Edgar Reitz: „Der Akt des gemeinsamen Denkens bekommt plötzlich eine erotische Komponente“
Wie viel des Universalgelehrten steckt in den Filmdialogen? Und was hat es mit der jungen Künstlerin auf sich? Edgar Reitz über die Entstehungsgeschichte seines Films und die Freude am Denken.
Edgar, du nennst deinen neuen Film Leibniz, im Untertitel Chronik eines verschollenen Bildes. Als „Chronik“ hattest du auch jeweils die verschiedenen Teile deiner Heimat-Saga bezeichnet. Ging es dort um episches, expandiertes Erzählen über lange Zeiträume, überrascht Leibniz durch eine knappe Handlung, die innerhalb eines sehr begrenzten Zeitraums an einem einzigen Ort spielt. Wo siehst du dennoch Gemeinsamkeiten zwischen diesen auf den ersten Blick widersprüchlichen dramaturgischen Darstellungsformen?
Unter „Chronik“ verstehe ich nicht so sehr den Inhalt der Geschichte, als vielmehr die filmische Methode. Ich erzähle meine Geschichten seit Heimat, auch in Leibniz, in Zeitsprüngen, die oft durch Zwischentitel klar markiert werden. Chroniken hat es schon immer gegeben, klassisch in Tagebuchform. Das übliche Spielfilmschema orientiert sich jedoch am Drama, also einer Tradition des Theaters. Das Drama mit seinen Gesetzen und Regeln des dramatischen Erzählens, mit Konflikten, Spannungsbögen und Fallhöhen, hat sich zur kommerziellen Regelform des Kinos entwickelt, die ausgehend von der Filmindustrie in den USA weltmarktbeherrschend wurde. Aber genau auf diesem Gebiet fühlte ich mich während meines Lebens als Filmemacher nie zuhause. Das Drama entspricht weder meiner Lebenserfahrung noch meinem erzählerischen Talent, das ich mit Heimat für mich entdeckte und weiterentwickeln konnte. Ich nannte meine Methode das chronikhafte Erzählen, weil dabei das Empfinden für den Lauf der Zeit im Vordergrund steht. Ich nenne alle meine Filme, seit mehr als 40 Jahren im Untertitel „Chronik“. Nach und nach wurde mir klar, dass ich diese Art des Erzählens auf alles anwenden kann, was mich interessierte, auch auf ein Thema wie Leibniz. Die filmische Chronik entsteht dadurch, dass man einer Entwicklung folgt und ihren Weg in erzählerischen Zeitschritten beschreibt. Die Übereinkunft mit den Zuschauern entsteht durch das gemeinsame Erlebnis der Zeit. Im Kino verwandelt sich die Filmzeit sozusagen in Lebenszeit und folgt insofern einem anderen Konsens als das Drama. Das sequentielle Sehen eines Films wird von meinen Zuschauern quasi auf das Leben angewendet.
Trotzdem handelt es sich ja hier, anders als bei der Heimat, um ein reduziertes Erzählen, um ein Kammerspiel. Du hättest nach dem Prinzip der Chronik ja auch Leibniz' gesamtes Leben erzählen können.
Das war auch der ursprüngliche Plan. Ich habe mich in die Biografie des Leibniz jahrelang eingearbeitet. Die ersten Drehbücher, die ich gemeinsam mit Gert Heidenreich geschrieben habe, waren große epische Erzählungen, die sich über lange Strecken des Lebens von Leibniz, aber auch über geografische Räume erstreckten, denn er ist in seinem Leben viel gereist. Keine dieser Versionen ist realisiert worden, und zwar ganz banal aus finanziellen Gründen. Unser erstes Drehbuch wurde auf 25 Millionen Euro kalkuliert, das war für mich als deutschen Autorenfilmer unerreichbar.
Und wie entstand die Idee, das Ganze schließlich auf diese eine Situation zu beschränken?
