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Bild: Lennon Cheng (Unsplash)

Lesenotiz

Grundsteine bergen und Karten legen

Jakob Hoffmann veröffentlicht am 16 Dezember 2025 12 min

Um die gegenwärtige Critical Theory steht es nicht besser als um die politische Linke, deren Schwächen nicht selten für den Aufstieg der Rechten verantwortlich gemacht werden. Statt abstrakter Konzepte und aktivistischer Theoriebildung brauche es intensive theoretische Reflexionen, meint Jakob Hoffmann. Kann Alex Struwes jüngstes Buch Totalität diese leisten?
 

Wer aktuelle kritische TheoretikerInnen liest, ihre Vorträge hört und Konferenzen besucht, bekommt das Gefühl, dass „etwas fehlt”. Publikationen werden im Rhythmus der akademisch-betrieblichen Schlagzahl auf den Markt gebracht, ordnen auftretende Krisenerscheinungen ein und erfreuen sich dabei wachsender Resonanz. Doch signifikanter begrifflicher Fortschritt und eine spürbar progressive politische Wirkung bleiben bislang aus. Critical Theory ist akademisch enorm verkehrstüchtig, aber weitgehend von den historischen und konkreten Erfahrungen der WORTSCHÖPFER, insbesondere Reflexion linken Scheiterns und gesellschaftlicher Selbstzerstörungstendenzen wie dem Antisemitismus, entkernt. 

Formalistisch und abstrakt versuchen sich beispielsweise Rahel Jaeggis Begriffe von Fortschritt und Regression – formal plausibel, aber inhaltsleer und politisch folglos –, Martin Saars unspezifisch und postmodern geprägter Machtbegriff oder Daniel Loicks akademisch transponierte Identitätspolitik als Affirmation von Gegengemeinschaften qua deren antihegemonialer Stellung nicht an der Konstruktion substantieller Maßstäbe am konkreten Gegenstand. Weder den gängigen Krisen und individuellen Katastrophen des vermeintlichen Normalzustands noch dessen autoritärem Rückbau hat die angesagte Critical Theory analytisch viel entgegenzusetzen. Mit besten Intentionen und in kritischem Gestus untergraben sie eher die begriffliche Grundlage von Herrschafts- und Gesellschaftskritik. 

 

Konzeptuelle Ebbe

 

Auch politisch findet sie kaum einen tragfähigen Adressaten, was wiederum zu den Gründen theoretischer Regression gezählt werden kann. Der „hyperpolitische” Zeitgeist weitgehend konsequenzloser massenpolitischer Mobilisierung setzt sich so nicht nur auf den Straßen, sondern auch auf dem Feld theoretischer Arbeit fort. Damit wird auch derjenige Bereich vom „grundlegenden Gefühl der Atemlosigkeit” (Anton Jäger) erfasst, der doch die Möglichkeit und Aufgabe hätte, dieses zu durchbrechen. Das an die Schwächung linker Kräfte und die Regression liberaler Institutionen gekoppelte Schwinden der Fähigkeit, gesellschaftliche Wirklichkeit begrifflich zu bestimmen, hat Russell Jacoby bereits 1987 polemisch als einen „tendenziellen Fall der Vernunftrate” benannt. Die „politische wie intellektuelle Umbruchsphase”, von der Ramzig Keucheyan 2010 in seiner Kartografie kritischer Intellektueller euphemistisch schreibt, hat sich zur handfesten Krise entwickelt, deren Ausmaß nun auch in Medien, die radikal-linker Selbstkritik unverdächtig sind, erkannt wird. Das „Kernproblem” der Linken – „ihr Ideenfundus ist beständig geschrumpft” – wird in der Zeit-Reihe „Sind die Linken selber schuld?” von Steffen Mau diagnostiziert. Dieser schließt: „konzeptuell herrscht Ebbe”. 

