Manon Garcia: „Es gibt etwas in der Männlichkeit selbst, das erklärt, was Gisèle Pelicot widerfahren ist“
Was können wir aus dem Vergewaltigungsprozess Pelicots über männliche Sexualität und die Rolle der Frau im Patriarchat lernen? Manon Garcia geht dieser Frage in ihrem heute erscheinenden Buch Mit Männern leben nach. Anfang des Jahres sprach die Feministin mit Antoine Camus, einem der Anwälte Gisèle Pelicots. Ein Dialog über ihre Beobachtungen im Prozess, die Banalität des Bösen und die Rolle von Einvernehmlichkeit.
Antoine Camus: Die Entscheidung von Gisèle Pelicot, sich von zwei männlichen Anwälten vertreten zu lassen, ist kein Zufall. Als sie mich im November 2022 kontaktierte, hatte sie bereits verstanden, dass ihre Geschichte etwas Universelles hat. Aber sie hat sich nie als Opfer von Männern im Allgemeinen gesehen. Sie hat sich immer davor gehütet, die beiden Geschlechter gegeneinander auszuspielen. Ihr Ziel war es, zu verstehen, wie diese Männer ihr direkt in die Augen schauen konnten, obwohl sie ihre Vergewaltigungen gefilmt hatten.
Manon Garcia: Es ehrt Gisèle Pelicot, dass sie daraus keinen Geschlechterkampf macht. Trotzdem war ich sehr beeindruckt davon, dass alle Frauen, mit denen ich in den letzten Monaten in Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten zu tun hatte, sich von diesem Prozess tief betroffen fühlten, während er für die meisten Männer nur eine Randnotiz blieb. Dieser Prozess hat mich nicht nur als Philosophin, sondern auch als Frau sehr bewegt. Ursprünglich hatte ich vor, den Prozess für eine Woche zu besuchen, bin aber mehrmals zurückgekommen und habe beschlossen, ein Buch zu schreiben. Aber leider wird ein Prozess nicht ändern, was die Tortur von Gisèle Pelicot möglich gemacht hat.
Camus: Die Strafjustiz ist eine notwendige Reaktion auf den Riss im sozialen Gefüge, aber sie kann nicht alles regeln! Die beispiellose Resonanz des Mazan-Prozesses kann diesen Prozess jedoch zu einem mächtigen Instrument des Wandels machen.
Garcia: Die Strafjustiz kann nur Einzelpersonen bestrafen, da haben Sie Recht. Aber in diesem speziellen Fall ist das, was außerhalb des Prozesses passiert, noch wichtiger als das, was im Gerichtssaal passiert ist: Wir haben verstanden, dass das Problem nicht nur diese 51 Männer sind, sondern ein ganzes soziales System, das Feministinnen als Patriarchat bezeichnen.
Camus: Die Erklärungen der Angeklagten haben viel mit der patriarchalen Kultur zu tun. Wir haben uns bemüht, diese zu dekonstruieren, und das Urteil ist eine Antwort darauf! Aber Mazan bleibt ein Ausnahmefall: Fast 200 Vergewaltigungen mithilfe von K.-o.-Tropfen über einen Zeitraum von zehn Jahren an einer einzigen Frau in ihrem Ehebett durch mehr als 50 Männer, die von ihrem Ehemann im Internet „rekrutiert” wurden. Dieses Verbrechen wurde durch die Kombination von K.-o.-Tropfen und der immensen Perversion eines Mannes ermöglicht, dem Gisèle Pelicot ihr ganzes Vertrauen geschenkt hatte. Das erklärt, warum niemand, weder sie noch ihr Umfeld noch die Ärzte, die sie konsultierte, jemals die zahlreichen Signale deuten konnte!
Garcia: Dass dieser Prozess überhaupt stattfindet, verdanken wir auch der Perversion von Dominique Pelicot als Voyeur und Sammler und seiner seltsamen „Großzügigkeit”. Er war es, der den Ermittlern Zugang zu den Videos auf seiner Festplatte gewährte, er war es, der ihnen den Hinweis gab, dass sich sein Medikamentenvorrat in seinen Wanderschuhen in der Garage des Hauses befand.
