Magdalena Müssig: „Ist Heterosexualität nicht einfach ein Trend?“
Bleibt die Solidarisierung mit LSBTIQ*, wie sie während der Fußball-EM praktiziert wurde, eine leere Geste? Ja, wenn nicht genauer analysiert wird, wo und warum Solidarität überhaupt notwendig ist. Ein Interview mit Magdalena Müssig.
Frau Müssig, zunächst die Frage: Wie bezeichnen Sie die Menschen, für die Sie sprechen?
Wir sagen in der Stiftung: LSBTIQ*, benutzen also das deutsche Akronym, das für lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche und queere Personen steht. Das Sternchen soll das Ganze noch einmal öffnen für andere Selbstbezeichnungen. Insgesamt geht es um Menschen, die von der Hetero-Cis-Norm abweichen.
Cis, das meint?
Cis oder cisgeschlechtlich sind Adjektive für Menschen, denen bei Geburt das männliche oder das weibliche Geschlecht zugeschrieben wurde und die sich ihr Leben lang mit diesem Geschlecht identifizieren können. Wenn also bei Geburt aufgrund der Genitalien festgestellt wird: „Das ist ein Mädchen“, und das für dieses Mädchen und später diese Frau stimmt, sie sich ihr Leben lang als Frau identifiziert, dann ist sie cis.
Wo genau werden Menschen, die von dieser Norm abweichen, heute noch diskriminiert?
Zunächst einmal zur Situation weltweit: In 69 Staaten wird Homosexualität immer noch kriminalisiert, in 67 Staaten rechtlich, in zweien de facto. Viele dieser Gesetze in postkolonialen Staaten wurden durch den Kolonialismus eingeführt. Perfide ist, dass Queerness in diesen Ländern als westlicher Import angesehen und deshalb abgelehnt wird. Dabei sind eigentlich die Gesetze der westliche Import. In der EU sind sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Fluchtgrund anerkannt, doch werden im Zuge der Asylverfahren oft sehr stereotype Vorstellungen von Homosexualität und Geschlecht deutlich. Einem schwulen Mann wird zum Beispiel im Prüfungsverfahren eher geglaubt, wenn er sehr feminin wirkt und spricht.
Und wie ist die Situation in Deutschland?
Rechtlich hat sich hierzulande in den letzten Jahrzehnten sehr viel verändert. Bis 1994 stand männliche Homosexualität noch im Strafgesetzbuch. Die BRD hat nach 1945 den Paragraphen 175 vom NS-Regime übernommen und männliche Homosexualität bis 1969 auch noch aktiv strafrechtlich verfolgt. Zwischen 1945 und 1969 wurden in der BRD 50000 Männer nach diesem Paragraphen verurteilt, teilweise mit Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren. 1969 wurde das Totalverbot aufgehoben, aber homosexuelle Sexarbeit und einvernehmliche sexuelle Handlungen mit Jugendlichen des gleichen Geschlechts unter 21 und später unter 18 Jahren blieben strafbar. Erst 1994 wurde der Paragraph dann vollständig aus dem Strafgesetzbuch genommen. In der DDR wurde der Paragraph 175 abgeschafft, aber 1968 ein neues Gesetz eingeführt, das gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen mit Jugendlichen für Männer und für Frauen unter Strafe stellte. Im Jahr 2000 wurde das Lebenspartnerschaftsgesetz eingeführt, wodurch gleichgeschlechtlichen Paaren fast die gleichen Rechte zugesprochen wurden wie heterosexuellen verheirateten Paaren. 2017 wurde schließlich auch die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet; seither dürfen sie auch ein Kind adoptieren. Trotzdem gibt es immer noch rechtliche Diskriminierung …
Und zwar wo?
