Karl Bartos: „Im ‚Caligari‘ geht es um das Verschwinden der Wirklichkeit“
Der expressionistische Stummfilmklassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ist ein Meilenstein der Kinogeschichte. Nun legt der Ex-Kraftwerk-Musiker Karl Bartos eine Neuvertonung des Stoffs vor. Was ihn dazu gebracht hat, erläutert er im Interview mit Florian Werner.
Das Aussehen der Titelfigur ist Arthur Schopenhauer nachempfunden, und die Handlung stellt grundlegende Fragen nach Autonomie und Autorität, Wahnsinn und Gesellschaft sowie nicht zuletzt nach der Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmungen. Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ist nicht nur ein Meilenstein des expressionistischen Kinos, sondern auch ein zutiefst philosophischer Film. Nun kommt der Stummfilmklassiker aus dem Jahre 1920 in neuem Klanggewand auf die Live-Bühne: Verantwortlich dafür zeichnet der Komponist und Musiker Karl Bartos, prägendes Mitglied der Gruppe „Kraftwerk“ und als solcher mit den ontologischen Schnittstellen zwischen Mensch und Technik innig vertraut.
Herr Bartos, bevor Sie Berufsmusiker wurden, haben Sie eine Ausbildung zum Fernmeldetechniker gemacht. Auch in Das Cabinet des Dr. Caligari geht es um Fernsteuerung: Der Titelheld steuert sein Medium, den mörderischen Schlafwandler Cesare, durch Hypnose. War die Beschäftigung mit diesem hundert Jahre alten Stoff bei Ihnen gewissermaßen biographisch vorprogrammiert?
Nein, mein Interesse kam erst später. Es entstand, als ich mit meinen alten Freunden von Kraftwerk den Fritz-Lang-Film Metropolis in Musik übersetzte — der Urgedanke von Kraftwerk war ja das oszillierende Verhältnis zwischen Mensch und Maschine. Außerdem spielte ich damals noch im Opernorchester, daher kannte ich die romantische Seite des Caligari-Stoffes, etwa von der Figur des Coppelius in Hoffmanns Erzählungen. Vor allem aber interessierte mich der historische Zusammenhang: der Erste Weltkrieg, als die Industrialisierung des Tötens erfunden wurde. Und das spürt man, wenn man den Caligari sieht. Zunächst nur unbewusst, aber je mehr man darüber liest und sich einsieht in diesen expressionistischen Ansatz, desto stärker.
Einer der beiden Drehbuchautoren, Hans Janowitz, war als Offizier im Ersten Weltkrieg. Der andere, Carl Mayer, hatte eine Geisteskrankheit vorgetäuscht, um dem Kriegsdienst zu entgehen.
Ja, aber ihre Beschäftigung mit dem Stoff beginnt schon früher. Janowitz hatte vor dem Weltkrieg eine Stelle als Regieassistent am Hamburger Schauspielhaus, und während dieser Zeit trieb ein Serienmörder auf dem Dom, also dem Hamburger Volksfest, sein Unwesen. Und Janowitz hatte die fixe Idee, dass er diesem Mörder irgendwo begegnet sei: dass er beobachtet habe, wie der Mörder mit einem seiner Opfer im Gebüsch verschwunden ist. Dann kam der Krieg. Und danach beschlossen Janowitz und Mayer, aus solchen persönlichen Erinnerungen, aus Kriegserlebnissen und anderen Anleihen dieses Drehbuch zu erfinden. Das bringt mich auch zum Kern dessen, was mich an diesem Film so interessiert: Es geht um das Zusammentreffen von Kreativität. Das Kunstwerk tritt in das „Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ ein — und genau in diesem historischen Augenblick trifft die Kreativität dieser Drehbuchautoren, des Regisseurs, der Schauspieler, des Produzenten Erich Pommer und vieler anderer zusammen. Das Filmkunstwerk, so wie wir es heute kennen, hat dort seinen Ursprung.
Der Caligari stellt mit seinen Kulissen, Kostümen und so weiter ja sogar eine Art von Gesamtkunstwerk dar — außer dass ihm eben, weil er ein Stummfilm ist, die Tonspur fehlt.
Genau — und das war mein Ticket! (lacht)
Der Schlafwandler Cesare ist, um eine Formulierung von Markus Metz und Georg Seeßlen zu verwenden, ein „philosophischer Zombie“: Er hat keinen eigenen Willen, keine Sprache, nichts, was ein Subjekt gemeinhin ausmacht — er hat aber durchaus etwas Tänzerisches, bewegt sich wie in einer Choreographie. Tatsächlich kann gerade Musik eine hypnotische Macht auf uns Menschen ausüben, kann uns überwältigen, Gefühle oder Tanzbewegungen aufzwingen, uns fremdbestimmen wie Dr. Caligari. Schlummert in uns allen ein Cesare?