Das Ausmaß beschränkt sich nicht auf das zeitgenössische begriffliche Instrumentarium und eine eklatante Leerstelle eigener konstruktiver Visionen, die das kriselnde Entwicklungsmodell ersetzen könnten. Es betrifft auch die Abwesenheit einer politisch-strategischen Pragmatik, einer dieser vorausgesetzten Diskussionskultur und einer belastbaren Organisationsstruktur. Nur durch Zeit, Mühe und Verständnis, statt mittels der Hektik panischer Reaktion, lässt sich die Möglichkeit erfolgreicher und freiheitlicher gesellschaftlicher Intervention erarbeiten. Das Ausmaß der Schwäche und die Versäumnisse der Linken lassen sich am Erfolg der organisierten Rechten ablesen, die die gegenwärtige Hochkonjunktur rechter Politik und ihrer Speerspitze AfD seit nunmehr 20 Jahren aktiv vorbereiten. Demgegenüber eigenartig machtlos ist die internationale Critical Theory versucht, die Defizite durch aktivistische Theoriebildung und „unhinterfragt affirmative (...) und zum Sozialromantizismus tendierende (...) Bezüge auf soziale Bewegungen‘ und ,Gegengemeinschaften‘“ zu kompensieren. 

Doch in Kernbelangen wie Klimapolitik, Friedensbildung und Beseitigung sozialer Ungleichheit ist sie abgeschnitten von der Praxis, auf die sie drängt und auf die es ankommt. Das hyperpolitische Problem vertieft sich indes nur, wie Christian Thein weiter schreibt, wenn man statt „reflexiver Theoriebildung” zu betreiben zur „politischen Agitation mit Hang zum Moralismus” greift. Sich eben nicht von der eigenen Ohnmacht „dumm machen zu lassen” und eine richtige Einsicht in die sich ihrer nachhaltig-progressiven Veränderung hartnäckig widersetzenden Verhältnisse voranzutreiben, ist für die Möglichkeit progressiver Politik letztlich unabdingbar. In einem New York Times-Interview nach ihrer Erfahrung mit der autoritären Konsolidierung in Russland gefragt, erinnert sich Masha Gessen lebhaft an ein Staunen über die rapide schrumpfenden Handlungsspielräume: „Alle paar Jahre haben wir zurückgeblickt [...] und gedacht: Wow, es gab so viele Möglichkeiten”. Für sie folgt daraus die Notwendigkeit, „Bilanz über den Spielraum, den es noch gibt, zu ziehen und diesen vollständig auszunutzen.” 

 

Atempause des Denkens

 

Die hier angeregte bestandsaufnehmende Analyse ist sicher eine praxisorientierte Reflexion, aber anders als kontemplativ und im Medium der Theorie nicht zu haben. Gessens Antwort erinnert in ihrem strategischen Plädoyer für eine Analyse der eigenen Umstände an Theodor W. Adornos Formulierung, dass eine Situation, in der „Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist” paradoxerweise „die Atempause zum Denken” bietet, „die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre”. Auch der eigentlich bewegungsaffine Marcuse rät 1970 angesichts der abgeebbten Proteste der Vorjahre: „Die geringen Kräfte, die man hat, nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen” und sich in der defensiven und vorbereitenden Phase auf die, heute wohl noch dringender anstehende, „entsetzlich schwierige und langwierige Aufklärungsarbeit” zu konzentrieren. 

Dass Gessen in anderen Belangen und auch Marcuse zu anderen Zeiten selbst vehement zum Aktionismus tendier(t)en, ruft die Fragilität dieser Einsicht und die subjektiven Schwierigkeiten theoretischer Arbeit ins Bewusstsein. Das Anliegen, jener grassierenden Atemlosigkeit mit der Intensivierung theoretischer Reflexion einen „Gedanken, der Atem schöpft” entgegenzustellen und die Schwierigkeiten kritischen Denkens zu beleuchten, sind leitende Motive für den jüngst im Verbrecher-Verlag erschienenen Theorieessay Totalität. Dessen Autor, Alex Struwe, greift eine „fallengelassene und unter Missverständnissen verschüttet brachliegende” Traditionslinie materialistischer Gesellschaftstheorie fortsetzend auf und begegnet der konzeptionellen Ebbe durch bergende Rekonstruktion des Totalitätsbegriffes – eines Grundsteins kritischer Gesellschaftstheorie. 