Zum Beispiel im Abstammungsrecht. Wenn ein heterosexuelles verheiratetes Paar ein Kind bekommt, dann ist der Mann automatisch der rechtliche Vater, egal ob er jetzt der biologische Vater ist oder nicht. Danach fragt niemand. Wird aber ein Kind in eine lesbische Ehe geboren, ist die Mutter, die es nicht zur Welt gebracht hat, nicht automatisch die Mutter. Sondern sie muss das Kind als Stiefkind adoptieren. Das ist ein ziemlich langwieriger Prozess, der dauert eineinhalb bis zwei Jahre; in dieser Zeit hat das Kind nur ein rechtliches Elternteil. Das soll zwar geändert werden, es gab auch innerhalb dieser Legislaturperiode solche Bestrebungen, aber bisher ist nichts beschlossen worden. Diese rechtliche Diskriminierung betrifft auch Menschen, die die Personenstände „divers“ oder „kein Geschlechtseintrag“ haben. Auch dann ist die Elternschaft nicht automatisch gegeben.
Es gibt also vier Personenstände: Männlich, weiblich, divers, kein Geschlechtseintrag. Richtig?
Ja, genau. Und es ist für trans Personen (wir schreiben trans als Adjektiv, womit verdeutlicht werden soll, dass trans eine Eigenschaft ist, aber nicht die bestimmende) bis heute gar nicht so einfach, den Personenstand zu ändern. Trans Personen sind Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen zugeschrieben wurde. Und viele entscheiden sich, den Personenstand und auch den Vornamen rechtlich zu ändern. Im Moment funktioniert das noch über das Transsexuellengesetz, das aus dem Jahr 1980 stammt. Das war das erste Gesetz, dass eine Personenstandsänderung überhaupt ermöglicht hat, war aber mit sehr, sehr vielen Hürden verbunden. Menschen unter 25 Jahren zum Beispiel durften ihren Personenstand am Anfang überhaupt nicht ändern. Zudem war sehr lange eine Sterilisation notwendig, um die Änderung vorzunehmen.
Warum Sterilisation?
Weil trans Personen sich nicht fortpflanzen sollten. Seit 1980 wurden vom Bundesverfassungsgericht viele Regelungen des Transsexuellengesetzes für nichtig erklärt, darunter 2011 auch die Sterilisation. Was aber trans Personen jetzt noch machen müssen, um ihren Personenstand zu ändern: Sie müssen einen Antrag beim Amtsgericht stellen und zwei Gutachten von Sachverständigen einholen. Das Ganze ist ein gerichtlicher Prozess, der teuer ist - er kostet im Schnitt ungefähr 1800 Euro – und außerdem lange dauert, nämlich 15 bis 20 Monate. Grund hierfür ist eine nach wie vor existierende pathologisierende Logik, der zufolge die sogenannte Transsexualität eine Krankheit ist und Betroffene vor sich selbst geschützt werden müssen. Gefordert wird deshalb von Transverbänden, die Begutachtungspflicht abzuschaffen und trans Menschen zu ermöglichen, auf dem Standesamt die Geschlechtszugehörigkeit zu wechseln. Zwar gab es in dieser Legislaturperiode Gesetzesentwürfe für eine Neufassung des Gesetzes, einen von den Grünen und einen von der FDP, aber die kamen nicht durch.
Nun gibt es ja auch trans Personen, die nicht nur ihren Namen und ihren Personenstand ändern, sondern auch eine Geschlechtsanpassung vornehmen möchten. Betreffen die Forderungen nach mehr Selbstbestimmung denn im Kern nur die formale Personenstandsänderung oder geht es auch eine Vereinfachung von solchen hormonellen oder operativen Eingriffen?
Ja, es geht auch um medizinische Behandlungen, insbesondere um die Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Die Krankenkassen übernehmen medizinische Behandlungen von trans Personen – also zum Beispiel Hormonbehandlungen, Epilationen, Operationen –, nur unter hohen Voraussetzungen, dazu gehören eine Psychotherapie und der sogenannte Alltagstest, das heißt dass man eine bestimmte Zeit im Zielgeschlecht gelebt haben muss. In der Praxis heißt das, dass trans Personen oft sehr lange und anstrengende Rechtsstreitigkeiten mit den Krankenkassen um die Kostenübernahme führen müssen. Für nicht-binäre Personen, also Personen, die keine weibliche oder männliche Geschlechtsidentität haben, ist die Kostenübernahme gar nicht vorgesehen. Trans Verbände fordern, dass trans Gesundheitsversorgung selbstbestimmt und nicht-pathologisierend gewährleistet wird.
