Im Reich der Geschwindigkeit
Kaum ein anderes Land wandelt sich derzeit so radikal wie China. Während in den hypermodernen Städten ein einzigartiger Leistungs- und Konkurrenzdruck herrscht, scheint in vielen entvölkerten Dörfern die Zeit wie stehen geblieben. Hartmut Rosa bereiste zwei Wochen das Reich der Mitte und zeichnet das Porträt einer gespaltenen Gesellschaft, die alles auf Aufstieg setzt. Doch zu welchem Preis?
Es regnet. Bindfäden. Es schüttet, wie wir es aus Europa kennen, wenn heftige Gewitterschauer niedergehen. Nur dass dieser Wolkenbruch hier tagelang anhält. Das passiert nicht oft in Schanghai, aber es passiert. Chinesen mögen es nicht, wenn sie bis auf die Haut durchnässt werden. Wenn ihnen das Wasser von der Kapuze ins Gesicht rinnt. Wenn die Kartons auf den Gepäckträgern der Mopeds so feucht sind, dass sie den Inhalt nicht mehr halten. Dann versuchen die Fahrer, eine Plastikfolie aufzutreiben und drüberzuziehen. Nichts in ihrem Verhalten lässt darauf schließen, dass sie genervt sind. Stoischer Gleichmut: Das ist ein Klischee, sicher, aber vielleicht ein zutreffendes? Die auf die Mopeds aufmontierten Regenschirme, die man außerhalb der Städte überall in China sehen kann, scheinen hier verboten. Zu gefährlich. Denn Schanghai ist schnell: Der Verkehr, die Baumaschinen, der rasende Wandel ganzer Stadtviertel. Die Menschen scheinen dennoch langsam. Das hier ist nicht New York, wo aggressives Verkehrsverhalten sogar den Habitus der Fußgänger bestimmt. Sanfte Bewegungen, mildes Lächeln. Vieles lässt sich damit aushalten. Man hört keine Polizeisirenen, keine Rettungswagen, kaum Hupen, kein Schreien und Fluchen. Kann es sein, dass die Leute hier Zeit haben, sich Zeit lassen, obwohl sich das ganze Land und besonders diese Region auf rekordverdächtigem Modernisierungskurs befinden und eine radikale Wettbewerbsstrategie fahren, die schon die Kleinsten auf die Überholspur zwingt? Täuscht der Eindruck?
Wenn die Schanghaier vom „alten Schanghai“ reden, meinen sie die Häuser, die um 1990 herum erbaut wurden. Die meisten davon sind schon verschwunden. Die, die noch stehen, sehen in der Tat sehr alt aus, fast uralt. Auf den ersten Blick möchte man meinen, sie hätten wirklich Jahrhunderte überdauert. In 25 Jahren um Jahrhunderte altern: Das beschreibt das Lebensgefühl von Schanghai. In 25 Jahren verschwinden hier ganze Straßenzüge, und nicht selten die Straßen gleich mit. Die durchschnittliche Lebensdauer einer Häuserfront beträgt nur einige Jahre, die eines Geschäfts oder eines Restaurants oft nur ein paar Monate, wenn nicht gar nur Wochen. Dies ist ein spektakuläres Beispiel für das, was ich 2005 in meinem Buch Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (Suhrkamp, 2005) als die Beschleunigung des sozialen Wandels identifiziert habe: Die Welt verändert in immer kürzeren Abständen ihr Gesicht. Dass deshalb jede Generation in eine neue Welt hineingeboren wird, weil die vorhergehende die Welt gleichsam neu schafft, ist ein charakteristisches Kennzeichen der klassischen Moderne. Jede Generation kommt mit einem Innovationsauftrag ins Leben: Schaffe dir eine neue Heimat, übernimm nicht einfach das, was die Väter und Mütter dir vorgeben. Finde deinen eigenen Beruf, gründe deine eigene Familie, bau dir dein eigenes Haus. Indes, in fast allen Hinsichten entspricht die Veränderungsgeschwindigkeit Schanghais nicht mehr diesem Muster des generationalen Wandels, sondern hat längst ein intragenerationales Tempo erreicht: Keine Arbeitsstelle, kein Haus und kaum ein Familienarrangement hat mehr über ein ganzes Leben hinweg Bestand. Rechne damit, dass schon morgen alles neu und anders sein wird: Dies ist das Merkmal der Spätmoderne. Für die Schanghaier ist es zu einer unabweisbaren Lebensrealität schlechthin geworden.
Ein Leben wie ein flackernder Bildschirm
Bunt illuminierte Wolkenkratzer und Hochhäuser prägen das Bild, überall. Der Verkehrsstau ist überall enorm, aber er wird mit elegant geschwungenen, über- und untereinander herführenden Schnellstraßen, deren architektonische Brückenästhetik auf verblüffende Weise den geschwungenen Rolltreppenkonstruktionen in den Glaspalästen der Shoppingcenter gleicht, ziemlich effizient bekämpft – und vor allem auch mittels eines schnell wachsenden U-Bahnsystems. Schanghai modernisiere seine Verkehrswege rasant, steht im Reiseführer von 2007 – es gebe bereits zwei leistungsstarke Untergrundbahnlinien. Zehn Jahre später handelt es sich um ein weitverzweigtes, hochmodernes System mit 14 U-Bahn-Linien, Nummer 15 und 16 befinden sich im Bau. An den Eingängen Sicherheitskontrollen und Gepäckscanner wie auf dem Flughafen. Denkt man an deutsche Bauprojekte wie den Bahnhof Stuttgart 21 oder den immer noch unfertigen BER, könnte der Kontrast kaum größer sein. Schanghai kann man nicht in einem Bild festhalten, weil es sich niemals einfrieren und still stellen lässt, es lässt sich allenfalls durch einen flackernden Bildschirm repräsentieren.