Camus: Im Gegensatz zu den meisten Vergewaltigungsprozessen, in denen das Wort des Opfers dem des Angeklagten gegenübersteht, hat Dominique Pelicot den Behörden tatsächlich eindeutige materielle Beweise für die von ihm begangenen Verbrechen geliefert! Die Öffentlichkeit der Verhandlung ist ein weiteres Merkmal dieses Prozesses. Sie ist die Regel, aber in Fällen sexueller Gewalt wird den Opfern immer eine Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit angeboten, wovon die meisten Gebrauch machen. Anfangs wollte Gisèle Pelicot die Videos während der Ermittlungen nicht sehen und begnügte sich mit einigen Screenshots. Aber wir wollten auch nicht, dass sie sie erst bei der Verhandlung sieht. Als sie die Videos in unserer Kanzlei sah, wich die Scham einem Gefühl der Empörung. „Aber am Ende“, sagte sie uns, „können Sie sich vorstellen, bin ich nichts. Ich bin ein Müllsack, die Leute müssen das sehen. Es geht nicht nur um Vergewaltigung, es geht um Erniedrigung und Demütigung.“ Gisèle Pelicot war der Meinung, dass dieses Dokument für die gesamte Gesellschaft von Interesse sei. Und sie hat diese Entscheidung nie bereut. Die Veröffentlichung ermöglichte es ihr, die Öffentlichkeit als Zeugen zu gewinnen und das ursprüngliche Machtverhältnis auszugleichen, indem wir mit einer kleinen Gruppe einer feindseligen Schar aus dutzenden Vergewaltigern, ihren Familien und ihren Anwälten gegenüberstanden, von denen einige auf der Anklagebank saßen, die meisten jedoch als freie Bürger im Gerichtssaal waren.
Garcia: Was mich beim Ansehen dieser Videos schockiert hat, war, dass sie uns in einen intimen Raum, das Schlafzimmer des Ehepaars, führten, um dort Handlungen mitzuerleben, die man als Folter bezeichnen kann. Man betritt einen gemütlichen, überhitzten Raum, man weiß, dass das Opfer sich im Schlafanzug hingelegt hat, in der Erwartung, eine ruhige Nacht zu verbringen. Man hört den Fernseher, aber auch ihr ununterbrochenes, sehr regelmäßiges Schnarchen. Diese intime Kulisse steht in unerträglichem Kontrast zu den Vergewaltigungen, die diese Männer begehen, von denen einige ihre T-Shirts und Socken anbehalten. Feminismus-Expertinnen, ich selbst eingeschlossen, wissen jedoch, dass das Schlafzimmer paradoxerweise der gefährlichste Ort für Frauen ist. Diese Szenen haben mich fassungslos gemacht, ich konnte nicht mehr schlafen. Gleichzeitig war der einzige Ort, an dem ich sicher schlafen konnte, an der Seite meines Mannes. Ist das ein Widerspruch? Dieser Prozess hat uns Frauen gesagt: Es gibt keinen Ort, an dem du sicher bist, nicht einmal der intimste, wohlwollendste Ort für dich, das Ehebett, in dem du liebst und mit deinem Partner schläfst. Selbst dort lauert die grausamste patriarchale Gewalt.
Camus: Diese Videos zeigen eine bewusstlose Frau, die von Männern, mit denen sie nie zuvor gesprochen hatte, zu einem Objekt degradiert wurde. Bei der Verhandlung schreckten dieselben Männer jedoch nicht davor zurück, ihr in die Augen zu schauen und ihr zu sagen: „Madame, Sie sind nicht mein Opfer, ich bin nicht Ihr Vergewaltiger. Ich war nur das Werkzeug des perversen Willens Ihres Mannes.“ Das war die Verteidigungslinie der Mitangeklagten von Dominique Pelicot: Es habe keine Vergewaltigung gegeben, weil sie nicht die Absicht gehabt hätten, zu vergewaltigen, und weil sie hätten glauben können, dass Gisèle Pelicot einverstanden gewesen sei. Diese Position der Verteidigung machte das Ansehen der Videos unumgänglich und stellte die Frage der Einholung der Einwilligung in den Mittelpunkt unserer Debatten. Nach französischem Recht ist Vergewaltigung „jede sexuelle Penetration, gleich welcher Art, oder jede oral-genitale Handlung, die an einer anderen Person oder an der Person des Täters durch Gewalt, Zwang, Drohung oder Überraschung vorgenommen wird“ (Art. 222-23 des Strafgesetzbuches). In dieser Definition reicht die Objektivität der Handlung aus, unabhängig davon, was der Täter über die Geistesverfassung des Opfers vermuten mag, da die vom Täter eingesetzten Mittel die fehlende Einwilligung untermauern. Heute werden Stimmen laut, die eine stärkere Berücksichtigung des Begriffs der Einwilligung fordern, der im Gesetz nur implizit enthalten ist.