Gegen eine stärkere Vereinfachung der Prozesse wird häufig ins Feld geführt, dass es sich bei Transgeschlechtlichkeit um einen „Trend“ auch und insbesondere unter Jugendlichen handele, es also gar nicht im Kern um Selbstbestimmung gehe, sondern eher um eine Mode. Was halten Sie von dem Argument?
Ich würde eher sagen, dass wir in den letzten Jahren eine leicht erhöhte Akzeptanz und Sichtbarkeit von Transgeschlechtlichkeit beobachten und trans Jugendliche und trans Kinder jetzt endlich auch Vorbilder haben. In der Trend-Rhetorik steckt ziemlich viel Transfeindlichkeit und ein Festhaltenwollen am starren binären Geschlechtersystem. Warum sollte jemand aus einer Laune heraus den Personenstand wechseln? In einigen Ländern, zum Beispiel Argentinien oder Dänemark, ist die unkomplizierte Änderung des Personenstands auf dem Standesamt möglich, und die Daten aus diesen Ländern bieten keine Grundlage für diese oft genannte Befürchtung. Und klar, natürlich kann man immer fragen: Was ist Identität? Woher kommen Wünsche? Aber das gilt doch für cis und heterosexuelle Identitäten genauso. Wenn mir suggeriert wird, dass ich ein Mädchen bin und ich das okay finde – woher kommt das? Aus mir selbst? Oder sind hier nicht auch gesellschaftliche Normen verantwortlich? Sind, so könnte man doch fragen, Cisgeschlechtlichkeit und Heterosexualität nicht auch einfach ein Trend, eine krasse soziale Norm?
Das stimmt. Aber könnte man hier nicht einwenden, dass man in dem einen Fall nichts tun muss und alles so lassen kann, wie es ist? Im anderen Fall aber müssen Änderungen vorgenommen werden, nicht nur am Personenstand, sondern möglicherweise auch am eigenen Körper… und was, wenn man diese Veränderungen hinterher bereut?
Es ist natürlich wichtig, Kinder gut zu begleiten und Beratungsräume zu schaffen, wo sie herausfinden können, wer sie sind und wer sie sein wollen. Wenn Kinder eine Transidentität ausbilden und den Wunsch zu transitionieren fest äußern, dann macht es Sinn, zu Beginn der Pubertät Pubertätsblocker zu geben. Das heißt, da werden keine Hormone verabreicht, sondern die Pubertät wird geblockt, das Einsetzen der Geschlechtshormone wird rausgezögert. Wenn Kinder sich damit wohl fühlen, kann mit Hormonen eine Pubertät im Zielgeschlecht eingeleitet werden.
Es gibt Fälle, in denen Menschen eine Transition bereuen. Das ist tragisch und muss gut aufgefangen werden. Doch Studien zeigen, dass die meisten Menschen, die transitionieren, zufrieden mit dieser Transition sind. Und bei denjenigen, die die Transition bereuen, liegt das in den meisten Fällen an äußerem Druck, also zum Beispiel an Diskriminierungserfahrungen, die sie machen. Und zu dem Punkt „alles so lassen können, wie es ist“: Jedes cis Mädchen bekommt die Pille angeboten, das sind ja auch Hormone, die früh verabreicht werden. Aber weil die Verabreichung im zugeschriebenen Geschlecht verbleibt, wird das akzeptiert. Oder denken Sie an eine Brustvergrößerung. Geschlechtsfortschreibende Hormone oder Operationen sind sehr leicht zugänglich, und das, obwohl auch sie Risiken bergen und eine Behandlung später bereut werden kann. Oder denken Sie an medizinisch unnötige Operationen an intergeschlechtlichen Kindern, die erst seit diesem Jahr verboten sind …
Was hat es damit auf sich?
