Impffrei:Love – ist das schon Identitätspolitik?
Die Dating-Plattform Impffrei:Love bietet umgeimpften Menschen einen Ort, um ganz unter sich zu bleiben. Unser Autor Jörg Scheller erläutert an diesem Beispiel, dass man Identitätspolitik falsch versteht, wenn Unterschiede nicht analysiert, sondern zementiert werden.
Die Geschichte der Identitätspolitik ist reich an Wandlungen. In gewisser Hinsicht erinnert sie an die Geschichte des Christentums. Im römischen Imperium waren die apokalyptischen Hippie-Esoteriker gerade noch entpowerte Subkultur und fuhren wenig später zur empowerten Staatsreligion auf. Identitätspolitik wiederum wurde als „strategischer Essenzialismus“ von linken afroamerikanischen Aktivistinnen in den 1970er Jahren entwickelt. Es galt, die besonderen Probleme der eigenen Identitätsgruppe zu betonen. An konkreten Lebensverhältnissen, nicht an einem fadenscheinigen Universalismus, sollte sich politisches Handeln von nun an ausrichten. Das war auch bitter nötig. Wer prinzipiell gleich ist, wird nicht zwingend gleich behandelt.
Heute ist Identitätspolitik, wie einst das Christentum, in den Zentren der Macht angekommen: in Konzernen, Parlamenten, neoliberal gestreamlineten Hochschulen, PR-Agenturen. Dort wird sie auf wenig überraschende Weise essenzialisiert, konfektioniert, instrumentalisiert, trivialisiert. Als ich im letzten Jahr mit meiner Kollegin Laina Dawes, einer als Adoptivkind in einer weißen Familie aufgewachsenen afrokanadischen Metalforscherin aus New York City über Identitätspolitik sprach, winkte sie ab. Identitätspolitik sei längst eine Sache der Reaktionären, die das Land polarisierten.
Was Laina wohl zur Website www.Impffrei.love sagen würde? Die neue Partnervermittlungsplattform bestätigte vermutlich ihre Wahrnehmung, dass Identitätspolitik heute primär polarisiere. Der schweizerische Verein Generation Freiheit will mit Impffrei:Love „impffreien und bewussten Menschen“ auf unkomplizierte Weise „Freundschaft, Dating und Liebesbeziehung“ ermöglichen. Nicht, dass man sich versehentlich in einen zigfach geboosterten Comirnaten oder Astrazenecalesen verliebt! Das ist Identity Politics gone wrong: Unterschiede werden nicht analysiert, sondern zementiert.
Im postidentitären Swingerclub
Polarisierung ist das eine, Ökonomisierung das andere: Menschen sollen hier zueinander finden wie Legosteine, die sich schwuppdiwuppsig verbinden lassen. Daran ändert auch das stockfotografische Bildmaterial auf der Internetseite des Vereins nichts, das allerlei schwärmerische Topoi der Lebensreform um 1900 aufruft: ein mittelalter Mann in Fidus-Pose am See, ein versonnen in der Mutterscholle wühlender Jungspund, gemischtgeschlechtliches und -ethnisches Tauziehen im Grase unter Gottes freiem Himmel. Damit beschworene „Gesamtheitlichkeit“ hin oder her – die Plattform wurde primär dafür erschaffen, dass „du Menschen auf selber Bewusstseinsebene findest, ohne Grundsatzdiskussion“, wie es ein wenig ungelenk im digitalen Beipackzettel heißt. Liebe ohne Grundsatzdiskussion? Zumindest in Deutschland schränkt das den Kundenkreis erheblich ein.
Impffrei:Love möchte sich einem mutmaßlich pharmaindustriemanipulierten Mainstream entziehen, nur um sich unfreiwillig dem ökonomischen Mainstream schlechthin anzudienen: der avanciertkapitalistischen „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz), wo sich jedes identitätspolitisch sauber abgezirkelte Grüppchen für den Nabel der Welt halten darf, weil es damit jeweils neue Kundensegmente generiert.
Die dadurch begünstigte Gesellschaftsform ist gerade keine „gesamtheitliche“, sondern eine narzisstische, sektiererische, verschmutzungsphobische: Man soll einander nicht kontaminieren – weder körperlich noch politisch noch ideologisch noch spirituell. Der schöne postidentitäre Swingerclub, der liberale Demokratie ja sein könnte, steht mit der algorithmisierten Safe-Space-Komfortromantik, die identitäres Denken im jüngsten Verwurstungsstadium befeuert, auf dem Spiel. Etablierte Dating-Plattformen wie Tinder haben diese Romantik zwar geprägt. Aber immerhin werden sie von Geimpften wie auch Ungeimpften genutzt. •
Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule der Künste in Zürich. Zuletzt erschien sein Buch „Identität im Zwielicht. Perspektiven für eine offene Gesellschaft“ im Claudius-Verlag.
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Umberto Eco im Gespräch: "Die Sprache ist eine permanente Revolution"
Seiner Herkunft nach Philosoph, wurde Umberto Eco als Romanautor und kosmopolitischer Essayist zu einer intellektuellen Legende. Die Leichtigkeit, mit der er alle Themen angeht, zeigt, dass Denken eine lustvolle Tätigkeit ist.
Umberto Eco war eine geheimnisumwitterte Figur. Wie ist aus diesem Kind einer einfachen Familie im Piemont der kosmopolitische Intellektuelle geworden, der er war? Als Enkel eines Druckers und Sohn eines Buchhalters verbrachte Eco den Krieg mit seiner Mutter in den Bergen, wo sich der Salesianerorden Don Bosco seiner annahm und in ihm die Liebe zu der Philosophie des heiligen Thomas von Aquin wachrief. Wie ist aus dem Autor zweier erfolgreicher Mittelalterkrimis und ein paar ironischer Essays über den Zeitgeist ein Gelehrter geworden, der sich wie ein Magier von Peking über São Paulo nach Paris durch die Welt bewegte, um seine intelligente und vergnügte Meinung über den Triumphzug der Simulakren zum Besten zu geben, über den Niedergang des Buches, über Verschwörungstheorien – oder über Charlie Brown als „Moment des universellen Bewusstseins“? Um dieses Geheimnis zu lüften, haben wir uns mit ihm im Louvre getroffen, wo er 2012 auf Initiative des Instituts Transcultura eine Kommission von Künstlern, Architekten und Intellektuellen aus Europa und China versammelt hatte. Das Ziel? Die Einübung einer Art intellektueller Gymnastik, die seiner Meinung nach nötig ist, wenn es gelingen soll, in der großen Konfrontation zwischen den Kulturen, die sich vor unseren Augen abspielt, Orientierung zu finden. Das, was er „geistige Vielsprachigkeit“ nennt oder die Fähigkeit, nicht nur eine einzige Sprache zu sprechen, sondern die feinen und entscheidenden Unterschiede zwischen den Kulturen auszumessen.