 

Fallstricke einer kritischen Theoriebildung

 

Über die Frage, wie „die Gesellschaft nicht als Ganze erschein[en kann] und doch als Ganze funktioniert” nähert sich Struwe den Fallstricken einer kritischen Theoriebildung im Allgemeinen und der Konzeption des sozialen Ganzen im Besonderen: der Tendenz zu Abstraktion und Ideologie. Seine Studie bleibt in ihrer Analyse der „Möglichkeitsbedingungen” der konkreten Bestimmung der Wirklichkeit und durch das Nachzeichnen wesentlicher Fortschritte auf diesem Gebiet mit Marx und Adorno ihrerseits mehr „Problemexposition”, Vorarbeit und Anstoß, denn Vollzug einer substantiellen Gesellschaftstheorie. So steht weniger die konkrete Rekapitulation oder Aktualisierung des Denkens von Marx und Adorno, als die Frage „auf welche Weise sie sich einem Problem gewidmet haben”, im Zentrum des Buchs. 

In zwei großen Kapiteln präsentiert Struwe in temporeichem Abriss seine Lesart der materialistischen Theoriegeschichte und der einschlägigen Umgangsweisen mit dem Problem des gesellschaftlichen Ganzen. Im essayistischen Rahmen ist es jedoch kaum möglich, die zentral oder peripher berührten Autoren wie Georg Lukács, Louis Althusser, Perry Anderson, Maurice Merleau-Ponty oder auch Max Weber mit dem gebotenen Tiefgang zu behandeln. Die zugespitzte Lesart vermag es, Anregungen zu geben und wäre doch an vielen Stellen um weitere Studien oder Lektüre zu ergänzen. Das letzte Kapitel des Buches entfaltet eine lesenswerte Deutung von Adornos Werk unter dem Gesichtspunkt der Erfahrung von und der Reaktion auf einen Verlust holistischer Systematik. Das Frühwerk, die Dialektik der Aufklärung, soziologisch-empirische Studien und die Negative Dialektik werden als „konsequenter Weg” auf der Suche nach einem möglichen Umgang mit dem Problem der Totalität untersucht und schließlich als Versuch einer Erkenntnis der Verstrickung des Denkens dargestellt. 

Ähnlich wie Adorno versteht auch Struwe sich als Teil eines kollektiven linken Unternehmens, die Wirklichkeit als Ganze zu begreifen, um diese als Ganze zu verändern oder zumindest den krisenhaften Durchschlag des Ganzen zu mindern. In diesem Unterfangen sind Selbstkritik und die Fähigkeit, an den „eigenen Verfehlungen die Spuren gesellschaftlicher Herrschaft zu erkennen, die es zu überwinden gilt” ausschlaggebend für die Möglichkeit von emphatischem Fortschritt und mithin linkem Erfolg. Andernfalls droht das Emanzipationsprojekt kritischer Theorie „trotz aller Radikalität und Revolutionsromantik” ein „zahme(r) Tiger und Rädchen im Getriebe (zu) bleiben und an der Verhärtung des Bestehenden ungewollt mit(zu)wirken”. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen AutorInnen ließe sich die Methodik Struwes als Versuch, an eigenen Verfehlungen Spuren von Herrschaft aufdecken zu können, umreißen. Diese sind eben nicht nur individuelle Fehler, sondern notwendige Verzerrungen oder falsche Vereindeutigungen eines an sich widersprüchlichen Ganzen – nach Struwe „Effekte der Totalität”.