Mich hat die Musik ja mitten in der Pubertät erwischt: Mein späterer Schwager Peter Hornshaw, ein britischer Militärpolizist, brachte die erste Beatles-Platte A Hard Day’s Night mit — und diese Musik sprach zu mir, obwohl ich den Text nicht verstand! Von diesem Moment an bekam Klang für mich eine andere Bedeutung: Ich wollte mich so fühlen, wie die Beatles klangen — und ich wusste, dass ich mit diesem Gefühl durchs Leben gehen will. Aber da Sie die Choreographie von Caligari erwähnen: Normalerweise wird bei einem Tanzstück ja erst die Musik komponiert, und dann entwickelt jemand eine Choreographie dazu. Beim Caligari ist es meinem Empfinden nach genau umgekehrt: Ich sah die Choreographie, die Geschwindigkeit der Bewegungen, die Montage — und das war die Quelle meiner Musik. Der Film handelt ja nicht zuletzt vom Verhältnis zwischen Mensch und Kunst, deswegen ist er auch bei Künstlern so beliebt. In seinem allerletzten Video, zum Song Lazarus, spielt David Bowie den Cesare, wie er in den Schrank zurückgeht.
Auch das androgyne Element, das bei Bowie so wichtig ist, ist bereits in der Figur des Cesare angelegt!
Klar, Bowie hat ihn kopiert — auch schon vorher, seine ganze Bühnenshow war von dem Film inspiriert. Deshalb ist die Traumfabrik von Weimar auch so extrem wichtig: Weil sie die Welt von heute vorwegnimmt.
Das erste Stück Ihrer Neuvertonung, direkt nach dem Prolog, beginnt mit den Klängen eines Vibraphons, im Titelstück The Cabinet of Dr. Caligari ertönt prominent eine Kesselpauke — beides Instrumente, die Sie seinerzeit am Robert-Schumann-Konservatorium in Düsseldorf studiert haben. Ist der Soundtrack zum Caligari eine Art musikalische Autobiographie von Ihnen?
Da müsste ich ja bei Monteverdi anfangen! (lacht) Nein, der Grundgedanke war folgender: Das Cabinet des Dr. Caligari ist ein Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts, es stammt vom Anfang der Moderne, aus dem taumelnden Trauma nach dem ersten Weltkrieg. Aber die Geschichte spielt in der Epoche der Romantik, und in einem Rückblick innerhalb des Films ist plötzlich vom achtzehnten Jahrhundert die Rede, das heißt: Wir befinden uns zu Lebzeiten von Johann Sebastian Bach. Man hat es also mit verschiedenen Dimensionen der Zeit zu tun — und das kenne ich nun mal aus dem Musikstudium: Morgens hört man sich den Orfeo von Monteverdi an, mittags ist Kontrapunkt-Studium à la Johann Sebastian Bach, und danach spielt man im Klavierunterricht Prokofjews Peter und der Wolf. Die Entwicklung der europäischen Musik ist immer als Ganzes erkennbar. Aus der Postmoderne kennen wir das Prinzip der Zitation — ich wollte aber nichts Bestimmtes zitieren, und dadurch gelangte ich zur Idee der Transformation. Ich wollte einen durchgehenden Klangkörper, der heute gehört werden kann, der aber auch im neunzehnten oder achtzehnten Jahrhundert als solcher erkennbar wäre.
Sie bezeichnen Ihre Vertonung allerdings nicht nur als „erzählende Filmmusik“, sondern auch als „Sound-Design“ — was ist damit gemeint?
Als ich mit der Arbeit an dem Film begonnen habe, bin ich erst einmal auf Tauchstation gegangen und habe jeden einzelnen Klang der Filmhandlung wiederhergestellt, wie ein Geräuschemacher oder Foley Artist: Ich habe sozusagen mein ganzes Haus aufgenommen! Jeder Fußtritt, jedes Klopfen, jedes Türöffnen und Jahrmarktklingeln — der Film enthält alle Geräusche der erzählten Welt. Ich wollte aber keinen Tonfilm machen, denn der Inhalt des Gesagten ist ja auf schriftlichen Zwischentafeln präsent. Also habe ich stattdessen die Sprache musikalisiert. Deshalb sprechen die Menschen in meinem Sound-Design auch so wie in einem Gedicht von Ernst Jandl.
Obwohl es sich um einen Stummfilm handelt, wird im Caligari immer wieder das Musikmachen thematisiert: In den Jahrmarktszenen steht ein Leierkastenmann am rechten vorderen Bildrand. Und am Schluss, im Innenhof des „Irrenhauses“, spielt eine Patientin auf einem imaginären Luftklavier.