Intergeschlechtlich bedeutet, dass Menschen körperliche Merkmale haben, die nicht den medizinischen Normen von männlichen und weiblichen Körpern entsprechen. Intergeschlechtliche Kinder wurden häufig schon im Kleinkindalter operiert, ihre Genitalien wurden dann chirurgisch an die männliche oder weibliche Norm angepasst. Diese Operationen sind medizinisch unnötig und rein kosmetisch und bringen oft lebenslange gesundheitliche Einschränkungen mit sich. Erst seit Mai dieses Jahres sind diese geschlechtszuweisenden Operationen an intergeschlechtlichen Kindern verboten. Hier kann man auch fragen: Warum war es jahrzehntelang rechtens, dass intergeschlechtliche Kleinkinder, die nicht zustimmen konnten, unnötig operiert werden, während erwachsene trans Menschen jahrelang dafür kämpfen müssen, eine Operation zu bekommen, die sie wollen und die ihnen das Leben erleichtert? Die Antwort lautet: Weil unsere Gesellschaft das Zwei-Geschlechter-Modell nicht loslassen will.
Eine Abweichung von der heterosexuellen Norm geht also trotz rechtlicher Angleichungen immer noch mit handfesten Nachteilen und Diskriminierung einher?
Ja. Eine Studie vom deutschen Jugendinstitut aus dem Jahr 2015 besagt, dass 82 Prozent der lesbischen und schwulen und bisexuellen Jugendlichen angaben, Diskriminierung zu erleben. Bei transgeschlechtlichen Jugendlichen waren es fast 100 Prozent. Auch wenn sich die rechtliche Lage verbessert hat, müssen sich queere Jugendliche immer noch „outen“ und ihren Eltern irgendwann erzählen, dass sie schwul, lesbisch, bisexuell oder trans sind.
Die schwierige Frage ist natürlich, wo Diskriminierung beginnt. Was entgegnen Sie, wenn zum Beispiel jemand sagt: ‚Wo ist das Problem? Wenn die große Mehrheit der Bevölkerung nun mal heterosexuell ist, ist es dann nicht einfach so, dass das nolens volens die Norm ist, und LSBTIQ* eher die Abweichung – und zwar rein aus quantitativen Gründen, also ganz wertfrei? Ähnlich, wie es die Norm ist, dass Fahrräder zwei Reifen haben, und wenn eines drei hat, schaut man noch einmal hin, aber ohne das jetzt besser oder schlechter zu finden?‘
Die Frage ist doch: Was ist normal? Und das verschiebt sich ja gerade sehr. Außerdem zeigt ein Blick in die Geschichte und auch in andere Kulturen, dass Heterosexualität und ein binäres Geschlechtersystem durchaus nicht die natürliche Form des Menschen sind. Es gibt viele Kulturen, in denen mehr als zwei Geschlechter selbstverständlich waren und in denen Menschen, die sich nicht klar dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zuordnen lassen, verehrt wurden. Diese Traditionen wurden durch die Kolonialisierung vielfach zerstört oder verboten, existieren aber immer noch. In der indigenen Bevölkerung Nordamerikas zum Beispiel gibt es die so genannten „Two-Spirits“. „Two-Spirits“ steht für beides, männlich und weiblich. In Südasien gibt es die „Hijras“.
Gut, aber was, wenn unser Freund von vorhin jetzt sagt: ‚Ja, natürlich muss man non-binäre Entwürfe respektieren. Aber trotzdem braucht man für die Fortpflanzung nun einmal Mann und Frau. Und zwar natürlicherweise.‘
Da würde ich entgegnen: Es sind gerade nicht immer Mann und Frau, die sich fortpflanzen. Sondern man braucht dafür nur bestimmte Organe. Auch ein trans Mann kann gebären.