Es gab in einer von unseren frühen Fassungen eine Anfangsszene, in der man miterlebt, wie Leibniz von einem höfischen Kunstmaler des frühen 17. Jahrhunderts porträtiert werden soll. Es war das Eröffnungsbild für den großen Kostümfilm, in dem wir beschrieben, wie Leibniz im Stil der damaligen Tradition in Öl gemalt werden soll. Während er also Modell steht, entwickelt sich ein Dialog zwischen ihm und dem Maler, und in diesem Dialog konfrontierten wir unseren Philosophen mit der Welt der Künste und sahen, wie er, der Universalgelehrte, zwar vieles von der Welt in Begriffe und Analysen fassen konnte, wie er aber gegenüber der Arbeitsweise der Kunst Verständnismängel zeigt. Das relativierte unseren Geisteshelden und gab uns Anlass, kritisch über seinen Wahrheitsbegriff nachzudenken. Nach mehreren Versuchen brachten wir endlich eine reduzierte, realistisch finanzierbare Fassung zustande, die aus nichts anderem als aus einem abendfüllenden Dialog zwischen dem Philosophen und dem Künstler bestand. Das neue Konzept war zunächst also eine Notlösung, durch die sich aber nebenbei eine wunderbare Lösung vieler dramaturgischen Probleme ergab. Auf einmal spürten wir den Tiefensog, den der neue Erzählansatz entwickelte: Statt in die Breite ging es nun auf den Grund aller Gründe. Und noch etwas erwies sich als Tugend: Ein Kammerspiel lenkt den Fokus auf die Gesichter der Darsteller. Was sich in ihnen ausdrückt und was die Schauspieler mit den Texten machten, das wurde für mich als Regisseur zum eigentlichen filmischen Abenteuer.
Wann wurde denn beschlossen, den Porträtmaler, wie er in dem ursprünglichen Drehbuch vorkam, durch zwei verschiedene Maler zu ersetzen?
Der ursprüngliche Maler war ein erfolgreicher Hofmaler seiner Zeit, womit schon eine Richtung vorgegeben war. Der Dialog zwischen Leibniz und ihm führt nach zehn Minuten zu ernsthaften Zweifeln, ob der Maler überhaupt in der Lage sei, einen so großen Geist mit seinen handwerklichen Mitteln zu erfassen. Die beiden geraten sich sehr schnell in die Haare und trennen sich. Damit wäre der Film über die historische Porträtsitzung schnell zu Ende gewesen. Die Fortsetzung brauchte einen weiteren Malversuch, der neue Erkenntnisse hervorbringt. Die Malerin aus den Niederlanden, die den Hofmaler ablöst, gestattete mir das Wechseln in eine moderne Dimension der Bildgestaltung. Sie formuliert schon in der ersten Sitzung einen Gedanken, mit dem sie Leibniz fasziniert. Sie sagt: „Ich male das Licht.“ Sie malt also nicht Figuren, Linien, Haare und Hauttöne wie die meisten Porträtmaler, sondern für sie ist das Licht der Gegenstand der Malerei. Und damit sind wir sofort in einem absolut filmischen Bereich.
Wir erleben, wie Aaltje van de Meer sich daran macht, Leibniz’ Porträt zu malen, und während das Bildnis bis zum Schluss dem Blick der Kamera und damit uns verborgen bleibt, entsteht dein eigenes, filmisches Leibniz-Porträt Szene für Szene vor unseren Augen. Etwa nach der Hälfte des Films sagt Aaltje: „Was ich nicht weiß, kann ich malen.“ Und Leibniz stutzt. In diesem Moment wird klar, wie sehr Aaltje sich Gedanken gemacht hat über das, was Kunst ist, und wie intensiv sie als Künstlerin versucht, Wahrheit zu finden. Aber man spürt auch, dass Leibniz sie spätestens ab diesem Augenblick nicht nur als Malerin, sondern als ebenbürtige geistige Partnerin respektiert und er von ihr sogar etwas lernen kann. Das macht für mich den Kern des Films aus. War eigentlich von Anfang an klar, aus dem zweiten Maler eine Frau zu machen?
