Große Erwartungen
Es gibt viele Gründe, das Pandemiemanagement zur kritisieren. Doch speist sich die Frustration über die aktuelle Lage auch aus einem viel grundsätzlicheren Phänomen: der permanenten Verschiebung gesellschaftlicher Erwartungshaltungen.
Seit nunmehr einem Jahr ist die Pandemie im Land, doch ob man heute klüger mit ihr fertig wird als vor Monaten, das lässt sich schwerlich sagen. Und das ist umso ärgerlicher, weil es im Lauf dieses Corona-Jahres Zeiten gab, da man das so hoffnungsvoll glaubte. Nach dem Motto: Wo die Infektionskurve einmal erfolgreich gedrückt wurde, steigt unablässig die Lernkurve. Doch erfolgten im Pandemie-Management dann immer wieder Rückschläge. Aktuell liegt die bundesweite 7-Tage-Inzidenz bei über 160. Und das obwohl die Voraussetzungen derzeit eigentlich so viel besser sind: Immerhin ist das Wissen zur medizinischen Versorgung heute so viel reicher als zu Anfang, die Forschung weiß viel mehr über die Verbreitung von Aerosolen und auch die Schutzmaßnahmen wurden immer ausgefeilter.
So nachvollziehbar Kritik am politischen Corona-Management deshalb ist, liegt ein Grund für die wachsende Frustration über die pandemische Lage jedoch auch in einem anderen, viel grundsätzlicherem Phänomen: der permanenten Verschiebung gesellschaftlicher Erwartungshaltungen. So zielen die ursprünglichen Überlegungen des Krisenregimes ja darauf, dass Menschen sich eine (un-)gewisse Zeit fast schon wie „durchorganisierte Apparate“ in die politischen Beschlüsse einfügen. Die Idee dahinter besagt, dass die Bewältigung der Krise im Grunde nur eine Frage der Disziplin ist. Mit viel Verzicht, Strenge und Abstand scheint es möglich, „die Welle zu brechen“ und das Virus quasi auszutrocknen. Das mochte den einen als weltfremd, anderen als pragmatisch erscheinen. Oder auch: beides zugleich. Doch kam schon bald das trügerische Versprechen einer nahenden Rettung durch die geschaffenen Impfstoffe auf. Hatte man zunächst gar nicht erwartet, einen solchen rasch entwickeln zu können, regte seine eilige Produktion allerlei Fantasien an, wie schnell die Welt erlöst werden könne.
Wie die Haut einer Tasse Milch
Anfänglich aber hielt man es lieber mit konservativen Prognosen. Bis Ende 2021, eher noch bis 2022 werde geimpft, hieß es etwa hierzulande. Darauf folgten wiederum deutlich optimistischere Einschätzungen, die teils bereits den Frühling als Schlussspurt sahen, nur um kurz darauf vom schleppenden Impfmanagement enttäuscht zu werden, was die abermalige Anpassung bis zum Spätsommer oder Herbst erforderlich machte. Ganz klar: Solche Kapriolen provozieren eine schleichende Abstumpfung der Erwartungen. Zugleich ist zu sehen, wie die Politik eben diese an sie gerichteten Erwartungen immer wieder mit nächsten Versprechungen zu besänftigen sucht, was das Wechselspiel aus Erwartung und Enttäuschung weiter anheizt. Doch kann die Politik darauf eben auch kaum verzichten, legte man ihr das doch sonst als Schwäche und Mutlosigkeit, ja womöglich sogar als Resignation vor dem Virus aus. Zwischen logistischen Realitäten und öffentlichem Meinungsdruck müssen dementsprechend laufend neue Kompromisse errungen werden. Oft mit dem Risiko, wieder zu viel und zu wenig, also irgendwie alles und nichts gesagt zu haben. Gibt man den kleinen Finger, wird gleich die ganze Hand gezogen. Statt klarem Erwartungsmanagement hat man es eher mit einer Erwartungsspirale zu tun.
