Frank Steinhofer: „Unser Museum wächst bereits in vielen Köpfen“
Im mexikanischen Regenwald entsteht ein spektakuläres Museum, berichten amerikanische Medien. Nur fallen sie damit auf eine Fiktion des deutschen Schriftstellers Frank Steinhofer herein, der diesen Bau in seinem Roman Das Terrain beschreibt. Wie es dazu kam, beschreibt er im Interview. Dieser Text ist zuerst bei Monopol erschienen.
Frank Steinhofer, in Ihrem Debütroman Das Terrain wird ein Hamburger Architekt beauftragt, ein Museum namens Xinatli im mexikanischen Dschungel zu bauen. Condé Nast Traveller, Hyperallergic, der österreichische Kurier und andere Medien haben berichtet, dass der Bau tatsächlich realisiert wird, Ihre Romanfiguren werden erwähnt, als wären sie keine Fiktion. Auch wird Ihr Roman in den Berichten gar nicht genannt. Fake News? Wie ist es dazu gekommen?
Literatur vermag es, Lebenswirklichkeiten zu fiktionalisieren. Die Frage ist: Kann sie auch eine Fiktion verwirklichen? Aus dem Erzählpanorama des Romans und im Gespräch mit Künstler*innen und Architekt*innen hat sich die Vorstellung eines ökologischen Museums entwickelt, das sich Fragen zu Kunst und Klima widmet. Hier hat die mexikanische Künstlerin Luz C. Pro beratend bei der Konzeption des Museums geholfen, den Namen Xinatli mitentwickelt und angeregt, den Blick auf Kunst des globalen Südens zu erweitern. Im Austausch mit Architekt*innen entsprang die Idee, umweltfreundlichen Lehm statt Beton als Baustoff zu verwenden. Und der deutsche Künstler Michael Sailstorfer, der mit einer mexikanischen Galerie zusammenarbeitet, entwarf die im Buch beschriebene Installation Zwei Bäume, die Eingriffe des Menschen in die Natur thematisiert. Im Prozess entstanden Kunstwerke aus Pilzen bis zu antikapitalistischen Vorstellungen zu Eigentum, in denen Pachamama, unsere Mutter Erde, das Land gehört. Viele Ideen sind in dem Roman eingeflossen und haben sich aus dem Buch heraus ganz anders entwickelt. Wenn man sich Bücher als Pilze vorstellt, dann gibt es keine Beschränkung der Gedanken, sondern nur die Vorstellung eines Rhizoms, das sich weiter verzweigt …
Gut, aber das klingt jetzt ziemlich abstrakt. Wie kam es denn ganz konkret dazu, dass amerikanische Medien eine fiktive Wirklichkeit aus einem bislang nur in Deutschland erschienenen Roman für bare Münzen nahmen?
Am Anfang hatte ich die Idee, dass der Roman ein literarisches Eigenleben entwickelt. Vor der Veröffentlichung des Romans wurden das Setting und die Diskurse des Romans digital erfahrbar gemacht. Die Website von Xinatli ging online und Social-Media-Accounts der Architekten wurden angelegt, wo die ersten Entwürfe zum Museum gezeigt wurden. Es folgten Projektbeschreibungen für die Presse, ein Reader zur Ökologie und vieles mehr. Vor fünf Jahren hat ein Blog aus dem angloamerikanischen Raum angefangen, über ein Projekt des Architekten Viktor Sørless zu berichten …
… eine Hauptfigur des Romans …
Ein zweiter Artikel folgte, es wurde in Deutschland bis China über die Architektur diskutiert. Der Algorithmus von Twitter erhob dann das Museumsprojekt Anfang des Jahres zum „trending tropic“. Es ist eine Art Autopoiesis, wie sie der chilenische Biologe Francisco Varela beschreiben würde: die Selbsterschaffung eines Organismus, der – einmal erschaffen – wächst und sich wandelt. Was ist ein Samen anderes als Licht und Erde, die durch Beziehung verwandelt werden? Was ist dieses Museum anderes als eine Fiktion, die durch die Vorstellung vieler zur Möglichkeit wurde?
War das alles also von Anfang an als Medienstunt geplant?
Nein. Die Idee war es, gemeinsam mit Künstler*innen und Architekt*innen ein fiktives Szenario für unsere digitale Wirklichkeit zu erschaffen. Welche Dynamiken dabei entstehen und welcher Begriff von Wirklichkeit sich dabei entfaltet, ist möglicherweise ein medienkünstlerischer Aspekt des Romans, aber nicht das Ziel. Es ging um soziales Engagement und ökologische Alternativen, wie etwa das Bauen mit Lehm anstatt Beton, dessen Herstellung gewaltige Mengen an Energie und Sand verbraucht. Die Frage ist jetzt nicht mehr, ob dieses Museum existiert, sondern wie es gemeinsam gebaut werden kann, für was es sich einsetzt und in welche Form es erwachsen darf.
Hat es Sie selbst überrascht, welche Ausmaße die Berichterstattung angenommen hat?