Die Idee, dass der zweite Maler eine Frau sein könnte, war mir zunächst nicht geheuer, denn ich befürchtete, dass wir damit in das Gefilde der allgegenwärtigen Gender-Diskussion geraten. Wochenlang habe ich versucht, bei einer männlichen Figur zu bleiben – bis ich merkte, dass genau das falsch wäre. Die Kunst ist die Wahrheit des Körpers und die Philosophie die Wahrheit des Geistes, und beides zusammenzuführen, ist eine schöne Annäherung an die Weltsicht unseres Helden. Leibniz sucht die Verbindungen von Geist und Materie, den Ausgleich von Gegensätzen. Da erwies sich eine von der Malerinnung ihrer flämischen Heimatstadt abgewiesene Aaltje van de Meer als die interessantere Konstellation. Ihr zuliebe konnten wir noch Reste der Gender-Thematik hinnehmen, wenn Aaltje zunächst in Männerkleidern auftritt und sich erst später als Frau zu erkennen gibt.
Die Frage, was ist die Wahrheit in der Kunst oder was ist die Wahrheit im Bild, ist die zentrale Frage des Films ...
Wenn ich einen Film über Leibniz mache, dann steht über allem die Frage, ob das Bild auf der Leinwand mehr sein kann als nur eine Beschreibung. Kann ein Bild ein Stück vom Wesen des einmaligen, unverwechselbaren Menschen in sich tragen? Kann die Person im Abbild weiterleben? Der Begriff „Persona“ kommt von lateinisch personare, was so viel bedeutet wie „das was durch die Oberfläche hindurch tönt“. Gemeint ist die Maske des Schauspielers oder unsere Mimik, unser Verhalten, durch die unsere eigentliche unverwechselbare Individualität hindurch „hörbar“ wird. Unser äußeres Bild ist eine Maske, hinter der sich die Person verbirgt – oder äußert. Und die Beschreibung dieser Person, das Auftreten der Person Leibniz in meinem Film, erforderte diesen Akt des Personwerdens der Bilder. Und da zeigt die Malerin dem Filmemacher den Weg.
Wie viel vom Dialog beruht denn auf verbürgten Überlieferungen durch Leibniz’ Schriften oder Briefen und wie viel wurde von Gert Heidenreich erfunden?
Im Laufe der jahrelangen Arbeit an dem Projekt sind wir Leibniz-Experten geworden. Gert Heidenreich hat sich im Laufe dieser Jahre in die Zeitgeschichte und die Gedankenwelt eingearbeitet und eine Leibniz-Bibliothek angelegt, aus der er zitieren konnte. Alles, was an Buchveröffentlichungen, Sekundärliteratur und an Kommentaren zu Leibniz verfügbar war, haben wir gesammelt und unsere Freunde jahrelang mit Leibniz-Zitaten traktiert. Gert hat zahllose Auszüge aus den Schriften gemacht, aus denen Fragmente in seine Dialoge gewandert sind. Was mir dabei gefiel ist, dass er den komplizierten Satzbau nicht übernahm und trotzdem die Formulierungen und die Begriffswahl von Leibniz bewahren konnte.
Für die erfundenen Figuren wie Cantor und Aaltje gab es natürlich gar keine Vorlagen zu ihrer Sprache. Die Freundschaft von Leibniz und Charlotte, also der Königin von Preußen, ist belegt; aber der Briefwechsel mit ihr, der umfangreich gewesen sein soll, wurde nach Charlottes Tod von ihrem eifersüchtigen Ehemann Friedrich verbrannt. Ob sein Motiv begründete sexuelle oder intellektuelle Eifersucht war, das sei dahingestellt, denn es war ein törichter Akt der Zerstörung. Aber es gibt den Briefwechsel zwischen Charlotte und ihrer Mutter. Da sind viele Hinweise auf die Beziehung von Leibniz zu Charlotte überliefert. Daraus konnten wir einiges übernehmen, zum Beispiel, dass Charlotte ihrer Mutter in klaren Worten bekennt, wie sehr sie Leibniz verehrt und liebt.