Müsste nicht gerade diese Gesellschaft es so viel besser können? Sie ist es, die Verwaltung und Management auf ein Höchstmaß gebracht hat. Kaum ein Platz in dieser Welt scheint unberührt von Regelwerken und Methoden. Wäre es da zu viel verlangt, ein virales Übel aus dem Mikrokosmos mit modernen Mitteln zu schlagen? Wenn man so fragt, muss man jedoch ebenso fragen, wer die Rechnung dafür zahlt. Die arbeitsteilig eingerichtete, moderne Gesellschaft scheint für jedes Problem eine Lösung zu haben, aber eben nur, solange die Probleme sich an den verfügbaren Vorrat an Lösungen halten. Die Pandemie offenbart deshalb abermals eine erschreckend banale Erkenntnis: In Schönwetterzeiten ist an alles gedacht, beim schnellen Durchgriff in der Krise droht hingegen Konfusion. Man könnte die Gesellschaft deshalb mit der feinen Haut einer heißen Tasse Milch vergleichen. Erst einmal erscheint alles sauber, glatt und elastisch. Doch zu viel Unruhe lässt die dünne Struktur schnell einreißen.
Mehr als seichte Utopie
Die Gesellschaft ist im Grunde für jene Krisen gemacht, die als Nebenfolgen aus ihren eigenen sozialen Systemen hervorgehen. Man erinnere sich an die Finanz- oder Griechenlandkrise. Notfallprojekte, die letztlich über Gesetzespakete und Verpflichtungsverträge geregelt werden konnten. Selbst die Flüchtlingskrise – bereits deutlich problematischer mit natürlich-ökologischen Nöten verbunden – ließ sich, zumindest vorübergehend, noch mit „gutem Willen“ betroffener Staaten überstehen. Wie im Versicherungsfall einer Schadensregulierung bemüht sich die Politik, die unerwünschten Nebenfolgen moderner Differenzierung zu bewältigen. Weit weniger gelingt das in Nöten, die die Gesellschaft aus der natürlichen Umwelt regelrecht überfallen. Kalamitäten, also naturhafte Gefahr und Zerstörung aus der nicht direkt sozialen Welt, belasten den sozialen Betriebsablauf wesentlich härter. Auch werden die unmittelbaren Folgen tendenziell drastischer sichtbar: der Bergamoschock – ein Leichenzug aus Lastwagen. Die Konsequenz daraus: die Reaktionsmuster werden hilfsweise auf die individuelle Ebene delegiert. Dem Einzelnen werden hierdurch „Verorganisierungen“ seines Verhaltens abgefordert und er wird dadurch zum Teil auch überfordert.
Was bedeutet das für Krisenmanagement? Erstens sollte die Politik darauf achten, dass ihre Entscheidungen sozialverträglich bleiben. Wie keine Lage zuvor hat diese Krise gezeigt: Ob und wie soviel Entbehrung und des Zurücknehmens ausgehalten wird, richtet sich maßgeblich nach den sozio-ökonomischen Verhältnissen. Ob Kinderbetreuung, Homeoffice oder Entfaltungsraum für benötigte Entspannung – fast alles hängt an finanziellen und wohnlichen Verhältnissen. Zweitens muss überlegt werden, wie die gegenwärtigen Erfahrungen sich langfristig rechnen könnten. Anregungen zur human orientierten Flexibilisierung der Arbeitswelt und zur Vereinbarkeit von Arbeiten, Lernen und Leben liegen viele auf dem Tisch. Betriebe, Universitäten und Schulen haben ihre Lernkurve durchlaufen; die einen mehr, die anderen üben noch.
Wenn die akuten Maßnahmen in nicht allzu ferner Zeit abgebaut werden, wird die Phase der Post-Corona-Politik beginnen. Mit Elan und zukunftsgewandtem Blick wird es möglich, diese Zeit des „Wiederaufbaus“ produktiv zu gestalten, Projekte zur Optimierung der organisatorischen Fähigkeiten und zur Sicherung sozialer Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu lancieren, um insgesamt aus der Krise nach und nach neu gefestigt hervorzugehen. Das muss nicht seichte Utopie bleiben, es kann vielmehr die motivierende Leitlinie einer progressiven Politik werden, um die sehr hohen Kosten durch ertragreiche Reformen zu kompensieren. Ganz sicher darf man sich hier ein wenig an Roman Herzog erinnern: Es muss ein „Ruck“ durch Deutschland gehen. Wieder steht man dann vor der Herausforderung, mit den vielen Erwartungen „haushalten“ zu können. Denn viele Zukunftsprojekte der Gesellschaft werden in die Zeit gehen. Bekanntlich ist es aber die schlechteste Lösung, sie deshalb nicht oder nicht beherzt genug anzugehen – zuweilen aber auch: die verführerischste. •
Marcel Schütz ist Organisationsforscher an der Universität Oldenburg. Er lehrt zudem Personal- und Projektmanagement an der Northern Business School Hamburg sowie Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld.
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