Jochen Hörisch: „Die Hände sind die Gegenspieler des Gehirns“
Mit keinem anderen Körperteil erfahren wir die Welt so detailliert wie mit der Hand. Der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch hat ihr nun ein Buch gewidmet und erläutert im Gespräch, warum wir in „handvergessenen Zeiten“ leben und was wir tatsächlich meinen, wenn wir von „der unsichtbaren Hand des Marktes“ sprechen.
Herr Hörisch, wir leben in „handvergessenen Zeiten“. Diese These vertreten Sie in Ihrem jüngst erschienenen Buch Hände. Eine Kulturgeschichte. Was meinen Sie damit?
Wer mit wachen Augen durch die Welt geht, stellt fest, dass wir den verschiedensten Körperteilen große Aufmerksamkeit schenken. Dem Hirn als dem „Sitz der Persönlichkeit“, der Lunge, weil es aktuell ein besonders gefährdetes Organ ist oder dem Darm, weil viele glauben, dass ihr Wohlbefinden maßgeblich von diesem abhängt. Den Händen und ihren vielfältigen Fähigkeiten allerdings wird immer weniger Beachtung zuteil. Denken wir nur an die Abwertung zahlreicher manueller Kulturtechniken, die übrigens im wahrsten Sinne des Wortes solche sind, denn „Manus“ ist Lateinisch für „Hand“, wie der Handschrift, dem Spielen eines Musikinstruments oder dem Nähen.
Allerdings greifen wir doch mehrmals am Tag nach unserem Smartphone. Hierbei spielt die Hand eine ganz bedeutende Rolle, oder?
Im ersten Moment mag das so scheinen, doch sehen wir genauer hin: Wir bedienen unsere Mobiltelefone nicht mit der Hand, sondern mit unseren Fingern. Demnach ist es auch ganz richtig, dass wir die Gegenwart als „digitales Zeitalter“ bezeichnen. „Digitus“ ist das lateinische Wort für Finger. Wir leben also im Zeitalter des Fingers, nicht der Hand.
Sie werten es als Verlust, dass wir uns mit dem Finger begnügen, wo uns unsere menschliche Natur uns doch die ganze Hand reicht?
Ich möchte nicht zu kulturpessimistisch klingen, glaube aber tatsächlich, dass wir uns um einen wichtigen Teil unserer Welterfahrung bringen, wenn wir diese überwiegend durch tippen und wischen ansteuern. Die Berührung scheint mir doch zentral für komplexe Sachverhalte zu sein. Nicht zuletzt zeigt sich das auch anhand vieler politischer Vokabeln, die besonders in meiner Jugend wichtig waren. Ich bin gewissermaßen ein nachgeborener Altachtundsechziger und damals ging es viel um „Emanzipation“ und „Manipulation“. Beides sind Begriffe, die sich von der Hand herleiten. Einmal befreit man sich aus der Hand eines anderen und einmal geht es um die Beeinflussung durch die Hände anderer.
Dabei finden sich Handmetaphern im politischen Diskurs schon eine ganze Weile.
An der Verwendung von Handmetaphern ließen sich schon immer ganze Weltbilder ablesen. Sehr früh findet sich beispielsweise die „Hand Gottes“, die die Menschen wie Figuren auf einem Schachbrett anordnet und die Geschicke ihres Lebens lenkt. Später spricht Adam Smith über die „unsichtbare Hand des Marktes“, die seiner Meinung nach den Markt regelt und Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht hält. Eine Metapher, die heute höchst umstritten ist, an der aber noch immer viele festhalten – selbst, wenn sie es nicht zugeben wollen. Aber auch in der Literatur und im Recht spielt die Hand eine zentrale Rolle. Denken Sie an die Frage Fausts, nach dem, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Dieses Zusammengehaltenwerden setzt eine Hand voraus. Und wie sehr Hände im Recht eine Rolle spielen, sehen wir an der Redeweise über die private und die öffentliche Hand. Besonders jetzt in der Krise, in der private Unternehmen die Hand aufhalten, damit ihnen die öffentliche finanziell durch diese Zeit helfen kann.
Wenn Sie die Linie von der Hand Gottes über die unsichtbare Hand des Marktes bis hin zur privaten und öffentlichen Hand nachzeichnen, klingt es fast so, als würden wir im Laufe der Geschichte über immer konkretere, immer weltlichere Hände sprechen. Stimmt das?
Das würde ich anders sehen, denn das Erstaunliche im Hinblick auf die Hand Gottes oder die unsichtbare Hand des Marktes ist ja, dass hier das ultimativ handgreifliche Körperteil in die Sphäre des Metaphorischen, ja gerade des nicht mehr Greifbaren übersetzt wird. Die Hand wird ins Metaphysische verschoben. Ich habe Gott die Hand noch nicht geschüttelt und die unsichtbare Hand in Frankfurt noch nie gesehen. Um es also ganz klar zu sagen: Die Hand steht für das Handgreifliche, das Taktile, das Haptische und eignet sich deshalb besonders gut, um an sich ungreifbare, abstrakte Konzepte verständlich zu illustrieren. Die Hand Gottes waltet in dieser Logik klüger als wir es je könnten, wie auch die Hand des Marktes, so zumindest die Annahme. Wenn man sich das klar macht, ist es von dem Erdbeben von Lissabon, das damals als Strafe Gottes gesehen wurde bis zum „Beben an den Finanzmärkten“ nicht mehr weit.