Kann uns die Liebe retten?
Der Markt der Gefühle hat Konjunktur. Allen voran das Geschäft des Onlinedatings, welches hierzulande mit 8,4 Millionen aktiven Nutzern jährlich über 200 Millionen Euro umsetzt. Doch nicht nur dort. Schaltet man etwa das Radio ein, ist es kein Zufall, direkt auf einen Lovesong zu stoßen. Von den 2016 in Deutschland zehn meistverkauften Hits handeln sechs von der Liebe. Ähnlich verhält es sich in den sozialen Netzwerken. Obwohl diese mittlerweile als Echokammern des Hasses gelten, strotzt beispielsweise Facebook nur so von „Visual-Statement“-Seiten, deren meist liebeskitschige Spruchbildchen Hunderttausende Male geteilt werden. Allein die Seite „Liebes Sprüche“, von der es zig Ableger gibt, hat dort über 200 000 Follower. Und wem das noch nicht reicht, der kann sich eine Liebesbotschaft auch ins Zimmer stellen. „All you need is love“, den Titel des berühmten Beatles-Songs, gibt es beispielsweise auch als Poster, Wandtattoo, Küchenschild oder Kaffeetasse zu kaufen.
Das nahe Andere
Das westliche Interesse an Osteuropa erschöpft sich weitgehend in Negativfixierung und Unwissen. Höchste Zeit, jenen vielfältigen, traditionsreichen Raum zu entdecken, der sich direkt vor unserer Haustür erstreckt. Und zu fragen: Was können wir von Osteuropa lernen? Ein Essay von Jörg Scheller.

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Zur Elite zählen nur die Besten. Die, die über sich selbst hinausgehen, ihre einzigartige Persönlichkeit durch unnachgiebige Anstrengung entwickeln und die Massen vor populistischer Verführung schützen. So zumindest meinte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883–1955) nur wenige Jahre vor der Machtübernahme Adolf Hitlers. In seinem 1929 erschienenen Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“ entwarf der Denker das Ideal einer führungsstarken Elite, die ihren Ursprung nicht in einer höheren Herkunft findet, sondern sich allein durch Leistung hervorbringt und die Fähigkeit besitzt, die Gefahren der kommunikationsbedingten „Vermassung“ zu bannen. Ortega y Gasset, so viel ist klar, glaubte nicht an die Masse. Glaubte nicht an die revolutionäre Kraft des Proletariats – und wusste dabei die philosophische Tradition von Platon bis Nietzsche klar hinter sich. Woran er allein glaubte, war eine exzellente Minderheit, die den Massenmenschen in seiner Durchschnittlichkeit, seiner Intoleranz, seinem Opportunismus, seiner inneren Schwäche klug zu führen versteht.
Stabilisiert euch!
Functional Training ist Trend – gerade jetzt, in der Pandemie. Koordinations- und Gleichgewichtsübungen präparieren den Körper für die Härten des Lebens. Ein Essay von Jörg Scheller über Prävention in schweren Zeiten.

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Der rettende Einfall im Garten, die Erleuchtung auf hoher See, der Geistesblitz in der Waldhütte: Gewisse Orte können philosophische Ideen entscheidend prägen. Hier spüren wir ihrer Magie nach. Diesmal in der Bibliothek des Jorge Luis Borges.

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