Ein kleines Lehrstück in Erkenntnistheorie
In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist die Impfquote relativ niedrig. Liegt das am kulturpsychologischen Erbe der deutschsprachigen Romantik? Das wurde jüngst auf Twitter diskutiert. Heraus kam ein kleines epistemologisches Lehrstück.
„German-speaking Leute, warum?“ Der Tweet, den der Journalist Felix Zimmermann am 11. November 2021 absetzte, klang fast schon ein wenig konsterniert. Zimmermann reagierte damit auf einen anderen Tweet, der kurz zuvor von Mathieu von Rohr, Ressortleiter Ausland beim Spiegel, gepostet wurde. Dieser wiederum enthielt nur ein Wort („This“) und eine darunterliegende Statistik, die mit einer scheinbar klaren Botschaft aufwartete: „German-speaking countries have the highest shares of unvaccinated people in western Europe.“ Und tatsächlich: Den in Rot- und Orangetönen eingefärbten Balken ist zu entnehmen, dass die über 12-jährigen und nicht gegen Covid-19 geimpften Personen in Deutschland, Schweiz und Österreich mit jeweils über 20 Prozent das Ranking deutlich vor Schweden (viertplatziert) anführen. Portugal mit gerade einmal 1,5 Prozent Nicht-Geimpfter bildet das inzwischen ebenso hinreichend bekannte wie bemerkenswerte Schlusslicht.
Seit Beginn der Pandemie gehört die Statistik zur Grundausstattung öffentlicher Corona-Debatten. Die generelle Ungewissheit des Pandemiegeschehens weckt schließlich Bedürfnisse nach Einordnung und Orientierung. Zahlen und Grafiken, Tabellen und Verlaufsdarstellungen suggerieren eine Gewissheit, die an anderer Stelle verloren zu gehen scheint. Was in angeblich objektiven Größen Form gewinnt, wird als Dokument und Ausweis, als Beleg von Eindeutigkeit eingestuft. Gleichwohl erzeugt keine noch so differenziert entfaltete Statistik Evidenz allein aus sich heraus. Im Gegenteil: Sowohl statistische Erhebungen als auch deren Auslegungen sind von jeweils bedingten Perspektiven gekennzeichnet. Denn: Solange ich nicht weiß, was mich an einer Sache interessiert, bin ich auch kaum in der Lage, diese Sache (in Teilen) statistisch zu erfassen. Und liegt eine Statistik erst einmal vor, sind es wiederum spezifische Interessen, die aus dieser Statistik Bedeutungen, Erkenntnisse und schließlich Handlungsempfehlungen ableiten. Oder gleich die ganze Statistik einspannen, um völlig statistikferne Interessen durchzusetzen.
Meta-Beobachtungen
Doch vor allem werden Statistiken durch Deutungen zum Sprechen gebracht. Und da auf Twitter besonders viele Statistiken zirkulieren und besonders viele Menschen sich mit Deutungen einbringen, kommt es auf dieser Plattform zu ebenso regelmäßigen wie ausufernden Statistikinterpretationen. Im Falle der German-speaking-Statistik konnte dies besonders eindrücklich nachvollzogen werden – und die Art und Weise, wie diese Tabelle interpretatorisch verarbeitete wurde, entwickelte sich innerhalb weniger Stunden zu einem kleinen erkenntnistheoretischen Lehrstück – angeheizt durch unter anderem folgende Reaktionen:
„Ich tippe auf die unbehandelte Grundepedemie [sic] von Homöopathie, Waldorf und unerträglicher Arroganz plus latentem oder offenem Rechtsextremismus (Sozialdarwinismus)“, twitterte etwa @HalleVerkehrt. Diese Deutung erfreute sich einiger Popularität, erinnerten doch auch etliche andere User:innen an eine im deutschsprachigen Raum angeblich fatal weit verbreitete Esoterik- und Alternativmedizin-Szene. @Sagredo42 sekundierte schließlich mit Verweis auf historische Dimensionen: „Gleichzeitig Scheu vor ernsthaften Maßnahmen dagegen, wegen schlechter Erfahrung mit diktatorischem Regime. Verständlich, aber unvorteilhaft.“ Der Mediävist Albrecht Hausmann führte hingegen staatssystemische Merkmale ins Feld, indem er daran erinnerte, dass „alle drei Länder besonders föderalistisch organisiert“ seien. Andere fassten sich inhaltlich knapper und begnügten sich mit der Aufzählung von Namen: „Jacobi, Hamann, Schlegel, Fichte, Schelling, Nietzsche, Schopenhauer, Spengler fallen mir spontan ein“ (@publicnomad).
