Existiert die Zeit?
Die Physiker Lee Smolin und Carlo Rovelli arbeiteten viele Jahre zusammen, bevor sie sich über das Wesen von Zeit entzweiten. Smolin zufolge existiert die Zeit wirklich. Laut Rovelli haben wir es mit mehreren Schichten von Zeit zu tun. Ein Dissens, der eine der ältesten Debatten der Metaphysik neu entfacht.
Der Amerikaner Lee Smolin und der Italiener Carlo Rovelli gelten als Gründer der sogenannten Schleifenquantengravitation. Kennengelernt haben sich die beiden Mitte der 1980er-Jahre, ihre gemeinsamen Aufsätze beeinflussten die Wissenschaft nachhaltig. Ausgangspunkt ihres Denkens war dabei ein bekanntes Problem der Physik: Auf der Ebene der Elementarteilchen – beispielsweise Photonen oder Neutronen – scheint die Zeit nicht zu existieren. Auf einer größeren Ebene hingegen schon: Löst man Zucker in einem Glas Wasser auf, ist dies ein irreversibler Prozess. Wie lassen sich diese beiden Beobachtungen miteinander vereinbaren?
Smolin und Rovelli zogen die neuartige These einer „Emergenz der Zeit“ in Betracht. Im Bereich des Bewusstseins wissen wir, was Emergenz bedeutet: Ein einzelnes Neuron denkt nicht. Es bedarf einer komplexen neuronalen Organisation – des Gehirns –, damit Bewusstsein entsteht. In derselben Weise kennen Elementarteilchen keine Zeit. Zeit wäre demnach wie Farbe oder Temperatur eine Eigenschaft, die erst durch eine komplexe Anordnung von Teilchen entsteht. Die These einer Emergenz der Zeit ist elegant und bietet Antworten auf einige der kniffligsten Probleme der Physik. Doch vor wenigen Jahren veröffentlichte Lee Smolin sein ambitioniertes Werk Im Universum der Zeit (DVA, 2014), in dem er diese These verwirft und zu der klassischeren Auffassung zurückkehrt, nach der die Zeit selbst auf der fundamentalsten Ebene existiert. Carlo Rovelli hingegen arbeitete seine ursprüngliche Überzeugung weiter aus: Es gibt nicht nur eine Zeit, sondern Zeitlichkeiten, die mehrere Ebenen bilden. Diese These vertritt er auch in seinem neuen Buch Die Ordnung der Zeit (Rowohlt, 2018). Genug Stoff also für ein kontroverses Gespräch unter Freunden.
Philosophie Magazin: Herr Smolin, Herr Rovelli, wie haben Sie sich kennengelernt?
Lee Smolin: 1986 im kalifornischen Santa Barbara, bei einem Seminar über Quantengravitation. Eine fruchtbare Veranstaltung, aber ich war miserabel gelaunt, weil mich gerade meine Freundin verlassen hatte …
Carlo Rovelli: Ich reiste nach dem Seminar zurück nach Italien, aber wir blieben in Kontakt. Lee schrieb mir einen langen Brief, in dem er alle Schwierigkeiten schilderte, auf die er bei seiner Forschung gestoßen war. Er lud mich ein, nach Yale zu kommen, um bestimmte Punkte zu vertiefen. Kurz vor meinem Abflug trennte sich auch meine Freundin von mir. Ich kam tränenüberströmt an. Als Lee sah, in welchem Zustand ich war, schlug er vor, segeln zu gehen.
Smolin: Als wir auf dem Meer waren, sprachen wir über unser Leben und unsere Träume. Dann verschwand Carlo ein paar Tage, bevor er schließlich in meinem Büro auftauchte. Er legte seinen Wintermantel ab und rief: „Ich habe alle Probleme gelöst!“ Wir mussten trotzdem noch Monate arbeiten, bis wir die Gleichungen unseres Modells explizit formulieren konnten. Das war die Geburtsstunde der Schleifenquantengravitation. Wir gelangten zu einer Formulierung dessen, was man den „kanonischen Ansatz der Quantengravitation“ nennen könnte. Er besagt, dass die Zeit nicht existiert, zumindest nicht auf der fundamentalen Ebene.