Garcia: Meiner Meinung nach hat die bestehende Definition den Vorteil, dass sie die Beweislast nicht dem Opfer auferlegt. Entscheidend ist allein das Verhalten des Täters. Das eigentliche Problem ist jedoch nicht die rechtliche Definition, sondern die Mittel der Justiz und die Vorstellungen der Akteure des Gerichtsverfahrens, die wie anderswo auch patriarchalische Vorstellungen von „normaler” Sexualität haben, in denen Gewalt stillschweigend akzeptiert und Einwilligung vorausgesetzt wird.
Camus: Im Laufe des Prozesses stellte sich auch heraus, dass eine große Anzahl der Angeklagten, allen voran Dominique Pelicot, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden waren.
Garcia: Die französische Anthropologin Dorothée Dussy hat gezeigt, dass Inzest die große Matrix der Gewalt ist. Sexuelle Gewalt gegen Kinder im familiären Umfeld und Vergewaltigung von Erwachsenen folgen einer ähnlichen Logik der Dominanz. Im Fall von Dominique Pelicot – der offenbar in seiner Kindheit Opfer sexueller Gewalt war und zweifellos auch selbst inzestuöse Gewalt ausgeübt hat, sich tagsüber als guter Ehemann und Familienvater präsentiert und nachts als zwanghafter Vergewaltiger – ist dies offensichtlich. Die Hypothese des „Gewaltzyklus”, wonach Täter selbst Opfer von Gewalt waren, ist jedoch mit Vorsicht zu behandeln. Denn die überwiegende Mehrheit der Opfer von Gewalt und Vergewaltigung sind Frauen und diese Frauen werden in den allermeisten Fällen nicht selbst zu Täterinnen. Bei männlichen Tätern ist es eindeutig: Es gibt eine Überrepräsentation ehemaliger Opfer sexuellen Missbrauchs. Aber muss uns das zu der Annahme verleiten, dass sie nicht verantwortlich sind? Angesichts der Tatsache, dass fast 15 % der Kinder sexuell missbraucht werden, würde dies bedeuten, dass 15 % der Bevölkerung einen Freifahrtschein hätten, andere Menschen zu vergewaltigen, was nicht vernünftig ist. Anstatt ihr ursprüngliches Trauma als Ursache für ihre Taten heranzuziehen, sollten wir nicht vielmehr fragen, inwiefern gesellschaftliche Normen der Männlichkeit die Verbrechen, die solche Männer erlitten haben, rechtfertigen oder sogar begünstigen?
Camus: Eine der Lehren aus diesem Prozess ist, dass es kein Profil für Vergewaltiger gibt. Die Angeklagten haben zwar versucht, uns davon zu überzeugen, dass sie keine Vergewaltiger seien, da sie gute Familienväter oder engagierte Bürger seien, die sich für wohltätige Zwecke einsetzen. Umgekehrt haben Experten versucht, gemeinsame Nenner zwischen ihnen zu finden: Vier von zehn wurden sexuell missbraucht, einige sind vorbestraft, andere leiden unter einer „paraphilen Störung”, einem atypischen sexuellen Verlangen, das mit der Gefahr einer Schädigung anderer verbunden ist, usw. Wir haben diesen „normativen” Ansatz zur Definition des Vergewaltigers zurückgewiesen und argumentiert, dass ein Vergewaltiger jemand ist, der vergewaltigt und eine sexuelle Gewalttat begeht, indem er droht, zwingt, Gewalt anwendet oder überrascht. Es ist die Tat, die den Vergewaltiger ausmacht.