Auffällig war, dass das teils wilde Spekulieren über Ursache zudem von Meta-Beobachtungen begleitet wurde. Konkret handelte es sich dabei um User:innen, die nun ihrerseits versuchten, die Deutungen auf Stichhaltigkeit und Überzeugungskraft zu überprüfen. Eindrücklich demonstrierte dies ein kurzer Disput unter einem Tweet des Publizisten Wolfgang Blau (der die Tabelle ebenfalls postete und mit einem ebenso lapidaren wie herausfordernden "Warum?" versah). @zdoing antwortete auf Blaus Frage mit einer weiteren Grafik, die darlegen sollte, dass in Ländern mit hoher „Anthroposophen-Dichte“ die Impfquote vergleichsweise niedrig sei – suggestiv dargestellt in einer schnurgerade abfallenden Linie, die oben links bei Portugal, Island und Spanien ihren Anfang nimmt und kurz hinter Deutschland und der Schweiz auf der Nulllinie aufschlägt. Auf diese Antwort reagierte Wolfgang Blau schließlich mit dem Foto einer in einem Schlagloch liegenden Katze, versehen mit dem Kommentar „correlation vs. causality“.
Damit war ziemlich genau auf den Punkt gebracht, was sowohl Reiz als auch Problem solcher Deutungsspiralen ausmacht. Reizvoll ist, auf eine scheinbar offenkundige Statistik mit vermeintlich ebenso naheliegenden Erklärungen zu antworten. Diese Erklärungen erreichen für manchen die Qualität von Kausalitäten: Indem man mögliche Gründe anführt, warum etwas in dieser und jener Weise ausfällt, glaubt man, einen festen, bedingenden Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung gefunden zu haben.
Gleichzeitigkeiten und Wechselwirkungen
Tatsächlich aber hat man es in den meisten Fällen mit Korrelationen zu tun. Die angeführten möglichen Gründe „erklären“ das in einer Statistik Dargestellte meist nicht im Sinne einer Verbindung von Ursache und Wirkung. Stattdessen verweisen die angeführten Gründe beispielsweise (zunächst) auf offenkundige Gleichzeitigkeiten: Verhältnismäßig niedrige Impfquoten hier, ein paar Anthroposoph:innen dort, explodierende Infektionszahlen hier, grölende Karnevalist:innen dort usw. Inwiefern es über diese jeweiligen Gleichzeitigkeiten hinausgehende Wechselwirkungen gibt, ist indes regelmäßiger Bestandteil wissenschaftlicher Auseinandersetzungen.
Und ebenso von Twitter-Debatten. Denn immer wieder finden sich Kommentare, die die Bedingungen allzu voreilig – oder zu selbstgewiss – getroffener Interpretationen befragen. So kommentierte etwa der Publizist Oliver Weber einen Tweet von Mathieu von Rohr, in dem dieser seine zuvor gepostete German-speaking-Statistik wie folgt ausdeutete: „Spätfolgen der Deutschen Romantik: Anthroposophie, Homöopathie, Impfgegnertum.“ Weber kommentierte dies nun seinerseits diagnostizierend: „Spätfolgen des deutschen Kulturpsychologisierens“ – und machte damit deutlich, dass die Suggestion von Kausalität einem, so Weber, „zweifelhaften Geltungsanspruch“ folgt: „Man psychologisiert drauf los.“
Die Beweislücke, die der Teufel lässt
Die Schärfe der Einlassung sollte nicht dazu verleiten, ihre erkenntnisbildende Funktion zu übersehen – im Gegenteil: Gerade weil sie das gezeigte Deutungsmuster klar benennt, wird ersichtlich, warum das Twittern von allenfalls möglichen Korrelationen so attraktiv ist. Die Beweislücke, die die Feststellung einer Korrelation zwischen Ursache und Wirkung hinterlässt, kann durch (hobby-)psychologischen Ehrgeiz aufgefüllt werden. Gedeutet wird also unter Zuhilfenahme einer Unterstellung: Individuelle oder kollektive psychische Verfassungen seien ursächlich für darüberhinausgehende Entwicklungen verantwortlich. Es wäre jedoch komplett falsch, daraus zu schließen, dass Mathieu von Rohrs Deutung generell fehlgeleitet wäre.
So auch Oliver Weber: Es gehe gerade „nicht darum, dass die These falsch ist.“ Die These kann – im Gegenteil – sogar absolut zutreffend, ja womöglich sogar hinreichend erklärend sein. Allerdings ergibt sich die Treffgenauigkeit der These nicht aus ihr selbst – ebenso wenig wie Evidenz in einer bloßen Statistik enthalten ist. Was es also in beiden Fällen braucht, ist ein Bewusstmachen der Bedingungen von Erkenntnis. Oder einfacher gesprochen: Tweets, die sich darum bemühen, Deutungsansprüche zu klären – und die somit immer auch kleine Lehrstück in Erkenntnistheorie in actu vorführen. Man kann viel mit und von ihnen lernen! •
Daniel Hornuff lehrt als Professor für Theorie und Praxis der Gestaltung an der Kunsthochschule Kassel. Zuletzt erschien von ihm „Hassbilder“ (Wagenbach, 2020) und „Krass! – Beauty-OPs und Soziale Medien“ (J.B. Metzler, 2021).
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