In der Filmtheorie unterscheidet man zwischen diegetischer Musik, die ihre Quellen in der Handlung hat, und nicht-diegetischer Musik, die von außen kommt. Manchmal habe ich diese beiden Ebenen bewusst miteinander verbunden, etwa wenn das Geräusch von Fußtritten in Musik übergeht: Alles spricht miteinander. Das Leitmotiv, die „Caligari-Melodie“, habe ich bereits 1972 im Kompositionsunterricht geschrieben: Das war eigentlich eine kleine Musik für Fagott, Xylophon und Klarinette. Eine andere Komposition heißt Atonal Floating, die stammt aus der Zeit, als ich mich noch mit Zwölftonmusik beschäftigt habe: Arnold Schönberg, Alban Berg …
In Ihrer Autobiographie schreiben Sie, dass Herbert Eimerts „Lehrbuch der Zwölftontechnik“ eine Zeitlang sogar Ihre Lieblingslektüre gewesen sei!
… das liegt daran, dass ich damals noch sehr jung war (lacht) — und Zwölftonmusik, das war die Anti-Mozart-Revolution. Atonal Floating ist einfach eine Zwölftonreihe, und die passte gut zum Film. Ich habe diese Elemente ziemlich kaltblütig miteinander verknüpft. Aber wenn ich den Soundtrack jetzt anderen Menschen vorspiele, wird er trotzdem als kohärenter musikalischer Code verstanden, als ein organisches Ganzes. Es gibt ja keine alte oder neue Musik — sondern nur Musik, die früher oder später komponiert wurde.
Das Ende des Films ist rätselhaft: Der Direktor der Nervenheilanstalt, den der männliche Protagonist Francis für Caligari hält, blickt in die Kamera und erklärt im Hinblick auf seinen Patienten: „Nun kenne ich auch den Weg zu seiner Gesundung“ — aber worin dieser Weg besteht, wird nicht verraten. Und auch in Ihrer Vertonung ist das Ende offen, oder? Es bleibt in der Schwebe.
Genau, die Kadenz endet mit einem 4/3-Vorhaltsakkord in Moll — aber dann geht es weiter, der Prolog wird noch einmal als Epilog gespielt, diesmal in einer anderen Besetzung, nämlich mit dem Engelschor … Meine Analyse des Films ist, dass es nicht um das Finden der Wahrheit geht wie bei Sherlock Holmes, sondern um das Verschwinden der Wirklichkeit. Die Kunst ist für mich ein geschützter Raum, um über solche Dinge nachzudenken.
Dem Filmtheoretiker Siegfried Kracauer galt Caligari als Inbegriff des Autokraten, ja sogar als fiktionaler Vorläufer von Adolf Hitler — womöglich ist er aber tatsächlich ein ehrbarer Psychiater, der von Francis zu Unrecht beschuldigt wird. Wie sehen Sie ihn? Ist die Binnenhandlung des Films nur eine Wahnvorstellung, oder ist Caligari ein autoritärer Verbrecher?
Ich glaube, es ist müßig, darüber nachzudenken — denn es gibt innerhalb der Filmerzählung ja keine Klärung. Was ich interessant finde: Im Gegensatz zu Fritz Langs Metropolis gibt es bei „Caligari“ keine Maschinen. Es geht um die Abgründe der menschlichen Seele. Wir Menschen bauen nun einmal unsere Maschinen, sie bauen sich — noch — nicht von selbst, und sie arbeiten auch nur, solange wir ihre Stromrechnung bezahlen. Darum können Maschinen niemals der Mittelpunkt der Welt sein. Es geht um den Menschen, und deshalb ist der Caligari so wichtig für unsere Zeit. •
Der Soundtrack von Karl Bartos ist seit letzter Woche als CD, Vinyl und digital erhältlich.
Künftige Liveauftritte:
2024
24.04.24 Berlin, Babylon Kino
25.04.24 Berlin, Babylon Kino
26.04.24 Dresden, Rundkino (abgesagt)
05.06.24 Hamburg, Laeiszhalle (Schleswig Holstein Musik Festival)
06.06.24 Hamburg, Laeiszhalle (Schleswig Holstein Musik Festival)
29.10.24 Berlin, Babylon Kino (neu)
30.10.24 Berlin, Babylon Kino (neu)
02.11.24 München, Prinzregententheater
04.11.24 A-Wien, Gartenbaukino
2025
14.02.25 CH-Luzern, KKL (neu)
15.02.25 München, Prinzregententheater (Zusatztermin, neu)