Frieden durch föderale Selbstbestimmung
Der Krieg in der Ukraine stellt für die deutsche Außenpolitik eine Zeitenwende dar. Dass dies jedoch zu militärischer Aufrüstung führt, ist eine vertane Chance. Es wäre Zeit, die Idee von Nationalstaaten als Friedensversicherung zu verabschieden.
Seit Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffs der Russischen Föderation auf den Nachbarstaat Ukraine spricht man in Deutschland von einer außenpolitischen „Zeitenwende“. Tatsächlich aber hat das Bekenntnis zu mehr militärischer Wehrhaftigkeit herzlich wenig mit einem grundsätzlichen Sinneswandel zu tun. Ein solcher wäre erst dann zu verzeichnen, wenn sich politische Entscheider von der Idee verabschiedeten, robuste Nationalstaaten seien ein verlässlicher Friedensgarant. In der Praxis erweisen sie sich nämlich häufig als unkalkulierbare Zeitbomben.
Das hat historische Gründe. Einer ist der Zerfall von Imperien, die nach Selbstbestimmung verlangende Nationen unterdrückten. Beispiele sind das Osmanische Reich und die Sowjetunion. Aus der Konkursmasse dieser Vielvölkergebilde ging eine Vielzahl neuer Nationalstaaten hervor, in denen sich wiederum ethnische und religiöse Minderheiten um ihr Recht auf Selbstbestimmung gebracht sahen.
Zugespitzt könnte man sagen: Aus einigen wenigen großen „Völkergefängnissen“ wurden immer wieder viele kleine. Hier waren Konflikte ebenso vorprogrammiert wie bei jenen Nationalstaaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus antikolonialen Befreiungsbewegungen hervorgegangen waren. Denn die von den Kolonialmächten quer durch ethnische und religiöse Kommunikations- und Solidargemeinschaften gezogenen Grenzen wurden dabei beibehalten.
Die Kraft lokaler Gemeinschaften
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Einfache Registrierung per E-Mail
- Im Printabo inklusive
Hier registrieren
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Der europäische Krieg
Für Étienne Balibar führt die Ukraine einen gerechten Verteidigungskrieg. Er warnt jedoch davor, ihn durch Russophobie und Militarisierung anzuheizen. Europa sollte sich darauf konzentrieren, Geflüchtete aufzunehmen, und anerkennen, dass die Ukraine demografisch bereits Teil der EU ist.

Wider die militarisierte Demokratie
Die von der Ampelkoalition angekündigte Aufrüstung Deutschlands ist ein historischer Fehler, meint Daniel Loick. Denn eine militarisierte Demokratie sei die Keimzelle für Autokratien. Mit Rosa Luxemburg setzt der Philosoph auf einen Frieden von unten.

Das Ende der Hyperrealität?
Die Kriegserfahrung durchbricht die spätmodernen Zeichenspiele. Im Realitätsschock liegt die Chance auf echten Frieden. Hierzulande jedoch droht eine Irrealisierung des Geschehens durch die Medien. Ein Beitrag von Theresa Schouwink, Redakteurin des Philosophie Magazins.

Ein neues Gottes*bild?
Die Katholische Studierenden Jugend (KSJ) will Gott von nun an mit Gendersternchen schreiben, um sich von Vorstellungen eines „alten, weißen, strafenden Mannes“ zu verabschieden. Theologisch rennt sie damit eigentlich offene Türen ein. Dennoch birgt ein Do-It-Yourself-Glauben auch Probleme.

Im Kopf von Putin
Politischer Konservatismus, die Betonung eines „russischen Wegs“ und eurasische Reichsfantasien bestimmen die Außenpolitik der Ära Putin. In seinem Essay aus dem Jahr des Ostukraine-Einmarschs (2014) versucht Michel Eltchaninoff das Denken des Machthabers ideengeschichtlich zu entschlüsseln.

Putins Postmoderne
Um sich gegen Anschuldigungen aus dem Westen zu schützen, nutzt die russische Außenpolitik oft die Ironie. Damit verkehrt sie das zentrale Merkmal der rhetorischen Figur ins exakte Gegenteil
Die Ukraine existiert jeden Tag mehr
Georges Nivat ist einer der bedeutendsten Slawisten Frankreichs. Seit Ausbruch des Ukrainekrieges führt er ein Tagebuch, in dem er den Konflikt durch die Brille der russischsprachigen Geschichte und Literatur betrachtet. So treten die Absurdität eines Brudermordkonflikts, aber auch die eigene Identität der Ukraine deutlich hervor.

In Putins Kopf
Wladimir Putin zitiert gerne russische Denker des 19. und 20. Jahrhunderts, um seine imperialistische Außenpolitik zu legitimieren. Theresa Schouwink und Michel Eltchaninoff, Redakteure des Philosophie Magazins, werfen einen Blick auf die philosophischen Einflüsse seines Programms.