Nur nachts wandelt sich ab und an die Szenerie. Dann tauchen plötzlich die Matratzen auf den Brücken und in den dunklen Seitenstraßen auf, auf denen die Wanderarbeiter übernachten müssen. Oft sehr junge Kerle, nicht immer abgerissen, viele mit Smartphone ausgestattet. Sie wirken weniger deprimiert als vielmehr hoffnungsfroh, aber der Schein kann täuschen. Unheimlich sind die völlig lautlos rollenden Elektromopeds, die es in jedem Stadtbezirk in großen Mengen gibt – denn Mopeds mit Verbrennungsmotoren sind neuerdings verboten. Sie fahren nachts ohne Licht, um Strom zu sparen. „Silent death“ werden sie im Volksmund genannt. Schattenseiten des raschen Tageslebens.
Was hier in der Stadt ebenso wie auf dem Land den europäischen Betrachter immer wieder verwundert: die Einsamkeit vieler arbeitender Chinesen in einem Meer von Zeit und Raum. Allein und unbeweglich bewachen sie Parks, Straßen, Geschäfte oder Häuser; stoisch auch im strömenden Regen und mitten in der Nacht; und ganz allein fegen sie mit einem kleinen Reisigbesen endlos erscheinende Parkplätze oder jäten Unkraut an nie enden wollenden Zäunen. Dieses existenzielle Ausgesetzt- und doch zugleich auch Eingebettetsein scheint zwischen dem langsamen Landleben und der schnellen Stadt eine Form der Kontinuität zu stiften.
In Schanghai wie in anderen Großstädten des Landes, aber auch in den Kleinstädten und noch in der tiefsten Provinz, zeigt sich das Bemühen des Staates, die Modernisierung auf allen Ebenen voranzutreiben, sodass auch dort, wo die Zeit eine Weile stillsteht, oft unvermittelt Modernstes auftritt, etwa wenn in einer halb verfallenen, zum Teil verlassenen Siedlung zwischen verrottenden Schweineställen und zerfallenden Außentoiletten plötzlich modernste Straßenlaternen oder Solaranlagen montiert sind. Desychnronisation, die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, wird hier handgreiflich. Spürbar und hörbar wird sie auch, wenn auf den engen Dorfstraßen die Handkarren und die dreirädrigen Scooter, die klapprigen Mopeds, auf denen oft ganze Kleinfamilien unterwegs sind, oder Eselkarren auf modernste Audis, BMWs oder Mercedes’ treffen. Dann gilt in der Regel das Recht des Stärkeren – und stärker ist hier nicht das Altbewährte.
Das ist auch in den Häusern so: Während ein Landhaus einerseits uralt aussieht und zugleich von archaischer Schlichtheit ist – eine kleine Feuerstelle, draußen ein Brunnen, nackter Zementboden, ein hartes Holzbett –, findet sich andererseits modernstes Mobiliar, eine große Tiefkühltruhe und ein riesiger Flachbildfernseher als neuester Schrei aus Schanghai. Hier sind die Söhne als Wanderarbeiter in die Megacity gezogen und haben Geld nach Hause geschickt.
Weg aus Schanghai, im Hochgeschwindigkeitszug nach Westen, ins Landesinnere, nach Wuhan. Das ist eine industrielle Metropole, ein Konglomerat aus drei einst getrennten Städten mit inzwischen gut zehn Millionen Einwohnern, gut fünfeinhalb Schnellzugstunden westlich von Schanghai am Jangtse-Fluss. Der Zug fährt vom gigantischen Hongqiao-Bahnhof ab, der gleich neben dem Flughafen liegt. Es ist nur einer von vier Riesenbahnhöfen, die unter anderem den Bullet Train nach Peking schicken. Er ist schnell wie der ICE, elegant wie der TGV, pünktlich wie die Schweizer Bundesbahn: An jedem Bahnhof hält er die Ankunfts- und Abfahrtszeiten sekundengenau ein.