Rovelli: Daraus ergibt sich die schwindelerregende Frage: Wie können Gleichungen, die keine zeitliche Variable umfassen, eine Welt beschreiben, die sich verändert? Dieses Problem stand am Anfang unserer gesamten Auseinandersetzung über die Zeit, die wir noch heute führen. Nur bestand zwischen Lee und mir vor 30 Jahren wesentlich mehr Einigkeit als heute.
Smolin: Das stimmt, aber schon damals bereitete mir die Abwesenheit der Zeit in unserem theoretischen Modell Unbehagen. Ich stellte mir auch die Frage, warum die Zeit scheinbar auf der Ebene der Teilchen nicht existiert, dann aber auf einer höheren Ebene entsteht. Im Lauf der Jahre wurden meine Zweifel stärker und schließlich änderte ich meine Perspektive.
Rovelli: Lee hat sich von dem Gedanken, dass die Welt zutiefst atemporal ist, immer weiter entfernt.
Smolin: Aussagen wie „Die Zeit existiert nicht“ oder „Die Zeit entsteht lediglich“ kann ich aus philosophischen Gründen nicht mehr mittragen. Zunächst einmal nehme ich den Gedanken sehr ernst, dass es einen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt. In meinem Verständnis hat dieser Unterschied nicht nur eine lokale Bedeutung, sondern gilt für das gesamte Universum. Das Universum war im Moment des Urknalls nicht dasselbe wie heute. Die Tatsache, dass es sich entwickelt, spricht dafür, dass es eine Geschichte hat. Zum anderen hänge ich sehr an der Kausalität: Eine Ursache A zeitigt eine Wirkung B. Wenn die Kausalität ein Gesetz ist, setzt sie implizit eine Abfolge voraus: Die Wirkung B tritt nach der Ursache A auf. Das sind Gedanken, auf die man schwer verzichten kann.
Rovelli: Ich sehe das Problem folgendermaßen: Das Phänomen „Zeit“ ist komplex, zusammengesetzt aus mehreren Schichten. Eine von ihnen ist mit unserem Gehirn verbunden: Wir spüren in unserem Bewusstsein, wie die Zeit verstreicht. Dann gibt es eine andere Ebene, die auf irreversible Phänomene verweist. Wasser wird kochen, wenn man es in einem Topf auf den Herd stellt: Das ist ein zeitliches Phänomen, aber anderer Art als die Zeit im Inneren unseres Bewusstseins. Und es gibt auf kosmologischer Ebene Veränderungen, die wir auf unserer Ebene weder spüren noch wahrnehmen können. Diese verschiedenen Schichten sind miteinander verbunden, sie sind sedimentiert wie Erdschichten, und wenn man von „Zeit“ im Singular spricht, ist das eine unpräzise Bezeichnung für dieses Gefüge von Schichten. Wenn Sie jemand fragt, wann die ersten menschlichen Siedlungen entstanden sind, stellt er eine unpräzise Frage. Denn was versteht er unter „Siedlung“? Den ersten Weiler, das erste Dorf, die erste Stadt? Die Antwort hängt von der Ebene ab, und meines Erachtens gilt dasselbe für die Zeit.
Smolin: Carlo und ich sind Physiker. Wir lesen beide philosophische Literatur und stehen mit Philosophen im Austausch. Aber wir gehen wie Physiker vor: Wir arbeiten ausgehend von unseren Hypothesen mathematische Modelle aus und versuchen danach zu verstehen, wie sich diese Modelle verhalten. Unsere Reflexionen teilen deshalb einen philosophischen Nährboden: die Lektüre von Gottfried Wilhelm Leibniz.
Rovelli: Lee hat mich sehr dazu ermuntert, Leibniz zu lesen.
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