Hinter vielen Handmetaphern verbergen sich also metaphysische Annahmen?
Aus einer ideologiekritischen Perspektive ist es sehr schlau, dass die Hand als Inbegriff eines gesunden Realismus metaphysisch übersetzt wird. Im Glauben an eine unsichtbare Hand des Marktes oder einer irgendwie abstrakt verfassten öffentlichen Hand zeigt sich, dass wir die Metaphysik doch noch nicht los sind. Ganz im Gegenteil, wir glauben noch immer an solche Super-Subjekte, die uns kleinen irdischen Subjekten absolut überlegen sind.
Erklärt das auch, warum wir die unsichtbare Hand als Vorstellung nicht loslassen wollen, obwohl Fälle wie GameStop oder der Wirecard-Skandal diese Sichtweise praktisch ad absurdum führen?
Ja, es gibt einen guten Grund, warum wir nicht vom Ohr oder vom Auge des Marktes sprechen und früher eben von der Hand und nicht dem Tastsinn Gottes die Rede war. Es braucht diese ausführende Komponente, ohne die uns diese Konzepte zu wenig fassbar erscheinen. Einer, der das sehr deutlich gesehen hat, war übrigens Goethe.
Inwiefern?
Zunächst einmal war der Goethe ein totaler Handfetischist. Werther schwärmt von Lottes Händen, während sie Brot für ihre Geschwister schneidet, Götz von Berlichingens Handprothese spricht für sich und seinen Faust lässt er das Johannes-Evangelium mit einem bedeutenden Twist übersetzten. Denn bei Faust steht am Anfang nicht das Wort, sondern die Tat. Etwas also, das nur die Hand ausführen kann.
Lassen Sie uns auf die Philosophie zu sprechen kommen, deren Geschichte man auch als ein permanentes Hadern mit der Vertrauenswürdigkeit der eigenen Sinne erzählen kann. Welche Rolle kommt den Händen zu, wenn es um die Liebe zur Weisheit geht?
Wenn man die westliche Philosophie mit Platon beginnen lassen will, muss man von Anfang an eine Abwertung der Hände feststellen. In Platons speziellem Fall lag das sicher auch daran, dass er aus hohem Hause kam und es für einen Mann seines Standes keine Option war, händische Arbeit zu verrichten. Dafür hatte man Sklaven.
Und in späteren Jahrhunderten?
Bei vielen kanonischen Denkern findet sich sehr wenig zur Hand. Kant beispielsweise spart sie fast vollkommen aus. Aber auch sehr materialistische Denker wie Ludwig Feuerbach oder sensible Philosophen wie Friedrich Nietzsche widmen ihr nur sehr wenige Seiten. Auch im 20. Jahrhundert bei Theodor W. Adorno oder Ludwig Wittgenstein – praktisch nichts. Eine große Ausnahme stellt allerdings Martin Heidegger dar, der praktisch mit der Hand philosophierte, was sich schon in seinen Begriffen zeigt. Die „Zuhandenheit“, die „Vorhandenheit“, das „Zeug“. Allerdings hat diese Faszination bei ihm auch eine dunkle Seite. Als er einmal bei dem Philosophen Karl Jaspers zu Gast war, soll dieser ihn gefragt haben: „Wie soll ein so ungebildeter Mensch wie Hitler Deutschland regieren?" Woraufhin Heidegger wohl geantwortet hat: „Sehen Sie nur seine wunderbaren Hände an!“ Wobei ich sagen muss, dass das absolute Durchschnittshände waren.
Sie zitieren im Buch auch eine Passage aus Jean-Paul Sartres Der Ekel, in der er seine tiefe Befremdung darüber zum Ausdruck bringt, dass diese Hand vor ihm auf dem Tisch zu ihm gehört, wo sie doch gewissermaßen selbst zu leben scheint.
Ich glaube, dass wir dieses Gefühl alle auf die eine oder die andere Weise kennen. Zumindest sind uns allen Formulierungen wie „Mir ist die Hand ausgerutscht“ geläufig. Wir haben ein intuitives Wissen davon, dass die Hand sich verselbständigen kann. Im Negativen, allerdings auch im Positiven.
Sie denken an künstlerische Tätigkeiten?
Unter anderem, ja. Viele Künstler sprechen davon, dass sie nicht genau wissen, was ihre Hände tun, wenn wir malen oder eine Sonate auf der Geige spielen. Oder denken sie an erotische Momente. Da wissen die Hände von sich aus, wohin sie wollen. Es gibt auch in der Neurowissenschaft zahlreiche Belege dafür, dass unsere Hände mal gespenstische, mal freundliche Gegenspieler unseres Hirns sind. Dementsprechend würde ich nicht nur von einer Extremität des Körpers, sondern auch von einer Exzentrizität des Körpers sprechen, der wir uns wieder mehr widmen sollten – besonders, wenn wir Menschen wieder umarmen dürfen und die Haptik wieder in unser Leben tritt.•
Jochen Hörisch war Professor für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim. Sein aktuelles Buch „Hände - Eine Kulturgeschichte“ erschien jüngst bei Hanser.
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