Ambivalente Abgeschiedenheit
Die Fahrt geht durch endlos erscheinende Siedlungen mit immer neuen Hochhäusern. Zusammenballungen von gruppenweise gleich gefärbten und geformten Häusern, dazwischen gigantische Baustellen mit einem Gewirr an Baggern und Baukränen, und dann immer wieder einige blau bedachte Baracken der Wanderarbeiter, oft trübe Teiche und Wassergräben daneben, auch eigenartige, weite Brachflächen ohne jegliches Grün; fast nie sieht man alte Häuser oder Gebäude. Erst kurz vor Wuhan wird es dann einsamer, hügeliger, idyllischer, und es tauchen auch Bilder auf, wie man sie aus älteren Chinabüchern kennt, etwa einsame Feldwege oder Bauern mit Tragestangen über den Schultern. Unvermittelt kommt es aber überall zum scharfen Kontrast zwischen dem alten und dem neuen China: Mitten in der sanft gewellten, zeitlos erscheinenden Hügellandschaft erheben sich plötzlich gewaltige Solaranlagen: Zelle an Zelle, einfach in die Landschaft montiert. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen scheint in China ein grundsätzliches Strukturprinzip zu sein, wobei das Neue – jedenfalls in den Provinzen – in aller Regel als zentralstaatliche Vorgabe oder als staatlicher Eingriff erscheint. So finden sich an den Universitäten des Landes Lehren des Konfuzius in der School of Marxism, welche keinerlei Problem damit zu haben scheint, unter einer riesigen Mao-Büste neueste westliche Betriebswirtschaft zu unterrichten.
Nach gut fünfeinhalb Stunden die Ankunft in Wuhan: der nächste Riesenbahnhof. Hier sind praktisch keine Europäer oder Amerikaner mehr zu sehen. Ein Fahrer bringt uns auf den großen Campus der Technischen Huazhong-Universität: Sie beherbergt 60000 Studenten. Diese radeln eilig und eifrig auf gelben Share-Bikes über die riesige Campusfläche. Das ergibt ein sehr friedliches Bild: Tiefes Grün, durchzogen von kleinen Wasserläufen, eine Weite, die durch die Abwesenheit von Autoverkehr in Ruhe verwandelt wird. Dies erzeugt einen Eindruck von paradiesischer Abgeschiedenheit, wie man sie vielleicht auch von amerikanischen Campusstädten kennt. Das System der mittels einer App freischaltbaren gelben Fahrräder scheint sich erfolgreich über ganz China zu verbreiten und steht besonders bei Studenten hoch im Kurs. Auch das Velo ist eine Erfindung der Beschleunigungsmoderne.
Am Abend halte ich einen Vortrag mit anschließender Diskussion über Dynamische Stabilisierung, soziale Beschleunigung und die Sehnsucht nach Resonanz an der School of Sociology ebendieser Universität. Gut 200 Studenten sind gekommen, freiwillig, denn es verirren sich nur selten europäische oder amerikanische Dozenten hierher. Ich entwickle ihnen meine Theorie der Moderne, wonach eine moderne Gesellschaft dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag. Das bedeutet, dass sie immerfort wachsen, beschleunigen und Innovationen hervorbringen muss, wenn sie ihre institutionelle Struktur und den sozialen Status quo erhalten will. Ohne Wachstum und stetige Innovation verliert sie Arbeitsplätze, schließen Unternehmen, sinken die Staatseinnahmen, weshalb sich der Sozialstaat, das Gesundheits- und das Bildungswesen nicht mehr finanzieren lassen, und am Ende kommt es – in Europa wie in China – zum Legitimitätsverlust des politischen Systems. Die Konsequenz ist, dass wir alle, gleichgültig ob wir in Europa, China oder den USA leben, jedes Jahr ein wenig schneller laufen, ein wenig härter arbeiten müssen, nur um unseren Platz zu verteidigen, nur damit alles so bleiben kann, wie es ist. Die Spätmoderne mündet in einen rasenden Stillstand, der uns systematisch von der Welt entfremdet und eine wachsende Sehnsucht nach einer anderen Form des Lebens, nach einer resonanteren Weise des In-der-Welt-Seins erzeugt.
Entschleunigung – vielleicht nur eine europäische Idee?
„Das mag für Europa zutreffen, aber China muss wachsen und sich entwickeln“, meint der ehrwürdige, ergraute Professor, der eigens dafür aus Peking angereist ist und von den Veranstaltern zum Ko-Referat gebeten wurde. Beschleunigung ist notwendig, Akzeleration ist gut, Entschleunigung eine Idee für Europa. Die Studenten dagegen nicken verständnisvoll, wenn die Rede auf den unablässigen Zeit- und Veränderungsdruck kommt. Dass die tägliche To-do-Liste explodiert, kennen die Jungen wie die Alten hier. Und sie alle wissen um die Wichtigkeit des Gaokao, der zweitägigen Abiturprüfung, die alle chinesischen Jugendlichen im Alter von etwa 16 Jahren ablegen müssen und die über das ganze zukünftige Leben entscheidet; sie gilt als die härteste Abschlussprüfung der Welt. Alle Studenten haben sie am eigenen Leib erfahren. Kinder begehen ihretwegen mitunter Selbstmord, aus Angst davor oder weil sie versagt haben danach; nicht wenige erleiden in den Wochen davor einen Burnout oder Nervenzusammenbruch. Mütter geben ihren Beruf auf, um das letzte Jahr vor dem Gaokao ihres Kindes ganz für den Lernerfolg da zu sein, denn das Ergebnis bestimmt, auf welche Universität oder Ausbildungsstätte der Nachwuchs später gehen kann – und damit, wie es um das zukünftige Wohl der ganzen Familie bestellt sein wird. Eltern versuchen deshalb verzweifelt, einen Hukou, also eine Bescheinigung der chinesischen Wohnsitzkontrolle für eine der großen Städte zu erhalten, denn neben dem Gaokao-Ergebnis erhöht nur das die Chancen, an einer der hochrangigen Universitäten studieren zu können.
