Das sehr schmutzige T-Wort
2019 hat der Künstler Saâdane Afif eine Basecap mit dem simplen Aufdruck „Tourist“ geschaffen. Dieses Accessoire hält die existentiellste Erfahrung unserer Gegenwart bereit – gerade jetzt in der Urlaubszeit. Dieser Text ist zuerst bei Monopol erschienen.
Die Sonne brennt, die Nase wird rot, und mit zugekniffenen Augen stehen wir an den Attraktionen unserer Destinationen. Wer jetzt keine Baseballkappe trägt, kann sich überall eine kaufen. An allen Souvenirständen, in allen Airports, Kaufhäusern, Fashion-Shops, Museen und Bahnhöfen dieser Welt sind sie für wenig Geld zu haben. Meist prangt ein Orts- oder Markenname darauf und macht den Reisenden schnell zum Untertanen von Venice, Vienna, Titleist oder Leberkas-Peppi. Bis Saâdane Afif kam und den Spieß gründlich umdrehte. Nix mehr Venice!
Der in Berlin lebende, mit dem Marcel-Duchamp-Preis ausgezeichnete Künstler schuf eine Basecap aus dunklem Cord mit orangen Schriftzug, die einfach nur „Tourist“ sagt. Huch, könnte man meinen, ist das nicht ein sehr schmutziges Wort? Damit soll man herumlaufen? Ja, unbedingt! Das Design hält durch seine alltagspraktische Anwendbarkeit eine wichtige Erfahrung bereit, die wahrscheinlich nur große Kunst noch bieten kann.
Diese Mütze ist französische Philosophie
Saâdane Afifs Schirmmütze geht auf seine Kollaboration mit dem Berliner Modelabel Starstyling zurück. Die Kollektion stammt bereits aus dem Jahr 2019 und nennt sich „Solid Figures“. Sie wird komplettiert durch einen „Tourist“-Hoodie und eine passende Bauchtasche. Die Basecap aber ist das centerpiece und kann bei Starstyling für 59 Euro im Online-Shop bestellt werden. Nur um das Haupt zu bedecken, ist dieser Preis vielleicht ein bisschen hoch gegriffen, mögen manche mäkeln. Aber diese Kappe ist mehr als ein Sonnenschutz oder Perückenersatz. Sie ist – Achtung Spoiler – zeitgenössische französische Philosophie.
Auch ist sie womöglich die Krone unter den Künstler-Cappys, von denen es nicht unbedingt viele, aber doch einige Klassiker gibt. Die Künstlerin Monica Bonvicini beispielsweise schuf für ihre Ausstellung 2018 bei der Galerie König eine Edition von Basecaps in mehreren Farben, auf denen in dick gestickten Lettern das englische Wort „Guilt“ prangte. „Schuld“ also, ein in gegenwärtigen Diskursen um Geschlechtergerechtigkeit, Kolonialgeschichte oder Klimapolitik oft eingesetztes Wort, das triggern kann und als Vorwurf toxisch zurückgespielt wird. Schuld sind immer die Anderen, sogar die Opfer.
Der Weg zur einfachen Idee führt über Umwege
Wer Bonvicinis aufgeladene Kappe aufsetzt, dessen Kopf fühlt sich zehn Kilo schwerer an. Fast so massiv wie die goldenen, an die Kette gelegten Skulpturen, die die Künstlerin für ihre damalige Ausstellung schuf. So viel Druck auf dem Kopf. Saâdane Afif macht es anders. Seine Idee scheint leichtfüßiger daherzukommen, hatte aber auch eine kompliziertere Genese: Durch den französischen Schriftsteller Thomas Clerc kam er darauf, nachdem er einen Text zu Absurdität und Abstraktion bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Dies zeigt einmal mehr, dass der Weg zum Einfachen oft über Umwege führt.
Wer dann aber mit der Selbstbezichtigung „Tourist“ durch Urlaube und Alltag stolpert, kann seltsame Momente erleben. Die Kappe irritiert viele, ob Kellner, Mitreisende im Zug, Kinder oder die Passkontrollettis am Airport. Viele schauen einen zweimal an. Irgendwas scheint anders zu sein.Es geht nur um die Verdrehung des Althergebrachten
Das Konzeptuelle der Kappe tritt dabei vollkommen in den Hintergrund, es geht bei diesem Kleidungsstück mal ausnahmsweise nicht um Coolness, nicht um Prestige. Es geht nur um die Verdrehung des Althergebrachten, um die Revolution der Gewohnheit, die unbemerkt bereits überall vollzogen ist. Die Kappe legt es offen, sie sagt: „Tourist“ ist unter euch, mit euch, für euch, aber eben nur „Tourist“, beschränkt haftbar, nicht verantwortlich und nicht zur Verantwortung zu ziehen, ohne eine ortsspezifische Identität.
Der Müll auf euren Straßen, die Unbezahlbarkeit eurer Städte, die elende Leere des Winters und die kaum auszuhaltende Überfüllung des Sommers – das ist „Tourist“. Zeigt mit dem Finger darauf, liebt es, hasst es, verbietet es, lockt es an. „Tourist“ ist flüchtig, allgegenwärtig, gerade erst angekommen und praktisch wieder auf dem Sprung zum nächsten Ort. Nicht nur Venedig oder Algarve, sondern immer und überall.
Vor 30 Jahren noch hatte die Kulturwissenschaft unter der großen Anstrengung der teilnehmenden Beobachtung eine Gesetzmäßigkeit des Reisens herausgearbeitet: Wo Touristen sind, da ist es schön. Die Erkenntnis mussten die Einheimischen erst einmal verinnerlichen. Dass es in ihren Arbeitervierteln, Hafenanlagen, auf ihren Friedhöfen und Parks plötzlich schön sein sollte. Nicht, weil die Ästhetik des Ortes es vorgab, sondern weil die schlichte und massenhafte Gegenwart von Reisenden es anzeigte.
Die einzige erträgliche Lebensform unserer Zeit
Nun aber gilt ein anderer Satz: Der „Tourist“ ist schön, weil seine Existenzform die einzige aushaltbare Lebensform unserer Zeit ist. Es ist nicht mehr der traumhafte, besondere Ort, der ist immer zerstör- und austauschbar. „Tourist“ bedeutet, durch Unzugehörigkeit und die unbedingte Hingabe, in der Fremde jeden Preis für Unterkunft und ein Mortadella-Mozzarella-Pistaziencreme-Brötchen zu bezahlen, zu einer Macht zu werden, die man am Heimatort nie sein kann.
„Tourist“ kennt alle Sehenswürdigkeiten, kauft alle Spezialitäten, hört alle Lieder und zahlt jede City-Tax, aber „Tourist“ ist wie der Wind. Seine Flüchtigkeit wie auch sein ständiger Verweis auf diese ist seine Waffe.•