Und der Penis kann einer trans Frau gehören …
Ja, genau. Und was heißt schon Natürlichkeit? Wir haben so vieles in unserer Lebenswelt technisiert. Es ist doch auffällig, dass das Natürlichkeitsargument kaum noch Anwendung findet, außer im Bereich Geschlecht und Fortpflanzung. Und wenn es mehr Rechte für queere Personen gibt, dann wird die Menschheit nicht aussterben. Das scheint ja tatsächlich oft die Angst zu sein, dass wenn man alles erlaubt, sich niemand mehr fortpflanzt. Steht da etwa die Angst dahinter, dass niemand freiwillig heterosexuell wäre? Und zum Stichwort „wertfreie Abweichung von der Norm“: Trans Personen machen immer wieder die Erfahrung, dass nicht der richtige Name, nicht das richtige Pronomen verwendet wird und anmaßende Fragen gestellt werden, die ganz und gar nicht wertfrei sind.
Welche zum Beispiel?
Fragen, die cis Personen nicht gefragt werden. So was wie: Welche Genitalien hast du?
Eine solche Frage kann sicher sehr abwertend gemeint sein, aber doch auch im Sinn einer interessierten Nachfrage, oder?
Es geht um das Gefühl, anders gemacht zu werden, exotisiert zu werden, Gegenstand fremder Interessensbefriedigung zu sein. Bei so einer Frage steht eben nicht das Wohlbefinden einer Person im Mittelpunkt, sondern mein Interesse. Ich meine: Wenn eine Nachfrage potenziell verletzend ist, ist es besser, auf sie zu verzichten.
Aber sind wirklich interessierte Nachfragen nicht immer ein bisschen heikel? Und wäre es nicht vielleicht gerade in einem Transformationsprozess, wie wir ihn gerade erleben, von Vorteil, wenn die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft mit LSBTIQ* in ein interessiertes Gespräch einträte?
Es gibt ja sehr viele Informationen und auch sehr viele queere Personen, die viel über sich erzählen: bei TikTok, bei Instagram, bei Youtube. Es gibt viel Wissen, das Menschen sich abholen können. Viele trans Personen fragen sich: Warum muss ich ständig erklären, was Transgeschlechtlichkeit heißt, wenn doch dafür einmal googeln reicht? Es geht um diese Anspruchshaltung der Dominanzgesellschaft, dass Minderheiten sich zu erklären haben.
Um noch einmal auf die Fortpflanzung zurückzukommen: Wie ist das denn eigentlich, wenn ein trans Mann ein Kind zur Welt bringt? Bekommt er dann trotzdem einen Mutterpass?
Das ist in der Tat ein wichtiger Punkt. Wenn ein trans Mann ein Kind gebiert und rechtlich den Personenstand geändert hat, wird er trotzdem als Mutter in die Geburtsurkunde eingetragen. Und übrigens auch mit dem alten Namen. Letzteres widerspricht dem so genannten Offenbarungsverbot: Wenn Personen ihren Personenstand nach dem Transsexuellengesetz geändert haben, dann darf der alte Name nicht offenbart werden. Das Amt darf diesen Namen nicht rausgeben. Aber trotzdem wird der alte Name in die Geburtsurkunde eingetragen. Dasselbe bei trans Frauen, die ein Kind gezeugt haben. Und deshalb ist die Forderung, dass im Abstammungsrecht von „Elternteilen“ die Rede ist, und nicht von „Mutter“ und „Vater“.
Aber was macht man, wenn eine Frau Wert darauflegt, in der Geburtsurkunde „Mutter“ genannt zu werden und ein Mann Wert darauflegt, ein „Vater“ zu sein und kein neutrales „Elternteil“? Führt man so nicht im Grunde neue Diskriminierungspotenziale ein? Zumal es ja gerade um die Anerkennung von Geschlecht geht und nicht um die Tilgung?