Dabei wählen junge Chinesen kein Studienfach, sie träumen nicht von einer Disziplin, einer Tätigkeit, einem Beruf, sondern sie träumen von einer Universität. Sie versuchen in einem durchgerankten System an eine möglichst renommierte Hochschule zu kommen. Die Universität sagt ihnen dann, welches Fach sie studieren sollen oder dürfen. Das ist ein durch und durch resonanzfeindliches Verfahren, es widerspricht radikal der Idee von Bildung und von Berufung: Hier finden sich nicht der junge Mensch und das für ihn oder für sie geeignete Fach, sondern hier erfolgt die Zuordnung nach abstrakten Leistungsparametern – ein Modell, das inzwischen auch für die Exzellenzfantasien europäischer Bildungsplaner Pate steht. Kein Wunder, dass die Studierenden bang danach fragen, wie viel Unsicherheit sie noch werden ertragen müssen. Und was man tun kann, um sein Leben zu entschleunigen. Der Saal lacht über die Beobachtung, dass alle in China in ein Eilfieber zu verfallen scheinen, um ihre To-do-Liste vor der „goldenen Woche“, der nationalen Ferienwoche, die zwei Tage später beginnt, abzuarbeiten.
Das Verstummen der Welt
Die meisten Nachfragen aber beziehen sich auf das Resonanzkonzept, das am Ende des Vortrags vor den Studierenden zur Sprache kommt und sie offenbar elektrisiert. Was es damit auf sich hat, wollen sie ganz genau wissen. Das Problem mit der Beschleunigung, so habe ich es in meinem 2016 erschienenen Buch Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (Suhrkamp, 2016) dargelegt, und so erzähle ich es auch den jungen Leuten in Wuhan, besteht darin, dass sie uns dazu verleitet, sich die Welt nur noch anzueignen, aber nicht mehr anzuverwandeln. Wir versuchen immerzu, unsere Weltreichweite zu vergrößern: Indem wir mehr Geld, mehr Facebook-Freunde und schnellere Technik erwerben, bringen wir immer mehr Weltausschnitte in unsere Reichweite: Was die Welt zu bieten hat – an Orten und Menschen, an Dingen und Möglichkeiten, an Kulturgütern und Wissensschätzen –, wird für uns erwerbbar, wissbar, erreichbar, zugänglich. Die Kehrseite davon aber ist Entfremdung: Die verfügbar gemachte Welt scheint zu verstummen, sie steht uns grau und leer gegenüber, sie lässt uns kalt. Die Orte, an die wir reisen, berühren uns nicht, die Menschen, denen wir begegnen, bleiben uns fremd, was wir lesen oder hören, sagt uns nichts. Dann werden auch wir innerlich grau, alt und leer. Karl Marx hat das als Entfremdung beschrieben, Max Weber als Entzauberung, Georg Lukács als Verdinglichung, Albert Camus als die Geburt des Absurden. Dieses Verstummen der Welt ist die Grundangst der Moderne; als Kehrseite der Reichweitenvergrößerung begegnet sie uns heute in der Furcht vor dem Burnout.
Was aber ist das Gegenteil solcher Entfremdung? Wie sieht ein nichtentfremdetes Weltverhältnis aus? Mein Vorschlag lautet: Nichtentfremdet sind wir dann und dort, wo wir mit der Welt in Resonanz treten. Wo uns die Dinge, die Orte, die Menschen, denen wir begegnen, berühren, ergreifen oder bewegen, und wo wir mit unserer ganzen Existenz auf sie zu antworten vermögen. Das sind die vier Bestandteile eines Resonanzverhältnisses: Erstens, etwas „affiziert“ oder berührt uns, es ruft uns gleichsam an; zweitens, wir antworten auf diese Berührung so, dass wir uns als selbstwirksam mit der Welt verbunden erfahren, wodurch wir uns, drittens, selbst verwandeln: Wir bleiben nicht dieselben, wenn wir mit einem Menschen, einer Idee oder einer Melodie in Resonanz treten. Viertens aber müssen wir anerkennen, dass solchen Resonanzbeziehungen ein unaufhebbares Moment der Unverfügbarkeit innewohnt: Wir können Resonanz nie erzwingen, wir können nicht vorhersagen, was das Ergebnis der Veränderung sein wird.
Bei den Studierenden von Wuhan scheint diese Idee auf fruchtbaren Grund zu fallen. Sie fangen sofort an zu diskutieren, eigene Beispiele zu suchen, aber auch kritische Nachfragen zu stellen, selbst am nächsten Tag, auch Wochen später noch, per WhatsApp und E-Mail. Das Resonanzkonzept scheint an die chinesischen Konzeptionen der Weltbeziehung unmittelbar anschlussfähig zu sein – nicht zuletzt an die daoistische Idee der Berührung von Himmel und Erde und an konfuzianische Überlegungen zur emotionalen und kontextuellen Verankerung von Entscheidungsgründen anstelle einer Orientierung an abstrakten Prinzipien.
