf ihre Dollars gedruckt. Und sehen Sie sich den sowjetischen Versuch an, die Religion aus der russischen Gesellschaft auszumerzen: ein radikales Scheitern, das der Religion neue Kraft verliehen hat. Kurz, ich glaube wirklich, dass man Marx' Produktivkräfte und Shakespeares imaginäre Delirien miteinander in Verbindung bringen muss, wenn man etwas über Geschichte verstehen will – und über das Leben: „Ein Märchen ists, erzählt von einem Irren, voll Lärm und Wut, und es bedeutet nichts.“

Sie haben Heidegger gekannt und mehrmals besucht. Von ihm haben Sie das Konzept der „planetarischen Epoche“ entlehnt. Was haben Sie davon zurückbehalten?

Ich habe Heidegger nach dem Krieg in Deutschland getroffen, während ich im Generalstab der 1. Armee war. Ich hatte schon in den 1940er Jahren die Übersetzung des ersten Teils von Sein und Zeit gelesen. Das hatte mich beeindruckt – ich war zwar Marxist, praktizierte aber einen assimilatorischen Marxismus, also einen, der bereitwillig andere Einflüsse aufnahm. Als ich erfuhr, dass er in Freiburg lebte, begab ich mich zu ihm. Eine interessante Erfahrung: In Anbetracht seiner früheren Haltung zum Hitlerismus war damals für Heidegger jedes Mal, wenn er eine französische Offiziersuniform auftauchen sah, gleichbedeutend mit einem neuen Verbot: Lehrverbot, Publikationsverbot etc. Als er mich aufkreuzen sah, zeigte er sich also erschreckt. Doch als ich ihm sagte, dass ich gekommen sei, um mich mit ihm zu unterhalten, änderte sich alles. Ich habe ihn mehrmals in seiner Hütte im Schwarzwald wiedergesehen. Er war imposant in seiner zur Schau gestellten Ländlichkeit ... Deutlich später habe ich im Rückgriff auf seine Epochen-Überlegungen den Begriff der „ère planétaire“ übernommen und ihm eine nicht nur metaphysische, sondern auch historische Bedeutung gegeben. Für Heidegger definiert die „planetarische Epoche“ die Ära des „technischen Gestells“ der Welt. Nach meiner Lesart hängt sie mit drei historischen Ereignissen zusammen: mit Kopernikus und der Entdeckung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist; mit Christoph Kolumbus und der Entdeckung Amerikas; und mit Magellan und seiner Weltumseglung. Von diesem Moment an stehen alle Teile der Erde miteinander in Verbindung – was in der Globalisierung münden wird, das heißt in der technisch-ökonomischen Vereinigung des Erdballs. Die „planetarische Ära“ erlaubt es, die Globalisierung aus zugleich historischer und metaphysischer Perspektive zu denken.

Auch die Literatur war für Sie von großer Bedeutung. Was haben Sie insbesondere von Dostojewski und von Proust gelernt?

Ich bin ein Philosoph des wilden Denkens, kein professioneller Philosoph. Die großen Schriftsteller waren es, mit denen ich über die menschliche Komplexität nachzudenken begann. Sie vermitteln uns Gedanken, die nicht auf „klare und deutliche“ Weise, wie Descartes sagt, ausdrückbar sind, sondern die mit größerer Kraft in uns Eingang finden als die Konzepte. Es war Malraux' Roman Die Hoffnung, der mich bewegt hat, der Résistance beizutreten. Für die Musik trifft das ebenfalls zu. Als Motto eines seiner letzten Streichquartette schreibt Beethoven vor dessen Finalsatz: „Muss es sein? Es muss sein! Es muss sein!“ Gegensätzliche und notwendige Worte. Wie ließe sich besser die Revolte gegen das Schicksal gerade in der Akzeptanz des Schicksals sagen? Das war etwas, das ich in meinem tiefsten Inneren spürte, noch bevor ich es hörte und formulieren konnte.

Vom Algerienkrieg und vom Mai '68 bis zur Wahl Emmanuel Macrons haben Sie unablässig die soziale und politische Lage Frankreichs analysiert. Wie nehmen Sie das politische Klima in Frankreich wahr, ein Jahr vor einer Präsidentschaftswahl mit ungewissem Ausgang?

