Kampf um die Kuhglocke
In Bayern fordern die Freien Wähler den gesetzlichen Schutz von „regionaltypischen Gerüchen und Geräuschen“. Was sich zunächst nach einer konservativen Skurrilität anhört, besitzt nicht nur einen ernsten Hintergrund, sondern hätte vermutlich auch die Unterstützung des marxistischen Filmemachers Pier Paolo Pasolini gefunden.
Auf dem Land herrscht Unruhe: Der Hahnenschrei frühmorgens, das unregelmäßige Bimmeln der Kuhglocken von der angrenzenden Weide, das zwar gleichmäßig wiederkehrende, aber ebenfalls schon frühmorgendliche Läuten der Kirchglocken, dazu der durch den Grundstückszaun dringende Geruch der Ziegen oder das sich verströmende Bieraroma aus der Brauerei nebenan – nichts davon scheint mehr sicher zu sein vor der Klagewut so mancher Anwohner und frisch Zugezogener, die für Abluftventilatoren in der Dorfbäckerei und Mindestabstände von Kuhherden auch bereit sind, durch die Instanzen zu gehen.
Der offen ausgetragene Unmut gegen die Lebensbegleitumstände auf dem Land, der sich auf besonders skurrile Weise zuletzt etwa im „Holzkirchner Kuhglockenstreit“ zeigte, hat offenbar schon solche Ausmaße angenommen, dass sich die Politik in der Verantwortung sieht. So brachten die im bayerischen Landtag mitregierenden Freien Wähler kürzlich den Vorschlag ein, „regionaltypische Gerüche und Geräusche“ unter Schutz zu stellen, um damit das bayerische „Sinneserbe“ zu bewahren. Vorbild ist Frankreich, wo ein solches Gesetz letztes Jahr in Kraft getreten ist. Erwartungsgemäß wurde der Plan in Glossen und Kommentaren belächelt – nach dem Motto: Dann käme ja auch der Misthaufen als „sensorisches Kulturerbe“ in Frage.
Allerdings könnte man die Gelegenheit auch nutzen, um danach zu fragen, welche größeren gesellschaftlichen Entwicklungen sich hinter den Angriffen auf die Selbstverständlichkeiten des Landlebens verbergen? Und was diese eigentlich über unsere Zeit aussagen? Antworten darauf lassen sich bei einem Kulturkritiker finden, dessen politisches Selbstverständnis als Marxist eigentlich keine Gemeinsamkeiten mit dem Konservativismus der Freien Wähler vermuten lässt: dem italienischen Autor, Filmemacher und Publizisten Pier Paolo Pasolini.
Herrschaft des Zentrums
Begleitet von zahlreichen Skandalen hat Pasolini sich bis zu seiner nach wie vor ungeklärten Ermordung 1975 in seinem Schaffen dem Einbruch der Moderne und ihres Nützlichkeitsdenkens in archaische Kulturräume gewidmet. Dazu zählen nicht nur die mythischen Welten, in denen seine Filme Edipo Re und Medea spielen, sondern bis in die neuere Zeit hinein auch die subproletarischen Vorstädte und die bäuerlichen Lebensräume mit ihren je eigenen Dialekten, Werten und Bräuchen. Für Pasolini, selbst im ländlichen Friaul aufgewachsen und fasziniert von den Vororten Roms, zeichneten sich diese ganz und gar unbürgerlichen Kulturen durch ihre Lebensursprünglichkeit und Eigenständigkeit aus sowie durch den Stolz der Menschen, ihnen anzugehören.
Insbesondere in seinen Zeitungsessays, den Freibeuterschriften, beklagte Pasolini deshalb die Einebnung sämtlicher kultureller Eigenheiten durch eine schleichende Verkleinbürgerlichung, die nach dem Zweiten Weltkrieg überall in der westlichen Welt um sich zu greifen begann – auch in Bayern. Mit dem Versprechen materiellen Wohlstands, dem Ausbau der Infrastruktur sowie der kulturindustriellen „Gleichschaltung“ durch das Fernsehen wurden die Menschen ihrer ursprünglichen Herkunft entfremdet, der größte Teil von ihnen hat sich in der Folge bis zur Verwechselbarkeit den Anforderungen der Mittelschicht angeglichen.
