Per Leo: „Die identitäre Fixierung auf den Holocaust löst keine Probleme mehr, sie schafft neue“
Die Singularität des Holocaust galt lange als unbestreitbar. Nun regt sich Widerspruch. Wie erklärt er sich? Und ist er berechtigt? Ein Interview mit dem Historiker und Schriftsteller Per Leo.
Herr Leo, der australische Historiker Dirk Moses behauptete jüngst, im unbedingten Festhalten an der Singularität des Holocaust zeige sich ein deutscher „Katechismus“. Ist da etwas dran?
Moses trifft einen Punkt. Ich finde allerdings die theologische Begrifflichkeit fragwürdig und würde daher nicht von einem „Katechismus“ sprechen, sondern eher von einem „Dispositiv“ im Sinne Michel Foucaults. Wir haben es mit einem Konglomerat aus Diskursen, Praktiken und Wahrheitsansprüchen zu tun, dessen Machteffekte Kritik verdienen. Es geht bei unserem Umgang mit der Vergangenheit ja nicht nur um akademische Urteile, sondern auch um Identitäts- und Geschichtspolitik. Etwa wenn wir nach dem Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus fragen. Oder nehmen Sie die Merkel-Doktrin, die vor dem Hintergrund des Holocaust die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson erklärt. So unantastbar die Existenz Israels für uns sein sollte, so offen ist die Frage, wann Israels Sicherheit tatsächlich gefährdet ist und wann wir im Namen dieser Sicherheit eine problematische Politik decken.
Sie selbst sprechen in Ihrem Buch vom „Geschwätz von der Singularität des Holocaust“. Was meinen Sie damit?
Ich meine den mühelosen Gebrauch dieses Topos, die Tendenz, das eigene Argument moralisch zu veredeln, um im Namen der Geschichte bestimmte Positionen durchzusetzen. Das heißt nicht, dass es grundsätzlich falsch wäre, den Holocaust als singulär zu bezeichnen. Ich unterscheide ja ausdrücklich das „Geschwätz“ von der „Rede“. Denn natürlich kann man die These vertreten, der Holocaust sei ein welthistorisch einzigartiges Verbrechen gewesen. Kennzeichnend für Thesen – im Unterschied zu Dogmen – ist aber, dass sie keine absoluten Aussagen machen und darum bestreitbar sind. Wer den Holocaust vergleichend begreifen will, muss seine Spezifik untersuchen: In welcher Hinsicht war er anders als andere Völkermorde, in welcher nicht?
Dirk Moses erwähnt auch die Postcolonial Studies, deren Vertreter eine Fokussierung auf den Holocaust mit Blick auf die kolonialen Gewaltverbrechen kritisieren – und sich so dem Vorwurf ausgesetzt sehen, den Holocaust zu relativieren.
Es geht dieser Kritik, wenn ich sie richtig verstehe, nicht um eine Relativierung des Holocaust, sondern des absoluten Geltungsanspruchs, der oft mit der Rede von der Singularität verbunden ist. Die Repräsentation des Holocaust und der jüdischen Opfererfahrung hat bei uns eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Zu Recht. Der postkolonialen Kritik geht es aber darum, auch anderen Leiderfahrungen Geltung zu verschaffen. Und es geht um die wissenschaftliche Frage, in welchem historischen Verhältnis der Holocaust zum Kolonialismus stand. Ich teile nicht alle Antworten, die aus dieser Richtung kommen, aber die Fragen sind berechtigt.
Sie sprechen in Ihrem Buch vom Potenzial einer weltgeschichtlichen Betrachtung des Holocaust. Was ist damit gemeint?
Es ist eine wissenschaftliche Entscheidung, ob man den Holocaust ideen- und politikgeschichtlich unmittelbar aus der Geschichte des Antisemitismus, insbesondere des deutschen, herleitet. Oder ob man ihn als letzte Stufe eines Radikalisierungsprozesses begreift, zu dessen Voraussetzungen natürlich der Antisemitismus gehörte, der aber auch andere Kontexte hatte. So wäre dieser Völkermord etwa ohne den Ressourcen- und Vernichtungskrieg, den Nazideutschland im Osten führte, unvorstellbar gewesen. Man kann aber auch noch weiter gehen und aus einer globalgeschichtlichen Perspektive fragen, welche historische Dynamik den Zweiten Weltkrieg überhaupt ermöglichte. Dann kommt man unvermeidlich zu einer doppelten Folge des Ersten Weltkriegs. In dessen Verlauf wurde nämlich zum einen das Ressentiment gegen die Juden mit der Logik der totalen Kriegsführung verknüpft, zum anderen führte er den Untergang der kontinentalen Großimperien herbei. Der Zerfall des Russischen, des Habsburger und des Osmanischen Reiches hinterließ ein gewaltiges Ordnungsproblem, das die Siegermächte durch die Gründung von Nationalstaaten zu lösen versuchten. Aber weil dieser Neuordnungsversuch scheiterte, schaffte er die Voraussetzungen für einen weiteren Krieg, der vor allem in Mittel- und Osteuropa im Zeichen von ethnischer Homogenisierung, rassistisch interpretiertem Überlebenskampf und imperialistischer Expansion stand. Diesem Inferno war keine Gruppe so schutzlos ausgeliefert wie die Juden, die zum einen überall als innerer Feind bzw. als quasi natürlicher Verbündeter des äußeren Feindes galten, und zum anderen keinen Ort hatten, an den man sie hätte „wegbringen“ können. Wenn man in diesem Sinne welthistorisch über die genozidale Dynamik des Zweiten Weltkriegs nachdenkt, heißt das natürlich nicht, dass der Völkermord an den europäischen Juden sich daraus linear erklären ließe. Und doch fand er eben in genau diesem Kriegsgeschehen statt.