Ich glaube schon. Womöglich leben wir in einer Zeit, in der Kommunikation immer mehr in geschlossenen, technischen Kreisläufen stattfindet, unter Abwesenheit von Körpern. Der Wirklichkeitssinn verlagert sich ins Virtuelle. Was macht das mit uns? Der Schriftsteller Gabriel García Márquez hat einmal gesagt, das Leben sei das, woran man sich erinnert, und wie man sich erinnert, es zu erzählen. Für mich ist die Trennung zwischen Fiktion und Realität bei Xinatli nicht mehr das Entscheidende, sondern dass Fiktion zu einer Art Baustoff wurde. Um es so zu beschreiben: Für das Berliner Humboldt Forum wurden mehr als 100.000 Kubikmeter starrer Beton verwendet und über eine halbe Milliarde an Baugeld verschlungen. Bei dem Museum Xinatli wurde vor allem ein Baustoff eingesetzt: Fantasie. Und das ohne einen kapitalistischen Impuls. Xinatli ist jetzt in der Welt und wandelt sich. Viele Ideen stehen im Raum: ein Entwurf aus Sicht von Kindern, die Produktionsförderung nicht-westlicher Künstlerinnen und Personen, die struktureller Ungerechtigkeit ausgesetzt sind, eine Anthologie zur Kosmovision von pueblos originarios, ortsgebundenen Gemeinschaften, Aktivismus gegen Ökozide, der für einzelne Personen lebensbedrohlich wird. Es ist eine Einladung, eine Entität mitzugestalten, die ein Gegenentwurf sein kann zu den meines Erachtens kapitalistischen Museen wie dem Humboldt Forum.
Inwiefern ist das Humboldt Forum kapitalistisch?
Anders formuliert: Es geht bei diesem Modell von Museum um eine Verwertungslogik. Die Museumsstifterin in dem Roman findet, dass Museen wie etwa das Humboldt Forum vornehmlich Macht und Besitz ausstellen. Sie wirft die Fragen auf: Sollte ein Museum im 21. Jahrhundert eine weitere Vitrine dafür sein oder sich mehr für soziale und ökologische Belange einsetzen? Ist ökologisches Handeln ohne dekolonialisiertes Denken nur Gartenarbeit? Mir ist es ein Anliegen, über die westliche Trennung zwischen Kultur und Natur zu sprechen, die tief durch unsere Existenz schneidet. Kultur hier und Natur dort, das begründet Ausschluss. Wir brauchen nicht erst in die Natur zu gehen, wir sind bereits Natur, als lebendige Körper von Geburt an eingewoben in diese Welt, die kein Äußerliches kennt. Die Museumsgründerin bringt also in dem Buch nicht Kultur in den Regenwald, sondern inspiriert sich am lebendigsten Ort, der in dieser Welt existiert, um ein anderes Naturverständnis auszuloten.
Für den Topos "Ich bringe Kultur in den Regenwald" gibt es ja gerade in Deutschland einige Vorbilder, Werner Herzogs Fitzcarraldo etwa, Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt, und Christoph Schlingensief hat Richard Wagners Der fliegende Holländer im Teatro Amazonas inszeniert …
Genau diese Vorstellung wird in dem Roman gegen den Strich gebürstet. Das Buch handelt von einer mexikanischen Frau, die scharfe Kritikerin des westlichen Denkens ist, gerade weil es die Trennung von Kultur und Natur heraufbeschwört. Im Verständnis der Kunstsammlerin beruht alles auf Gegenseitigkeit, nichts auf Überlegenheit. Für sie bedeutet Leben Mitleben, und wo wäre dieses Prinzip besser erfahrbar als an der Grenze zum Urwald. Auf einem Areal, das zuvor von illegaler Abholzung durch Viehfarmer betroffen war – und jetzt wieder aufgeforstet wird. Ich empfinde die Idee eines sterilen White Cube absurd, weil dort räumlich eine Hierarchisierung praktiziert wird.
Wozu brauchen wir überhaupt noch Kunst und Museen?
Das ist eine offene Frage des Projektes und Teil einer gemeinsamen Aushandlung. Am Ende kann die Auflösung von Kultur und Natur stehen, kollektivere Zugänge zu Wissen, auch durch Gefühl und Intuition, und eine Kunst, die auf unser Zusammenleben hinwirkt. Ich finde Stimmen wie die argentinische Feministin Rita Segato inspirierend oder den kolumbianischen Anthropologen Arturo Escobar. Sie weisen darauf hin, dass die rationale, westliche Weltsicht, einem mitfühlenden Bezug zur Welt im Wege steht. Die Fülle der Wirklichkeit durch das Nadelöhr der Rationalität zu ziehen, darin wurzele abendländisches Denken. Das kann ich nachvollziehen, ich bin damit aufgewachsen. Größtenteils wurde dieses Denken von weißen Männern geprägt und kann als geschichtliche Verewigungsarbeit gelesen werden, die eigene Erkenntnisperspektive als fortschrittlich oder allgemeingültig zu markieren.