Am nächsten Tag fahren wir zu der in ganz China bekannten Kranichpagode, einem Wehrturm, der zugleich eine große kunstgeschichtliche Bedeutung hat, die bis ins dritte Jahrhundert zurückreicht und Inspiration für zahlreiche künstlerische und poetische Werke lieferte. Markant hebt sie sich ab gegenüber dem träge dahinziehenden Fluss. Wasser, Himmel, Turm, Kranich: Daraus scheinen die Menschen hier den imaginären Gegenentwurf zur Beschleunigungsmoderne zu beziehen.
Im Rest der Stadt ist Wuhan allerdings wenig idyllisch. Auch diese Metropole ist ein Moloch, auch hier wird fieberhaft gebaut, überall Hochhäuser, überall Shoppingcenter. „Jeden Tag ein neues Wuhan“ lautet der Slogan der Partei, der überall plakatiert ist. Die Beschleunigung des sozialen Wandels ist politisches Programm, Modernisierung das Ziel. China soll die Nummer eins werden, endlich Japan und den Westen abhängen. Sie werden es schaffen, kein Zweifel, aber um welchen Preis? Tatsächlich scheint die neue kulturelle Ordnung Chinas auf zwei mächtigen Säulen zu basieren, die dem westlichen Beobachter nicht sonderlich originell und noch weniger attraktiv vorkommen, hier aber in bemerkenswerter Reinform zu beobachten sind: Gnadenloser Wettbewerb auf allen Ebenen der sozialen Existenz einerseits und als Ausgleich für die dadurch entstehenden Härten und Entbehrungen, als Anreiz für die totale Mobilisierung aller individuellen und kollektiven Energien, das radikale Konsumversprechen andererseits. Der Reichtum der kapitalistischen Gesellschaft, schreibt Marx am Anfang des Kapitals, „erscheint als eine ungeheure Warensammlung“. In der Tat. Er erscheint in Abertausenden von Shoppingcentern, in denen der Apex des Sehnens noch immer die westlichen Luxusmarken sind.
Rückkehr aufs Land
Fahrt nach Westen, tiefer ins Land, nach Zentralchina hinein, nach Huangpi, ins gelbe Land. Zuerst entlang der Autobahn noch das gewohnte Bild: Hochhäuser, Brücken, Straßen. Dann ist die Landschaft hochindustriell geprägt: Bis zum Horizont Kühltürme und Fabrikschlote, aus denen mal weißer, mal dunkler Rauch aufsteigt. Kohle und Stahl. Allmählich aber nehmen die Insignien der industriellen Moderne ab. Sie machen Raum für Brach- und Sumpfland, verlassene Reisfelder, Lotuspflanzen. Wir fahren von der Autobahn ab, die Straße wird schlechter. Die Fahrt gleicht jetzt einer rückwärtsgerichteten Reise durch die Zeit: Von der digitalen Moderne Schanghais durch die industrielle Moderne Wuhans in die frühe Neuzeit Zentralchinas – oder noch weiter zurück. Eine Kleinstadt im Regen: Offene Türen, dahinter kleine Geschäfte oder Privathäuser, in denen die Männer um einen Tisch sitzen und Mahjong spielen – ein traditionelles Spiel mit Keramiksteinen, das in der Logik ein wenig Poker oder Rommé ähnelt. Die Frauen halten sich im Hintergrund auf, oft kauern sie am Boden. Nur die Schule ist hier neu, groß und modern. Wenn Chinas Regierung an einem keinen Zweifel hegt, dann an der Wichtigkeit von Bildung.
Wenn der Regen aufhört, belebt sich die Straße rasch wieder. Gemüsestände und Garküchen tauchen auf, bieten köstliche gebackene Reisspeisen oder gebratene Nudeln an. Dann wird die Straße ganz eng, lehmig und schlammig. Ein kleines Dorf, für heute unser Ziel. Es ist still. Wilde Kühe grasen in aufgegebenem Farmland. Ein Tümpel, noch einer, sumpfig, ein wenig Abfall darin. Die Häuser sind manchmal zerfallen, fast immer sehen sie sehr alt aus, obwohl sehr alt auch hier eher bedeutet: aus den 1960er-Jahren. Die Häuser sind in China nicht für die Ewigkeit gemacht. Aber die Menschen sind offen und gastfreundlich. Wir trinken Tee beim lokalen Baumeister, gehen durchs Dorf. Kaum junge Leute, aber neugierige alte Frauen, sie grüßen und suchen, schüchterne Blicke auf den Fremden werfend, das Gespräch mit dem mich begleitenden Vizedekan der sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Huazhong-Universität in Wuhan. Manchmal erkennen sie ihn wieder, von früher, als er hier mit seinen Geschwistern spielte. Einige haben kleine Kinder auf dem Arm, denn sie kümmern sich um die Enkel, während die Eltern als Wanderarbeiter in der Stadt sind. Das ist ein gängiges Muster in ganz China. Die neue Generation wächst fast durchweg bei den Großeltern auf.