Dennoch bleibt das Verhältnis zwischen Charlotte und Leibniz im Film etwas rätselhaft. Ist das der große Respekt einer Schülerin vor ihrem Lehrer, ist es Schwärmerei? Die Art, wie Charlotte über Leibniz redet, weist auch auf eine erotische Anziehung oder ein – wenn auch vermutlich nur platonisches – Liebesverhältnis hin ...
Wir wollten uns natürlich keinen Spekulationen hingeben. Verbürgt ist, dass Charlotte eine gebildete, hochintelligente Person war, eine der wenigen Frauen ihrer Zeit, die eine begnadete Mathematikerin war, die wirklich die Infinitesimalrechnung, die Leibniz erfunden hat, verstand und beherrschte. Und die beiden gingen, das ist überliefert, oft stundenlang im Park spazieren und unterhielten sich über die Berechnung von Determinanten mit Cofaktoren. Man kann also davon ausgehen, dass Charlotte in ihrer Rolle als Königin intellektuell unterfordert war und sich in ihrem Leben langweilte. Die Hofdamen, mit denen sie sich aus Standesgründen umgeben musste, waren ungebildete, modeverrückte Adelsfräulein. Und Charlotte litt unter der intellektuellen Armut des höfischen Lebens in Berlin, das beklagte sie oft in ihren Briefen an ihre Mutter, Kurfürstin Sophie von Hannover. Von daher war ihre Sehnsucht nach Leibniz auch einfach ein Verlangen nach der persönlichen Gegenwart eines intellektuellen Partners. Im Gespräch mit ihm muss sie sich ungeheuer erlöst im Sinne eines Lebendigseins besonderer Art gefühlt haben. Und aus dieser Kombination seiner belebenden Gegenwart und der Sehnsucht nach Erfüllung im Geiste hat sich in Charlotte etwas an Gefühlen zusammengefunden, das man schon beinahe eine große Liebe nennen kann.
Zu der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Leibniz und Charlotte taugt vielleicht der Satz, den Leibniz im Film zwar zu Aaltje sagt, den aber auch Charlotte sicher oft von ihm hörte: „Wollen wir ein wenig miteinander denken?“
Er will vermutlich wirklich nur mit ihr denken, aber der erotische Unterton ist da, es klingt ja fast wie ein unsittliches Angebot. Oder umgekehrt: Der Akt des gemeinsamen Denkens bekommt plötzlich eine erotische Komponente. Und die gab es tatsächlich. Leibniz hat immer wieder sinngemäß gesagt, das Denken sei die größte Freude, die es gibt. Sich am Denken eines anderen zu beteiligen, hieße demnach, in die höchste Form gemeinsamer Glückseligkeit einzutauchen. Meine Hoffnung bei diesem Film ist, dass sich mein Publikum mit dieser Glückseligkeit ein bisschen anstecken lässt und dass der Kinobesuch so etwas wird wie die Entdeckung des erotischen Denkvergnügens.
Welche Zuschauer wünscht du dir für diesen Film?
Zuschauer, die sind wie wir, die Freude am Denken haben. Und ich bin sicher, dass es davon viel mehr gibt, als die Branche glaubt. In der Filmkunst sehe ich nach wie vor den einzigen großen, gültigen künstlerischen Ausdruck unserer Zeit. Die Filmbranche ahnt zur Zeit meines Erachtens nicht mehr, welches Potenzial das Kino im Bewusstsein der Welt entfalten kann. Ich vertrete unermüdlich und trotz seiner zyklischen Krisen die Meinung, dass das Kino eigentlich noch in seinem Pionier-Stadium steckt und neu erfunden werden muss. Ich wünsche mir für meinen Film ein Publikum, das sich der Freude hingibt, im Kino die Wahrheit hinter den Bildern zu entdecken. •
Das Interview wurde mit freundlicher Genehmigung von Weltkino zur Verfügung gestellt.