Jetzt haben Sie selbst als weißer Mann dieses Buch geschrieben. Wie kommen Sie aus dieser Perspektive heraus?
Der Roman handelt von einem westlichen Mann, der versucht, eine beherrschende Art zu denken, zu lieben und zu leben hinter sich zu lassen, um einen Zärtlichkeitsbund mit der Welt einzugehen. Von da aus starte ich und komme als westlicher Mann aus der Position, die einer großen Sensibilität im Umgang mit anderen Kulturen bedarf. Ich trage für das Projekt die Verantwortung, auch wenn es mit weiteren Personen entwickelt wurde. Wie sieht unsere Welt aus? Sie ist geprägt vom Kolonialismus, der sich fortsetzt, von Rassismus, der unsere Gesellschaften kaputtmacht. In meinem Umfeld sehe ich Menschen, die mit ihrem Aktivismus auf Mauern statt offene Ohren stoßen. Wie kann ich, der als weißer Mann Teil einer Dominanzgeschichte ist, nicht am Seitenrand stehen, sondern helfen, den gemeinsamen Kampf um Gerechtigkeit mitvoranzubringen und Übergänge zu ermöglichen?
Ja, wie?
Ich glaube, indem ich versuche, mein eigenes Denken zu hinterfragen, Fehler eingestehe und Raum für andere Positionen mache, die dazu beitragen, unsere Gesellschaften besser zu machen. Der Klimawandel schreitet voran, die Erde brennt und überall herrscht Ungerechtigkeit. Der Kunstmarkt aber ist weiter auf Wachstum gepolt und diskriminiert weibliche, Schwarze und nicht-westliche Positionen. Der Geniekult mag verblichen sein, der Größenwahn ist es nicht, wie der Kunstkritiker Hanno Rauterberg schreibt. Manche Kunstwerke wären gerne nachhaltig, aber eher in einem Sinne: Sie zielen darauf ab, auf alle Zeit in Museen verwahrt und bewundert zu werden. Ich würde mir mehr Positionen wünschen, die zu größerer Solidarität zwischen allen Spezies einladen. Mehr Mut zu Animismus, denn alles folgt innerer Bedeutung. Auch Bäume machen sich Vorstellungen von der Welt. Manchmal frage ich mich, ob der westliche Kunstbetrieb eher am Leben interessiert ist oder an seiner eigenen Entfremdung? Bei Xinatli können sich Perspektiven auftun, die in Diskursen mitunter zu kurz kommen.
Wie kann man sich diesen Perspektivwechsel konkret vorstellen? Sie haben Interviews geführt und von Kreativen Dinge entwerfen lassen. Anderseits erzählt der Roman ganz linear eine Geschichte.
Ich sehe den Prozess als Pendelbewegung. Mein Roman ist nur ein Bestandteil, der für mehr Gegenseitigkeit eintreten möchte. Der andere Bestandteil, ist die eigenständige Entwicklung eines Museums, das Künstler*innen und Architekt*innen mitgestaltet haben. Manche haben Passagen des Romans gelesen, andere nicht. Ich gebe meine Urheberschaft ab, damit ganz andere Perspektiven zum Vorschein kommen. Das Ergebnis ist offen: Xinatli bedeutet in der Nahua-Sprache ein Samen, der in eine lebensspendende Form aufgeht.
Steht am Ende also ein Museum, das tatsächlich gebaut wird? Oder bleibt es in digitaler Form?
Menschen sind dazu eingeladen, sich an dieser Überlegung zu beteiligen. Ich möchte stärker zurücktreten und jetzt die Finanzierung von künstlerischen Positionen organisieren. Vor allem aus Mexiko, ein Land für das ich große Liebe empfinde und in dem ich nach wie vor lebe. Vielleicht steht am Ende auch eine Schule. Wenn das Museum zu einer Plattform erwächst, kann es ein Beitrag zu aktuellen Debatten sein.
Wen sprechen Sie an für die Finanzierung?
Gerade arbeiten wir an der Satzung eines gemeinnützigen Vereins, um den organisatorischen Rahmen zu bilden, zeitgenössische Kunst im globalen Süden zu fördern. Ich spreche mit Stiftungen, privaten Spendern und werbe für eine Zusammenarbeit und die Idee. Das Museum ist in der Welt und wächst bereits in vielen Köpfen. Aus Literatur, Kunst und der Vorstellung vieler ist Möglichkeit entstanden. Die Frage ist jetzt: Wie weit kann sie noch tragen? •
Frank Steinhofer arbeitet seit 2016 als freier Autor für den „Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“. Seine Reportagen von Mexiko bis in den Kongo handeln von ungewöhnlichen Orten und Menschen. Zuvor war er sieben Jahr Mitglied der Chefredaktion des Kunstmagazins „Dare“. Er lebt in Mexiko-Stadt und Hamburg. „Das Terrain“ ist sein Romandebüt.
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