Garcia: Der Fall Dominique Pelicot verdient es, näher betrachtet zu werden. Er hat immer wieder betont, dass seine Frau, die er sehr liebte, die treibende Kraft in ihrer Beziehung war. Sie verdiente den Lebensunterhalt der Familie, zog die Kinder groß, schaffte es, die Familie aus der häuslichen Gewalt zu befreien usw. Er stellte sogar einen Kontrast zwischen seiner Mutter, der Verkörperung der unterwürfigen Frau, und Gisèle, der Verkörperung der Ungehorsamkeit, her. Aber als Gisèle begann, bestimmte sexuelle Praktiken zu verweigern, griff er zu K.-o.-Tropfen. Und während der Vergewaltigungen sprach er von ihr als „meiner unterwürfigen Schlampe”. Es gibt also bei ihm eindeutig eine Dialektik der Bestrafung durch Unterwerfung. Diese Hypothese wurde bereits in der Vergangenheit von feministischen Autorinnen wie François Poullain de La Barre oder Mary Wollstonecraft aufgestellt: Männer bevorzugen es, freie Frauen zu unterwerfen. In Bezug auf Machtausübung ist dies aufregender und befriedigender. Eine ungehorsame Frau zu unterwerfen, scheint das Motiv von Dominique Pelicot zu sein – ein sehr politisches Motiv!
Camus: Da bin ich nicht ganz Ihrer Meinung. Bis zum Schluss blieb das Motiv von Dominique Pelicot unbekannt. Bei seiner letzten Stellungnahme wurde er gefragt, was ihn zu K.-o.-Tropfen bewogen habe. Er antwortete, dass es ihn errege, eine widerspenstige Frau zu unterwerfen, dass dies seine Perversion sei. Aber kommen wir damit dem eigentlichen Motiv seiner Taten auf die Spur, nämlich einem Szenario sozialer Rache? Ich bezweifle es. Er hat Rache als Motiv ausdrücklich zurückgewiesen: „Das ist Unsinn!”, sagte er. Es habe ihn erregt, seine Frau von anderen vergewaltigt zu sehen, gab er zu. Aber das ist kein Motiv. Es sei denn, man betrachtet seine Erregung als Motiv, was ein wenig zirkulär ist.
Garcia: Ich möchte darauf bestehen. Dominique Pelicot sagte wörtlich: „Ich wollte eine widerspenstige Frau unterwerfen, sie leiden lassen, wie ich meine Mutter leiden sah, weil sie keine Wahl hatte. Das ist mein Motiv.“ Sie können ihm widersprechen, Sie können der Meinung sein, dass ein Verbrecher ein unzuverlässiger Erzähler seiner eigenen Motive ist. Aber das hat er nun einmal gesagt.
Camus: Das gebe ich zu, aber das erklärt nicht, warum er sie leiden lassen musste. Das bleibt eine ungeklärte Grauzone. Was die Unterwerfung angeht, insbesondere durch K.-o-Tropfen, so wird sie nicht nur bei Frauen angewendet. Sie existiert auch in homosexuellen Kreisen. Es geht nicht so sehr um den Wunsch, Frauen zu unterwerfen, sondern um die Vorstellungen, die Männer von ihrer Männlichkeit und ihrer vermeintlichen Virilität haben, in denen Dominanz und Raubtierverhalten im Allgemeinen wertgeschätzt oder gesellschaftlich gefördert werden.
Garcia: Dem stimme ich zu. Der Prozess hat uns ein düsteres Bild der männlichen Libido geliefert. Was diese Männer im Alter von 20 bis 70 Jahren, unterschiedlicher Herkunft und aus allen sozialen Schichten, gemeinsam haben, ist die Vorstellung, dass die Vergewaltigung einer Frau, selbst wenn sie schläft, bewusstlos ist, selbst wenn sie, wie einige sagen, „tot aussieht“, Sex ist. Eine Handlung, die sich nicht grundlegend von dem unterscheidet, was sie mit ihren Partnerinnen tun. Für sie ist das normal. Ich war überrascht, dass einer der Richter sich systematisch darüber wunderte, dass einige Angeklagte Schwierigkeiten hatten, eine Erektion zu bekommen. Als ob es wirklich überraschend wäre, dass ein Mann die Gelegenheit nicht nutzt, wenn ihm die Vergewaltigung einer betäubten Frau angeboten wird, die er nicht kennt. Ich hätte lieber die Männer verhört, die sofort und ohne Probleme eine Erektion bekamen!