Was auffällt: Es gibt in den Häusern auf dem Land keinen Flur oder Eingangsbereich, man tritt stets unmittelbar von der Straße ins Wohnzimmer. Der Eingang st immer von Süden – kahler, rauer Boden, Zement oder Lehm, an der gegenüberliegenden Wand eine Art Altar mit Räucherstäbchen, Kerze, Tee, rotem Tuch – darüber hängt nicht selten ein riesiges Mao-Bild. Mao ist bis heute an die Stelle der Götter getreten, er herrscht über fast jedes Haus. Eine Alternative dazu bietet ein Bild der Kraniche: Nachdem die Götter verboten wurden, sind sie zu einem Symbol des Transzendenten oder Ewigen für viele Südchinesen geworden.
Der Rhythmus des Rituals
Man hat Zeit hier draußen. Immer für einen Tee mit dem Gast, noch viel länger fürs Essen. Der Bauunternehmer, der Bürgermeister und einer, der vom Schreiben lebt: Es sei noch nie ein Europäer in dem Dorf gewesen, sagen sie. Sie arrangieren ein Festessen für die Besucher im erstaunlich modernen Gästehaus, allerdings nach traditioneller Art. Es sitzen nur Männer am Tisch, die Frauen bringen das Essen in Schüsseln, den ganzen Abend hindurch. Fisch, Ente, Frosch, Blutwurst, auch Tofu und Gemüse; Hühnchen und Reis und Kartoffeln – unaufhörlich kommen die Speisen herein. Aber wichtiger sind das Rauchen und das Trinken. Man raucht während des Essens, Zigaretten, Yellow Crane zum Beispiel. Und man prostet sich zu mit scharfem, hochprozentigem Weizenschnaps. Jeder hat einen Krug vor sich und ein kleines Glas, nicht viel größer als ein Fingerhut – aber man muss es unablässig nachfüllen, um damit jedem Einzelnen immer wieder zuzuprosten und ihn zu rühmen, ihm zu danken, ihn der Freundschaft zu versichern, sich zu verbrüdern. Wieder und wieder. Es ist eine Frage der Männlichkeit: „Are you a real man?!“, fragt der Dekan, der mich hierher geführt hat, in sein Heimatdorf, in dem er selbst viele Jahrzehnte nicht mehr gewesen ist, immer wieder. „Of course I am“ – und das nächste Glas. Nun ja, so „real“ vielleicht doch nicht: Ich mische immer mehr Tee in den Fingerhut, und trinke bald nur noch Tee – während meine Begleiter am Ende lediglich mit Mühe ins Bett finden. Frauen? Sind jetzt gar nicht mehr zu sehen.
Tee ist stets das Erste und Wichtigste. In allen Häusern und Hütten, in die wir mithilfe des hier wie ein verlorener Sohn empfangenen Dekans gelangen, bieten sie uns sogleich heißen Tee an. Auch die 90-jährige Mutter, die ein überaus bescheidenes Leben in einem kargen Raum führt, dabei aber strahlt, als sei sie die Königin der Welt, eilt als Erstes an den Teeherd. Ebenso der alte, von Parkinson gezeichnete Mann, der alleine den kleinen Dorf laden führt, in dem auf dem Großbildschirm gerade die Staatsparade zum Nationalfeiertag läuft, hat die Tassen schon bereitstehen. Landwirtschaft lohnt sich im Kleinen kaum mehr. Chinas Nahrungsmittel kommen aus großen Farmen und riesigen Gewächshäusern. Das Dorf lebt in einer Zwischenzeit: zwischen dem Aufbruch der Wanderarbeiter, die es verlassen, der Sehnsucht nach der Stadt bei denen, die zurückbleiben, und ihrem Warten; Warten auf die Weggegangenen, Warten auf die Ankunft der Moderne. Einige ihrer Zeichen sind schon da im Dorf, Modernisierung findet sich an manchen Stellen, bei der Stromversorgung zum Beispiel, während das Land zugleich auch unübersehbar stirbt. Um die schief stehenden Häuschen herum verfallende Schweineställe, Toilettenhäuschen. Die Häuser haben meist nur einen Raum, gleich hinter der Eingangstüre eine Feuerstelle, die als Herd genutzt wird. Bisweilen auch ein Loch im Dach: Ein „Skywindow“, durch das es hereinregnen kann und soll. Eine radikale Art von „Himmelsbrunnen“, durch den nach den Lehren des Feng Shui Licht, Luft und Wasser – und mit ihnen die Geister der Ahnen – ungehindert durch das Haus zirkulieren können. Der Boden ist aus Lehm oder Zement: grau, voll von Abfall, Schüsseln und Eimern. Weit hinter dem Dorf, schon in den Feldern, ein im alten Stil neu errichtetes gelbes Tor mit zwei furchterregenden Steinlöwen, die den Ausgang und Eingang behüten sollen.
Dann wieder der rasende Hochgeschwindigkeitszug – nun in umgekehrter Richtung, zurück nach Schanghai. Erst durch die altchinesisch anmutende Berglandschaft, entlang von Lotusteichen, Gewächshäusern und Feldern. Dann durch die Großstadtlandschaften. Nanjing, Suzhou, das Venedig des Ostens. Schließlich die Ankunft im Bahnhof Hongqiao, dem flächengrößten Asiens. Es regnet. Schon wieder. Die Huaihai-Road rund um die Shaanxi South Road Metrostation ist hochgeschäftig, und noch mehr brodelt es an der Nanjing Road. Rot- und Blaulichter der mobilen Polizeistationen und -wagen punktieren jetzt das Straßenbild, auch wenn sie kaum je ihre Sirenen einsetzen. Überall Neongewitter. Riesige Bildschirme, nicht nur an den Geschäften, sondern auch entlang der Straßen, in den Bussen, überall. Was für ein Gegensatz zu den efeuüberwucherten, zerfallenden Häusern und schlammigen Wegen in den Dörfern Huangpis.