Die Bezeichnungen Mutter und Vater müssen ja nicht unbedingt abgeschafft werden, wir brauchen aber zumindest zusätzlich Bezeichnungen, die alle Menschen umfassen. Elternteil wäre eine solche Bezeichnung. Oft wird gesagt, das betrifft ja nur ganz wenige, für die allermeisten passt es doch, müssen wir das jetzt wirklich ändern. Aber es ist doch Aufgabe unserer Demokratie, gerade Minderheiten zu schützen. Und ja, es geht um die Anerkennung aller Geschlechtsidentitäten und -ausdrücke, nicht darum, Geschlecht abzuschaffen. Aber es geht auch darum, der Kategorie Geschlecht ihre Bedeutung zu nehmen. Welches Geschlecht wir haben, bestimmt viel zu sehr, welche Rolle wir in der Gesellschaft haben. Unser Geschlecht – das an unseren Körpern festgemacht wird – schreibt uns immer noch vor, was wir tun dürfen und was nicht.
Aber gibt es hier nicht einen Widerspruch? Auf der einen Seite geht es Ihnen ja gerade darum, alle Geschlechtsidentitäten möglichst genau zu bezeichnen, Stichwort LSBTIQ*. Auf der anderen möchten Sie dem Geschlecht die Bedeutung nehmen – wie geht das zusammen? Oder müssten Sie eher sagen: Sie möchten die heterosexuelle Geschlechtsidentität in ihrer Bedeutung mindern, die sie gegenwärtig hat, um andere Identitäten aufzuwerten?
Dem Ordnungsmuster Heteronormativität die Bedeutung nehmen, darum geht es. Das heißt, die strikte Zwei-Geschlechter-Ordnung, in der alle heterosexuell sein sollen, in Frage zu stellen. Solange diese Ordnung so wirkmächtig ist, solange alle Menschen immer und überall in Männer und Frauen eingeordnet werden und sich in das andere Geschlecht verlieben sollen, ist es wichtig, aufzuzeigen, dass diese Ordnung viele Menschen ausschließt. Und das geht eben auch darüber, sprachliche und rechtliche Anerkennung einzufordern. Würde die Kategorie Geschlecht ihre Bedeutung verlieren, müssten diese Anerkennungskämpfe doch gar nicht mehr geführt werden. Dann hätten wir keinen amtlichen Geschlechtseintrag, dann müssten wir nicht überall unser Geschlecht angeben, dann würde unser Geschlecht nicht mehr unsere Berufswahl mitbestimmen. Das heißt nicht, dass wir kein Geschlecht mehr haben dürfen, dass jetzt alle androgyn aussehen müssen. Ganz im Gegenteil, Geschlecht ist doch was Tolles, und es kann total Spaß machen, damit zu spielen, verschiedene Geschlechtsausdrücke und -rollen auszuprobieren. Aber im Moment ist es ja sehr eingeschränkt, wie Menschen Geschlecht ausdrücken dürfen. Ein Mann mit Nagellack ist ja schon extravagant! Nicht mehr alles zu vergeschlechtlichen, könnte Geschlecht diese Bedeutung und Enge nehmen.
Um noch einmal auf das „Elternteil“ zurückzukommen: Wie werden diese Forderungen nach sprachlicher Geschlechtsneutralisierung denn eigentlich aus feministischer Sicht gesehen? Das Subjekt ‚Frau‘ ist für viele Feministinnen ja wichtig?
Es geht bei all diesen Forderungen nicht darum, Frauen unsichtbar zu machen, sondern das starre Zwei-Geschlechter-System zu öffnen. Es ist immer notwendig, Sexismus mitzudenken. Wenn wir uns zum Beispiel nochmal den Bereich Fortpflanzung angucken: Schwangerschaft und Weiblichkeit sind sozial so miteinander verwoben, dass die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft mit Schwangerschaft und Geburt umgeht, sexistisch ist – denken wir nur daran, dass Schwangerschaftsabbrüche immer noch im Strafgesetzbuch stehen. Aber wir müssen auch mitdenken, dass diese Verwobenheit eine soziale und keine natürliche ist und nicht alle Personen, die schwanger werden können, Frauen sind.