 

Unfähigkeit zu Dialektik

 

Die Unfähigkeit, dialektisch zu denken, ist der wiederkehrende Vorwurf in einer harten, aber nicht unsolidarischen Auseinandersetzung mit angesagten AutorInnen kritischer Sozialtheorie (Loick, Chibber, Amlinger und Nachtwey, Rosa und Reckwitz, Jaeggi und Fraser) und Klassikern jüngerer Vergangenheit (Eribon, Hardt und Negri, Mouffe und Laclau). Struwe nimmt diese unterschiedlichen Autoren unter der Gemeinsamkeit in den Blick, „bloß abstrakte Deutungen“ hervorzubringen und damit konformistischer Ausdruck einer gesellschaftlichen Tendenz zu bleiben. In ihrer Unfähigkeit, die Widersprüchlichkeit, das Auseinanderstrebende des Gesellschaftlichen, das doch eins ist, zu bestimmen oder in seiner konstanten Unsicherheit und Kränkung auszuhalten, ist die Abstraktion eine nachvollziehbare, aber intellektuell und politisch unangemessene Form der Bewältigung des belastenden Widerspruchs. 

Eben durch ihre Widersprüchlichkeit, ihre Übermacht und Komplexität, stellt die gesellschaftliche Formation die Subjekte, die sie verändern wollen, vor Probleme und verursacht Reibungen, denen die KritikerInnen durch Abstraktion ausweichen können. Dieses Ausweichen findet in der Regel zwei Verlaufsformen, die sich idealtypisch unter den Begriffen Positivismus und Idealismus rubrizieren lassen. „Entweder”, resümiert Adorno, muss das Bewusstsein „den ihm konträren Weltlauf harmonistisch stilisieren und ihm, gegen die bessere Einsicht, heteronom gehorchen”, also versuchen, die realen Widersprüche idealistisch „in der Einheit des Bewusstseins zu schlichten” und den antagonistischen Charakter zugunsten einer einheitlichen Konstruktion ausblenden. „Oder es muss sich (...) verhalten, als wäre kein Weltlauf und an ihm zugrunde gehen”; also die schmerzhafte Frage der Bestimmtheit und Bestimmbarkeit der Gesellschaft verwerfen, indem es davon ausgeht, diese ließe sich überhaupt nicht bestimmen. Wo sie nicht im äußersten Bewusstsein der Sogkraft ihres Gegenstands und ihrer eigenen Prägungen unternommen wird (und nicht einmal dort ist sie davor gefeit), läuft Theorie grundsätzlich Gefahr, ihr schmales, über die bestehenden Verhältnisse hinausweisendes Potential nicht realisieren zu können. Stattdessen wird Theorie als Vehikel der Selbsterhaltung von AutorIn, LeserInnenschaft und letztlich der gesellschaftlichen Verhältnisse funktional. Kritik wird, mit Max Horkheimer gesprochen, zur „Verzierung, Unterhaltung, Freizeitmaterial (...) und dient dem Lauf der Dinge, wie er ohnehin ist”. 

Sie wird, wie auch Struwe kritisiert, zum Mittel einer an ihrer Bedeutungslosigkeit leidenden Linken, um die berechtigten Erfahrungen von Ohnmacht und Unsicherheit auf unzulängliche Weise zu kompensieren. Besonders deutlich wird dies im zeitgenössischen Hang, „die gesellschaftstheoretische Erkenntnis der Eindeutigkeit einer instrumentellen Theorie unterzuordnen”. Die fabrizierte Eindeutigkeit, beispielsweise in Chibbers Class Matrix oder der Analyse und Affirmation des Populismus bei Mouffe und Laclau, lässt politische Optionen realistischer erscheinen, als sie angesichts der Verteilung von Gewaltmitteln, des Standes des kollektiven Bewusstseins und der mangelnden Organisation progressiver Kräfte tatsächlich sind. Gesellschaftstheorie fungiert so nicht als Versuch, Handlungsmöglichkeiten einzuschätzen, sondern als Bewältigungsstrategie für eigene Orientierungslosigkeit und Ohnmacht, sowie als prospektive Mobilisierungsgrundlage. 