Der nächste Tag ist nicht nur ein Sonntag, er ist auch Nationalfeiertag und markiert den Beginn der „goldenen Woche“, eine von zwei Ferienwochen in China (die andere ist im Mai), in denen das ganze Land unterwegs ist. Die einen fahren aus der Stadt zurück in die Heimatdörfer, die anderen kommen von dort, um die Großstadt zu besuchen. Früh am Morgen sind die Straßen noch verschlafen, es herrscht eine erstaunliche Ruhe, vor allem in dem fast idyllisch anmutenden alten Stadtviertel, das von den Ausländern French Concession genannt wird. Eineinhalbstöckige Häuser, enge Gässchen, schlendernde Fußgänger. Es gibt kaum Verkehr, aber viele Fahrräder und ein paar Europäer. Das hier fühlt sich nicht nach dem 21. Jahrhundert an, sondern eher nach einer Mischung aus der Kolonialzeit und dem Europa der 1950er-Jahre. Es bleibt aber nicht lange so. Je weiter der Tag voranschreitet und je weiter wir nach Osten vordringen, umso schneller, bunter und lauter wird es. Auf der East Nanjing Road, den Champs Élysées Schanghais, brodelt es in subtropisch schwüler Hitze bald wie in einem Schnellkochtopf. Die Straße ist über den Feiertag für den Autoverkehr gesperrt, aber die sich heranwälzenden Menschenmassen rauben einem den Atem. Wo immer es eng wird, ähnelt die Fortbewegung einer Schlacht: Jeder Millimeter wird ausgenutzt und zugestellt. Rücksichtnahme ist dabei so gut wie nicht zu beobachten: Niemand hilft der Mutter mit dem Kinderwagen, niemand steht für den alten Mann in der U-Bahn auf, keiner macht eine Lücke, um die scheue 13-Jährige durchzulassen. Aber angesichts der Enge und des Tempos fällt noch etwas anderes auf: Es geht auch nirgendwo aggressiv zu. Nirgendwo wird gestoßen, nirgendwo geflucht, geschimpft, gedroht.
Sieht man genauer hin, erkennt man, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt: Weil niemand Rücksichtnahme und Ausweichen erwartet, fühlt sich auch keiner schlecht behandelt, übergangen oder übervorteilt. Hier können keine Erwartungen enttäuscht werden, hier gibt es fast keine Interaktionen soziomoralischer Art zwischen Fremden auf der Straße. Dafür gibt es etwas anderes: Zwischen den strömenden Massen sind an vielen Punkten kleine Gruppen von Soldaten aufgezogen, in unterschiedlichen Kleinformationen bilden sie mal ein Dreieck, mal eine Reihe, mal einen Kreis. Und immer stehen sie vollkommen unbeweglich. So scheinen sie das Beständige, Stabile, Unverrückbare der Ordnung, der Macht in einer Landschaft der unberechenbaren Veränderung und des raschen Wandels zu symbolisieren.
Dieses ebenso subtile wie eigenartige Wechselspiel von brodelnder Bewegung und kleinen Ruhepolen findet sich auch an anderen Orten in Schanghai. Mit am eindrucksvollsten vielleicht im Yu-Yuan-Garten, einem kleinen Stadtviertel, das ganz in traditioneller Bauweise gehalten ist, mit großen Häusern im Fachwerkstil, die man an ihren rotbraunen Holzbalken und geschwungenen Dächern erkennt. Diese Häuser quellen über von den Angeboten zahlloser Souvenirläden. Millionen von Tüchern, Teesorten, Jadefiguren, Steinen oder Stäbchensortimenten. In der Mitte des Viertels ein größerer Platz – Starbucks auf der rechten Seite im schönsten und größten der angrenzenden Gebäude lässt grüßen. Im Zentrum des Platzes aber steht ein wirklich altes, ehrwürdiges Haus, das fast fünf Jahrhunderten trotzte. Es ist umgeben von einem Wasserlauf, der mehrere Teiche bildet. Darüber eine kleine geschwungene Brücke. Ein Springbrunnen. Lotusblätter schaukeln sanft auf dem Wasser. Zwei Schwäne schwimmen um sie herum. In kunstvollem Zickzackkurs können die Tausende von Touristen, die jetzt unterwegs sind, über das Wasser, zum Haus und auf die andere Seite gelangen. Die Winkel zwischen Wasser und Fachwerkhäusern bieten dabei immer wieder Anblicke und Momente, die die Illusion völlig abgeschiedener Idylle und zeitloser Ruhe erzeugen. Dabei hilft es, dass es erstaunlich leise zugeht. Verglichen etwa mit New York und seinem donnernden Verkehr, dem ununterbrochenen Geheul der Sirenen und der überall dröhnenden Musik, gleicht Schanghai fast einem Kloster – und das hier einer Oase der Stille.