Woher genau rührt Ihrer Ansicht nach das tiefe Unbehagen, wenn der Holocaust auf diese Weise kontextualisiert und seine Singularität zur Debatte gestellt wird?
Nach meinem Eindruck erwachen wir in Deutschland gerade aus einem historischen Schlummer. Die alte Bundesrepublik war ein teilsouveräner Staat, der seine Identität vor allem durch die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst fand. Die Fokussierung auf den Holocaust hat die Neugeburt Deutschlands als westliche Demokratie symbolisch besiegelt. Das ist durchaus eine Erfolgsgeschichte. Nur muss man eben auch sehen, dass eine Bedingung dieses Gelingens in der Provinzialität unseres Landes lag. Die Bundesrepublik war bis 1990 Teil des amerikanischen Imperiums. Weil wir uns bestimmte Fragen, gerade außenpolitischer Natur, gar nicht stellen mussten, konnten wir im Inneren umso gründlicher aufräumen. Daraus sind ein funktionierender Rechtsstaat und eine funktionierende Demokratie hervorgegangen. Unsere Situation heute ist aber eine ganz andere. Und mir scheint, dass uns die gedanklichen Mittel fehlen, um diese neue Lage zu begreifen.
Inwiefern?
1986 mag es nötig gewesen sein, durch die mahnende Erinnerung an den Holocaust dem konservativen Revisionismus einen Riegel vorzuschieben. Aber gerade weil das nachhaltig geglückt ist, sollten wir mittlerweile reif genug sein, uns vor allem an den universalistischen Postulaten des Grundgesetzes zu orientieren. Die identitäre Fixierung auf Hitler und den Holocaust löst längst keine Probleme mehr, im Gegenteil, sie schafft neue. Zum Beispiel führt Deutschland wieder Kriege, doch wir weigern uns, die Sache beim Namen zu nennen und den Einsatz der Bundeswehr entsprechend zu würdigen. Wir reden über gefallene Soldaten, als wären sie verunglückt. Und wenn sie zurückkehren, nimmt sie kein deutscher Politiker in Empfang. Oder nehmen Sie den Umgang mit der AfD, der auch ganz im Zeichen des „Nie wieder“ steht. Dieser Reflex führt weg von der Frage, was denn die spezifischen Ursachen und Merkmale des heutigen Rechtspopulismus sind. Ganz zu schweigen davon, dass die Rechten natürlich sehr geschickt mit diesem Reflex spielen. Schließlich, Stichwort Holocaust: Selbstverständlich wollen wir nie wieder eine antisemitische Täternation sein. Aber das wird uns nicht helfen, den Antisemitismus der Gegenwart zu begreifen. Der Deutsche Bundestag hat auf ganzer Linie versagt, als er in der propalästinensischen Boykottbewegung BDS – die aus meiner Sicht eine politische Sackgasse ist – nichts anderes sehen konnte als eine Form von „Antisemitismus“. Das führt zu dem absurden Umstand, dass wir auch israelkritische Juden, darunter viele israelische Staatsbürger, unter Antisemitismusverdacht stellen. Wir sind in einer Welt angekommen, die im Klammern an die deutsche Geschichte nicht mehr zu begreifen ist.
Sie setzen sich sehr kritisch mit der Erinnerungskultur auseinander. Problematisch an dieser Kultur ist aus Ihrer Sicht insbesondere die Opferidentifikation.
Zunächst einmal: Nichts liegt mir ferner als die Forderung eines Schlussstrichs. Die vielfältige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist eine bleibende Errungenschaft der alten Bundesrepublik. Doch in der Bilanz ist sie zwiespältig, denn es hat immer beides gegeben: die mühsame Aufarbeitung, das würdige Erinnern und Gedenken auf der einen Seite, aber auch die stetige Tendenz zur Selbstentlastung auf der anderen.