 

Versuch der Bergung

 

„Theorien des Populismus sind zugleich populistische Theorien und Analysen der Regression so gleichzeitig regressive”, wie Struwe schlagend schließt. Demgegenüber bringt der Autor die Kategorie der Totalität, den Versuch ihrer konkreten und substantiellen Bestimmung sowie die Notwendigkeit selbstreflexiver Einbettung des (eigenen) Denkens in die theoretische Reflexion der sozialen Welt als „eine Art Mindeststandard” zur Geltung. Könnte Struwes Arbeit durch ihre enge Beschäftigung mit einer schwachen Gegenwartstheorie Diagnose und Medikation für die grassierende linke Ratlosigkeit sein, ist das Buch doch eher eine Art Anamnese und Überweisung. Sein bergender Versuch ist ambitioniert und dringend notwendig – bleibt jedoch gemessen an den gegenwärtigen Aufgaben und am einmal erreichten, aber weitgehend vergessenen Erkenntnisstand etwas unzureichend. 

So wäre etwa auf die fortgeschrittene Problematisierung und Bestimmung des Ganzen in der Diskussion um Historizität und Logik des Kapitals als verallgemeinertes Strukturverhältnis in der Neuen-Marx-Lektüre oder die Frage nach Zusammenhang von Staatlichkeit und Ökonomie in der Spätkapitalismusdebatte hinzuweisen. Grundlegendes findet sich auch in den Arbeiten von Agnes Heller, Gerhard Stapelfeldt und Jürgen Ritstert. Andere Reinterpretationen und Rekonstruktionen von Marx und Adorno wurden beispielsweise von Frank Böckelmann und Moishe Postone vorgelegt. Jüngere Texte stammen von Christian Voller, Dirk Braunstein oder Søren Mau. Legt man den eigenen Anspruch „theoretischer Klarheit [...] gegen Mystifizierung” an, bleibt Struwe hinter seinen Möglichkeiten zurück; sein Essay ließe sich gar als Symptom des Zusammenhangs kritisieren, den er reflektiert. 

Erhofft man sich konkrete Bestimmungen muss man sich diese über den Verlauf des Buches zusammenklauben, was Irritation, beizeiten Frustration, aber eben auch eine produktive Re- und Querlektüre provoziert. Es sei in Erinnerung gerufen, dass es Struwe um die Möglichkeit der Erkenntnis und nur über diese vermittelt um konkrete Bestimmung geht. Indem er nur die Totalität in den Spuren, die sie am Bewusstsein und das Bewusstsein an ihr lässt, untersucht, verbleibt er gewissermaßen selbst in einem idealistischen Kreis. Totalität tritt meist nicht als reale und positive Vermittlung eines heteronomen Relationszusammenhangs (Kapital) und seiner ermöglichenden Bedingungen auf – vielmehr wird der Begriff zum Namen für ein selbst unbestimmtes Ganzes und dessen bewusstseinsmäßige Vermittlung qua Abstraktion. Die Beziehungen materieller Verhältnisse und der abstrahierende Effekt ihrer geistigen Repräsentation, also der Zusammenhang von Warenform und Denkform, bleiben eigenartig unbestimmt und scheinen beizeiten vermengt. 

So touchiert „Totalität” in einigen Aspekten das, was Horkheimer einmal als reine „Skepsis” bezeichnet hat. Denn „wer ohne Darstellung der Basis bloss die Ideologie angreift, übt schlechte oder vielmehr gar keine Kritik, wie geistreich sie auch sei. (...) Das gesellschaftliche Ganze, nicht so sehr die Ideologie, bildet den Gegenstand der adäquaten Kritik in Theorie und Praxis.” Struwes emphatische Kritik der Abstraktion ist in Teilen nachvollziehbar, doch wird mitunter außer Acht gelassen, dass der Unterschied zwischen materialistischen und idealistischen Auffassungen von Totalität nicht die Abstraktion, sondern die Stellung des Abstrakten zu Reflexion und Konkretion ist. Die Erkenntnis der sich durch Widersprüche dennoch vereinenden Struktur des gesellschaftlichen Zusammenhangs – nicht als holistischer, widerspruchsfreier, sondern als emergenter, der seine Voraussetzungen als Resultate produziert – bedarf notwendig der Abstraktion (wie bspw. die Darstellung des Kapitalverhältnisses in „idealem Durchschnitt” bei Marx). 