Alltägliche Walkürenritte
Weniger geeignet als Entschleunigungsoase ist dagegen der unweit gelegene City God Temple. Auch er ist dicht bevölkert. Auf drei Seiten finden sich in überdachten, oft goldverzierten Räumen plastische Götterfiguren, zu denen man beten kann: um Gesundheit, Geld, gute Noten beim Gaokao. Allerdings hält sich niemand lange damit auf: Man kniet rasch nieder, verneigt sich dreimal, entschuldigt sich, falls man Namen und Bedeutung eines Gottes nicht kennt. An der Stirnseite thront der Gott der Stadt, der mächtigste von allen. Die Qualität eines Gottes wird in China an seiner Wirksamkeit gemessen: Gehen die Wünsche in Erfüllung, kommen die Gläubigen zurück und spenden großzügig, dann werden die Tempel und Figuren größer, prunkvoller und mächtiger und es kommen mehr Gläubige. Bleiben sie unerfüllt, bleibt man fern, der Tempel zerfällt.
Dabei sind die Chinesen durchaus erfinderisch und wenig zimperlich im Schaffen neuer Götter. Eine Tempelfirma in Peking zum Beispiel hat vor kurzem einen veritablen neuen Autofahrergott geschaffen, mit Schnauzbart und Steuerrad in der Hand. Und einen solchen Gott können sie auch gut gebrauchen in China. Auf der Fahrt zum internationalen Pudong-Flughafen lässt sich eindrucksvoll beobachten, dass die Vorwärtsbewegung auf der Autobahn den gleichen Prinzipien folgt wie in der Fußgängerzone: Keine Aggressionen, kein Hupen (das ist in Wuhan und in Huangpi, im gelben Land, allerdings anders – in Schanghai ist es verboten), doch es wird jede Lücke erbarmungslos zum Überholen genutzt, man kommt sich vor wie in einem Computerspiel: Rechts an einem Laster vorbei, links hinüber um einen Bus herum, Stoßstange an Stoßstange im Duett mit einem Chevrolet zwischen zwei Taxen hindurch. Passend dazu aus dem Autoradio, tatsächlich, Wagners Walkürenritt, gefolgt vom Pilgerchor, und zur Entschleunigung dann ein händelscher Countertenor. Klassische Musik steht hoch im Kurs in Schanghai. Aber man wird den Verdacht nicht los, dass auch sie nur als ein Instrument dient – als leistungs- und distinktionssteigerndes Triebmittel einerseits, als Beruhigungsmittel andererseits – im endlosen Kampf darum, die Nummer eins zu sein: im Kampf um den besten Gaokao, den höchsten Wolkenkratzer, den größten Finanzumschlagplatz, das gewaltigste Shoppingcenter. Aber es regnet immer noch in Schanghai. •
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Stehen Sie stundenlang vor Produkten und vergleichen das Preis-Leistungs-Verhältnis, nur um dann zu Hause auch noch alle im Internet verfügbaren Angebote zu prüfen? Dann leiden Sie an FOBO, der Angst vor besseren Möglichkeiten („fear of better options“).

Es kam so überraschend wie verheerend.
Das Coronavirus, das die Welt Anfang 2020 erfasste und in vielen Bereichen noch immer unseren Alltag bestimmt, erzeugte vor allem eines: ein globales Gefühl der Ungewissheit. Wurde das soziale Leben in kürzester Zeit still gestellt, Geschäfte, Kinos und Bars geschlossen und demokratische Grundrechte eingeschränkt, blieb zunächst unklar, wie lange dieser pandemische Ausnahmezustand andauern würde. Und selbst jetzt, da sich das Leben wieder einigermaßen normalisiert zu haben scheint, ist die Unsicherheit nach wie vor groß: Wird es womöglich doch noch eine zweite Infektionswelle geben? Wie stark werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Shutdowns sein? Entwickeln sich Gesellschaften nun solidarisch weiter oder vollziehen sie vielmehr autoritären Rollback? Ganz zu schweigen von den individuellen Ungewissheiten: Kann ich im Sommer in den Urlaub fahren? Werde ich im Herbst noch Arbeit haben? Hält die Beziehung der Belastung stand? Kurzum: Selten war unsere so planungsbedürftige Zivilisation mit so viel Ungewissheit konfrontiert wie derzeit.

„Auf einmal sind wir nicht mehr die Gejagten“
Vielleicht erinnert uns die Epidemie daran, dass die Welt letztlich unverfügbar ist, dass wir sie nie ganz beherrschen können, wenn wir keine Monster erschaffen wollen? Das meint der Soziologe Hartmut Rosa, mit dem wir sprachen, während er sich selbst in Quarantäne befand.

Der Gebliebene
Maksym Zatochniy ist ukrainischer Herkunft und müsste, wenn er in seine Heimat zurückkehrte, an die Front. Porträt eines jungen Mannes, der uns mit der Frage konfrontiert: Würde ich für mein Land in den Krieg ziehen?

Katar und der hohe Preis des neidvollen Vergleichs
Der Spielermarkt im Fußball erreicht absurde Dimensionen. Er folgt einer Ökonomie, deren Rationalität nichts mehr mit dem Leistungsgedanken zu tun hat.