Wir befinden uns mitten in einem regressiven Prozess, der zusammenhängt mit der Krise der Demokratien, der Auflösung der Linken, der weltweiten Herrschaft des entfesselten Profits, die durch die Pandemie in keiner Weise gestoppt wurde. China ist das erste Modell eines Neototalitarismus, der nicht allein auf Polizei und Denunziation gegründet ist, sondern auch auf eine ständige und in der Zukunft möglicherweise noch weiter ausgebaute Überwachung aller dank neuer Techniken. Ich sehe auch die wachsende Wahrscheinlichkeit ökologischer, sozialer und sogar kriegerischer Katastrophen. Der technisch-wissenschaftliche und ökonomische Fortschritt hat enorm Fahrt aufgenommen, doch hervorgebracht hat er atomare Vernichtung, globale Umweltzerstörung, enorme Zivilisationskrisen. In diesem Rahmen glaube ich, dass Frankreich von einer Spaltung zwischen dem humanistischen Frankreich mit einer offenen Identität und dem fundamentalistischen Frankreich mit einer geschlossenen Identität bedroht ist. Die Lage ist sehr ungewiss. Es ist nicht ausgeschlossen, dass neue Akteure wie das Militär auf der politischen Bühne auftauchen. Man kann weder die Wirtschaft noch den Staat reformieren ohne eine mächtige Bewegung des kollektiven Bewusstseins und die Formulierung eines neuen politischen Weges. Sicher gibt es verstreute oder latente generative und regenerative Kräfte. Doch wie Schwester Anne in Blaubart sehen wir nicht das Rettende am Horizont, sehen wir „nichts als die stäubende Sonne und das grünende Gras“. Was wir hingegen deutlich sehen, ist, dass sich der Graben zwischen dem einen und dem anderen Frankreich vertieft. Die Anschläge verstärken das Sicherheitsproblem – nur präventiv für die einen, nur repressiv für die anderen, obwohl es wichtig wäre, die beiden Praktiken zu kombinieren. Seit kurzem haben die Generäle die politische Bühne betreten, und die Hypothese einer militärischen Intervention im Fall neuer Verschärfungen kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Eine Neubegründung des politischen Denkens ist notwendig, doch die Kräfte der Erneuerung sind verstreut. Ein finales Duell zwischen Macron und Le Pen bei der Präsidentschaftswahl ist nicht sicher, sollte es aber dazu kommen, ist weder ein Sieg des Rassemblement National noch eine Koalition zwischen RN und einem Militärclan ausgeschlossen. Ebenso wenig auszuschließen ist das plötzliche Auftauchen eines Außenseiters, ob Mann oder Frau, der oder die das öffentliche Wohl verkörpert und die Ängste, Erwartungen und Hoffnungen im Guten wie im Schlechten kanalisiert. Aber nebenbei gesagt, es muss gar nicht zum Schlimmsten kommen, und wie manchmal in der Geschichte kann auch das Unwahrscheinliche geschehen. Wie Hölderlin schrieb: „Wo die Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

„Die Covid-Krise“, behaupten Sie, „ist eine konzeptionelle Krise einer Moderne, die auf der Idee gegründet ist, dass es die Bestimmung des Menschen sei, die Natur zu beherrschen und Herr der Welt zu werden.“ Müssen wir also auf unseren ehrgeizigen Wunsch nach Beherrschbarkeit verzichten?

Ich habe diese Krise als eine in der menschlichen Geschichte einmalige, mehrdimensionale Krise erlebt, denn sie berührt jedes Individuum in seinem biologischen, seinem persönlichen, seinem sozialen, seinem Beziehungsleben. Sie berührt auf verschiedene Weise alle Nationen, und vor allem ist es eine Krise der Menschheit, der es nicht gelingt, Menschlichkeit zu erreichen. Die Menschheit kann der Kopilot der Natur werden – das ist der von mir vorgeschlagene „neue Weg“, der zunächst über eine Bewusstwerdung der Herausforderungen und Gefahren führt, vor denen wir stehen. Ich glaube nicht an einen allgemeinen Zusammenbruch der Zivilisationen, sondern eher an diverse Zusammenbrüche und vielerlei Katastrophen. Ich glaube an die Möglichkeit des gemeinsamen Einhergehens einer fantastischen technisch-wissenschaftlichen Zukunft und eines allgemeinen menschlichen Desasters. Beides zeichnet sich bereits ab: Raumschiffe fliegen zu anderen Planeten, das Weltraumteleskop Hubble beobachtet 11 Milliarden Lichtjahre entfernte Objekte; und zugleich erleidet die Masse der Menschheit Ausbeutung, Unterdrückung, Erniedrigung und möglicherweise auch bald einen neuen Totalitarismus. Der zum Übermenschen gewordene „augmented human“ würde sich so zulasten des durch Weitsicht, Wohlwollen und Güte verbesserten Menschen entwickeln. •

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