Als Beispiel für diese Entlastung nennen Sie auch Richard von Weizsäckers berühmte Rede zum Kriegsende am 8. Mai 1985.
Das Erbe dieser Rede ist ambivalent. Sie ist darin tatsächlich historisch, dass sie die Perspektive der Opfer würdigt. Gleichzeitig aber betrieb Weizsäcker auch das Geschäft der Selbstentlastung, indem er die Deutschen kategorisch von den Tätern unterschied. Dass er sagte, Deutschland sei am 8. Mai 1945 vom Nationalsozialismus „befreit“ worden, und zugleich behauptete, „die Ausführung der Verbrechen“ habe „in der Hand weniger“ gelegen, gehört zusammen. Und beides ist historisch falsch. Die Verbrechen waren ja nur möglich, weil eine hochmobilisierte Gesellschaft dem Wahn verfallen war, einen Krieg um das eigene Überleben zu führen. Problematisch ist die Rede aber vor allem, weil sie das Opfergedenken im Land der Täter an ein Heilsversprechen aus der jüdischen Tradition knüpfte: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“.
Wie unterscheidet sich die Opferperspektive, von der Sie sprachen, von der Opferidentifikation?
Zentral ist hier die Differenz von Empathie und Identifikation. Empathie erkennt die Andersheit des anderen an. Das heißt aber auch, dass ich mir eine fremde Leiderfahrung nicht zu eigen machen kann, erst recht nicht im Land der Täter. Darum ist die Alternative nicht: Der Opfer gedenken oder sie vergessen. Vielmehr geht es darum, der Opfer zu gedenken, aber zugleich ernst zu nehmen, dass Deutschland nun mal das Land der Täter ist. Deshalb wäre es wichtig, das zunehmend mühelose Opfergedenken immer wieder mit der mühsamen Arbeit an der eigenen Tätergeschichte zu verbinden.
Statt „Erinnerungskultur“ schlagen Sie für unsere heutige Zeit einen anderen Begriff vor: „Nachleben“.
Der Begriff des Nachlebens meint: Ob wir wollen oder nicht, diese Vergangenheit ist nach wie vor lebendig, sie fordert uns, und sie tritt so widersprüchlich und vielfältig in Erscheinung, dass sie sich nicht auf eine einfache Formel bringen lässt. Ein Nachleben will gestaltet werden. Es stiftet aus sich selbst heraus keinen Sinn mehr, vielmehr appelliert es an uns: Denkt neu über diese Vergangenheit nach, lasst euch von ihr irritieren, fragt euch, ob sie uns heute noch das Gleiche zu sagen hat wie vor 30 Jahren!
Am Ende Ihres Buches erzählen Sie von Ihrer 14-jährigen Tochter, die – anders als Sie – in einem Sitzkissenbezug keine Hakenkreuze mehr erkennt, sondern einfach nur ein dekoratives Muster.
Unsere Kinder gehören zur ersten Generation, die vom Nationalsozialismus nicht mehr lebensweltlich geprägt ist. Für sie ist die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte nicht mehr so selbstverständlich, wie sie es für Sie und mich allein durch die Begegnung mit unseren Großeltern noch war. Das bedeutet zunächst mal Freiheit. Anders als die vorherigen Generationen können unsere Kinder weitgehend selbst entscheiden, ob und wie sie unser historisches Erbe zu ihrem Thema machen wollen. Dazu gehört natürlich auch die Möglichkeit, es zu ignorieren. Ich hoffe aber, dass sie weiter Verantwortung für die Vergangenheit empfinden werden. Aber das sind Väterwünsche. Wir müssen anerkennen, dass diese Generation, wenn sie es denn tut, über den Nationalsozialismus und den Holocaust in einem anderen, vermutlich globaleren Kontext nachdenken wird. In einer Welt der Migrationsbewegungen, der postkolonialen Folgeprobleme, der ökonomischen und ökologischen Verflechtung, konfrontiert mit Problemen, die weniger denn je im nationalstaatlichen Rahmen zu lösen sind. Die alte Bundesrepublik hat gut daran getan, einen unglückseligen Pfad der deutschen Geschichte zu verlassen. Aber wenn wir heute unseren Platz in der Welt finden wollen, dürfen wir uns nicht länger hinter unserer Vergangenheit verstecken. •
Per Leo wurde mit einer Arbeit über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland promoviert. Sein Debütroman „Flut und Boden“ stand auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises. Soeben ist Per Leos Buch „Tränen ohne Trauer – Nach der Erinnerungskultur“ bei Klett-Cotta erschienen.