Diese Form der Homogenisierung, die in Bayern indes nicht vergleichbar stark durchgeschlagen hat, geht Pasolini zufolge vom (städtisch geprägten) „Zentrum“ aus. Gemeint sind damit all jene Kräfte, die an der möglichst weitreichenden Durchsetzung einer konsumistischen Denk- und Lebensweise arbeiten: „Das Zentrum erhob seine Modelle […] zu Normen der neuen Industrialisierung, die sich nicht damit zufrieden gibt, daß der ‚Mensch konsumiert‘, sondern mit dem Anspruch auftritt, es dürfe keine andere Ideologie als die des Konsums mehr geben.“ (Alte und neue Kulturpolitik, 1973) Dabei sind nicht nur Industrie, Massenmedien und Tourismus an der Verbreitung dieses „hedonistischen Laizismus“ beteiligt, auch die kleinbürgerlichen Konsumenten selbst tragen diesen, ob bewusst oder nicht, weiter und werden so anderen Kulturen zur Gefahr.
Das Schmutzige und das Heilige
In diesem Sinne lassen sich die Versuche, Misthaufen und Hühnergackern wegzuklagen, als Zeichen eben jener weiter anhaltenden Zentralisierung deuten, wird an ihnen doch eine konsumistisch-hedonistische Anspruchshaltung deutlich – nämlich die, das größtmögliche Wohnerlebnis verdient zu haben. Hinzu kommt ein nicht weniger anspruchsvolles Besitzdenken, bei dem alles zum Ärgernis wird, was sich nicht an die eigenen Grundstücksgrenzen hält, ungeachtet dessen, dass es sich dabei möglicherweise um die Effekte lange gewachsener Strukturen handelt.
Dass es aber gerade die Gerüche und Geräusche sind, die zunehmend des Schutzes bedürfen, liegt nicht nur daran, dass diese sich mit penibel gestutzten Gartenhecken nicht abwehren lassen. Sie gelten ganz grundsätzlich im kleinbürgerlichen Wertekanon wenig: Der Geruchssinn ist der in der Moderne am geringsten angesehene, mit dem am stärksten Ekel und Scham verbunden sind. Der weit höher gewichtete Hörsinn hingegen will seinem Rang entsprechend nur von angenehmen Tönen erreicht werden, und nicht von Gegrunze und Gemecker. Bezeichnend ist zudem, dass vor allem Geräuschquellen betroffen sind, die, wie der Viehstall, für das Unsaubere stehen oder, im Falle des Angelusläutens, für das Heilige. Es ist typisch für die bürgerlich-rationale Welt, das Schmutzige und Sakrale auszuschließen, während beides in den archaischen Kulturen selbstverständlich seinen festen Platz hatte – wie auch in den Filmen und Romanen Pasolinis.
Was Pasolini und Aiwanger eint
Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich scheinen, dass sich eine konservative Partei wie die Freien Wähler in ihrem Bestreben, die Heimat olfaktorisch und akustisch zu schützen, hier mit den Ansichten eines profilierten Kommunisten trifft. Das aber liegt zum einen an Pasolinis ganz eigener Vorstellung von einer materialistisch-sozialistischen Ordnung, in der Vielfalt erhalten bleibt und nicht durch Ideologie getilgt wird. Zum anderen gibt es systemische Gründe, weshalb es zwischen den gegensätzlichen Weltanschauungen immer wieder zu Überschneidungen kommt: In ihrer nur noch selten anzutreffenden orthodoxen Form leisten Konservative und Linke nämlich beide Widerstand gegen einen Liberalismus, der ein genuines Interesse an der Erschließung neuer Märkte hat und daher so viele Menschen wie möglich durch permissiven Assimilierungsdruck dazu bewegen möchte, zu Konsumenten zu werden. Damit wird auf der einen Seite einer möglichen Revolution entgegengewirkt, auf der anderen werden kulturelle Traditionen und Identitäten unwiederbringlich zerstört.
Freilich bleibt es hier lediglich bei einer gemeinsamen Stoßrichtung, könnten die Freien Wähler allein schon mit Pasolinis Aversion gegen alles Bürgerliche nichts anfangen, mit der er sich selbst bei der zunehmend verbürgerlichten Linken unbeliebt machte. Außerdem dürften die Freien Wähler sehr genau wissen, dass sich die bewahrte Heimat mit ihren authentischen Gerüchen und Geräuschen gut vermarkten lässt. Dies mag vielleicht nicht alle betreffen, die dauerhaft in ihr leben müssen, aber doch diejenigen, die zu Besuch kommen sollen. Der Stolz auf die ländliche Herkunft, wie er sich heute in Bayern allerorten finden lässt, verträgt sich mit dem Tourismus schließlich sehr gut. •
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