 

Haltloses Denken

 

Mit Abstraktion ist grob die Fähigkeit benannt, Einzelnes gedanklich aus einer komplexen Wirklichkeit herauszulösen – beispielsweise durch Trennung von Wesentlichem und Unwesentlichem – und im Bewusstsein zu in einem Modell zu (re)konstruieren. Diese Fähigkeit ist ein Herrschaftsmittel, aber auch Grundlage des menschlichen Denkens und (Teil-)Vollzug wie Bedingung von Freiheit (wie auch Struwe an einer Stelle anmerkt): Das Denken überschreitet mittels Ablösung und (Re)Konstruktion das Gegebene und gewinnt eine Erkenntnisfähigkeit, die notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung bewusster Einflussnahme und Gestaltung der Umwelt bildet. Steht Abstraktion zu Konkretion in einem richtigen Verhältnis, lässt sich das Modell durchgängig auf seine empirische Grundlage beziehen und kann auf Basis eigener oder fremder Erfahrungen, bspw. in wissenschaftlichem Austausch, korrigiert werden. Fällt diese Bezugnahme zugunsten des gedanklichen Abstraktionsprodukts aus, wie etwas unter dem idealistischen Vorrang des Geistes über die Empirie, gerät das Modell in Gefahr, die Wirklichkeit nicht adäquat abzubilden und der Versuch eines Eingriffs gerät in Schieflage. 

Hier setzt Struwe berechtigterweise an und betont, dass Verzerrungen nicht zufällig erfolgen und eine konformistische Funktion erfüllen. Gegen beides stellt er die noch zu bestimmende und nie vollständig bestimmbare Vorstellung des sozialen Ganzen. Es ist Struwe anzurechnen, vor der allgemeinen Abstraktionstendenz zu warnen und den Denkraum „Totalität” auszuleuchten. Doch wäre zur Konkretion mittels positiver Bestimmung dieser Kategorie und ihrer Vermittlung fortzuschreiten. So könnte man bezüglich der Fallstricke kritischen Denkens beispielsweise nach den konkreten Bedingungen gedanklicher Arbeit in von Prekarität und Marktzwängen durchsetzten Institutionen fragen, die die Form und den Inhalt gegenwärtiger Theorien ja durchaus stark beeinflussen. „Totalität” ist eine interessierte LeserInnenschaft und eine breite Diskussion zu wünschen. 

Struwe bietet mit seiner Studie eine gelungene Handreichung für ein haltloses Denken und versammelt ausreichend Material, um mit, gegen und über die Studie hinaus zu denken. Mit Blick auf die politische Problembestimmung wäre sein Impuls ernstzunehmen und eine selbstreflektierte, aber solidarische Debattenkultur intellektueller Auseinandersetzung und Kooperation in Tradition kritischer Theorie wiederzubeleben, die es vermag, „ohne Gewalt” die „Risse” im Bestehenden offenzulegen und zu bearbeiten. Struwes Versuch ist verdienstvoll, kann jedoch lediglich als ein Auftakt eines langen Wegs kritischer Theorie und progressiver Politik gelten, die ihren Namen verdient. Um ein letztes Mal Adorno zu bemühen: mit Totalität liegt eine der „Karten“ wieder „auf dem Tisch; das ist keineswegs dasselbe wie das Spiel.“ •

 

Alex Struwe
Totalität. Marx, Adorno und das Problem kritischer Gesellschaftstheorie 
Verbrecher Verlag, 200 S., 20 €

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