Mein Gefühl ist, dass man oft das eine gegen das andere ausspielt, also Transrechte gegen Frauenrechte, aber die Unterdrückungsursache ist doch in beiden Fällen dieselbe: es handelt sich um ein zweigeschlechtliches System, das von Männern dominiert wird. Aber ja, es gibt auch radikalfeministische Strömungen, die darauf bestehen, dass das Geschlecht rein biologisch ist. In ihrer Logik sind trans Frauen keine Frauen, sondern verkleidete Männer, die in Frauenräume eindringen und trans Männer auch keine Männer, sondern Frauen, die vor dem Patriarchat kapitulieren. Meines Erachtens spricht diese Perspektive Menschen das Recht auf Selbstbestimmung ab – dabei ist das doch eigentlich eine grundfeministische Forderung. Letztendlich ist der Kampf ums Geschlecht immer ein Kampf um Deutungshoheit.
Frau Müssig, letzte Frage: Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht in seinem Buch „Gesellschaft der Singularitäten“ von einer Aufwertung des Besonderen in der Spätmoderne und einer Abwertung des Allgemeinen, Normalen, Standardisierten. Sehen Sie in dieser gesellschaftlichen Tendenz eine Chance für die Anerkennung von LSBTIQ*? Gar vielleicht den Anfang einer neuen, diversen Normalität?
Reckwitz macht ja das Gedankenspiel auf, was wäre, wenn nur noch die Logik des Besonderen wirken würde, wenn wirklich jeder Mensch als singulär, als besonders wahrgenommen würde. Dann wäre jeder Mensch jedweder Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung besonders und schützenswert. Doch Reckwitz beschreibt auch, dass dies in unserer spätmodernen Gesellschaft nicht der Fall ist: Die zunehmende Singularisierung bedeutet nicht, dass jedes Individuum als besonders und damit wertvoll gilt. Vielmehr gibt es einen Wettbewerb darum, was als besonders gilt. Was nicht als besonders gilt, wird abgewertet. Damit führt die zunehmende Singularisierung faktisch zu immer asymmetrischeren Verhältnissen: Die Aufwertung derjenigen, die als besonders gelten, geht einher mit der Abwertung der anderen, die nicht als besonders gelten.
Was heißt das nun für unseren Kontext?
Ich denke im Kontext Queer können wir das ganz gut beobachten: Queer ist in den letzten Jahren hip geworden, das sehen wir am Regenbogenkapitalismus und daran, wie viele Regenbogenflaggen im Pride-Monat Juni gehisst werden. Die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz des Nicht-Heteronormativen ist begrüßenswert, keine Frage. Doch wir können auch sehen, dass hier neue Normativitäten entstehen: Das hippe, coole Queer ist jung, mittelständig, weiß, nicht behindert, schlank. Das heißt, wenn das Queere nur als besonders anerkannt wird, wenn es heraussticht, wenn es affizieren kann, wenn es bestimmten Normen des Besonderen entspricht, dann profitieren eben nur manche von dieser Singularisierung. Und insbesondere queere Menschen, die Mehrfachdiskriminierung erfahren, werden nicht aufgewertet. Sie werden nicht als besonders und wertvoll gesehen. Inwiefern profitiert zum Beispiel eine lesbische, obdachlose Frau davon, dass Queerness hip geworden ist, oder eine geflüchtete trans Person? Gar nicht, denn es ist nicht ihre Queerness, die hip geworden ist. Und hier müssen wir ansetzen: Eine queere Politik muss intersektional gedacht sein und gegen jegliche Diskriminierungen kämpfen. •
Magdalena Müssig ist wissenschaftliche Referentin für Gesellschaft, Teilhabe und Antidiskriminierung bei der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld in Berlin.
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