Camus: In meinem Plädoyer habe ich mich auf das Konzept der Banalität des Bösen bezogen, das Hannah Arendt im Eichmann-Prozess vorgebracht hat. Aus mehreren Gründen. Zunächst einmal hat niemand, der in irgendeiner Weise von den Vorgängen in Mazan wusste, die Behörden informiert, nicht einmal anonym – was das Leid von Gisèle Pelicot hätte beenden können. Alle, die darum gebeten wurden, haben sich ohne Widerrede dem System unterworfen. Zweitens zeigten die Angeklagten während des gesamten Prozesses eine erstaunliche Gedankenlosigkeit – ein wesentlicher Bestandteil von Arendts Konzept, soweit ich es verstanden habe. Sie verbrachten viele Monate in Untersuchungshaft, hatten Zeit, über das Geschehene nachzudenken, und dennoch zeigten sie keinerlei Selbstreflexion. Sie verwendeten Zauberformeln und Klischees, die sie unermüdlich wiederholten: „Ich hatte nicht die Absicht“, „Ich bin nicht deswegen gekommen“, „Ich wurde manipuliert“. Als ob das alles erklären und entschuldigen würde. Schließlich behaupteten sie, dass alles „normal“ gewesen sei: Ein gutaussehender Mann habe ihnen ein vornehmes Haus geöffnet, in dem es nach Abendessen duftete, was alle Warnsignale betäubt habe, die sie vor Entsetzen hätten fliehen lassen müssen. Warum sind sie geblieben? Sie waren nicht in der Lage, es zu sagen, obwohl jeder in seinem kleinen Rahmen zu dieser Monstrosität beigetragen hat, die fast zehn Jahre lang andauerte.
Garcia: Auch ich habe die Seiten, die Arendt der Banalität des Bösen widmet, noch einmal ausführlich gelesen. Ein Punkt ist mir dabei aufgefallen: Ihrer Meinung nach ist Eichmann keineswegs dumm, aber er nutzt sein Denken nicht, um seine eigenen Handlungen zu reflektieren. Wenn man darüber nachdenkt, findet man hier eine allgemein akzeptierte Vorstellung über die männliche Sexualität wieder, nämlich die Vorstellung, dass Männer, wenn es um Sex geht, nicht mehr mit ihrem Verstand denken, sondern mit ihrem Penis. Das ist eine Form der Gedankenverweigerung, die sich stark von der Eichmanns unterscheidet. Er wollte ein perfekter Deutscher sein, den Geboten Kants folgen, und war dafür bereit, die Juden zu vernichten. Die Angeklagten von Mazan hingegen halten am Klischee der Animalität des Geschlechts fest, wonach sie nicht in der Lage gewesen seien, über ihre Taten nachzudenken. Sie zeigen sich unfähig, sich in die Lage der Frauen zu versetzen, denen sie Leid zufügen, aber auch in die moralische, psychologische und wirtschaftliche Notlage ihrer eigenen Frauen, Töchter und Mütter. Am Ende des Prozesses, als das Urteil verkündet wurde, sah ich diese Frauen, die ihren Männern die Taschen für das Gefängnis gepackt hatten und nun allein den Alltag ihrer Familien bewältigen, Besuche im Gefängnis organisieren und die Blicke der Menschen ertragen mussten. Sie haben nicht mehr an sie gedacht als an Gisèle Pelicot. Es scheint, als hätten sie an nichts gedacht.
Camus: In meinem Plädoyer habe ich auch auf Ihre Idee des Geschlechtergesprächs Bezug genommen, weil ich betonen wollte, dass es in diesem Prozess zwar um sexuelle Gewalt ging, aber nicht darum, die männliche Sexualität generell anzuklagen. Im Gegenteil, es ging darum, die Chancen für gegenseitige Aufmerksamkeit, für einen Dialog der Körper und letztlich für ein besseres Verständnis zu bewahren. Ich habe jedoch den Eindruck, dass Sie aus diesem Prozess mit Zweifeln an den Chancen für die Aufrechterhaltung dieses Dialogs hervorgegangen sind...
Garcia: Dieser Prozess hat mich etwas pessimistisch gemacht! Zunächst einmal war das Engagement der Männer und Frauen sehr unterschiedlich. Während sich nur wenige Männer wirklich dafür interessierten, waren die meisten Frauen erschrocken, einige stellten ihre Heterosexualität in Frage. Ich habe mein Buch Mit Männern leben genannt, weil ich glaube, dass dies wirklich die quälende Frage ist, die dieser Prozess aufgeworfen hat: Kann man mit Männern leben, wenn sie Frauen so wenig lieben? Hinzu kommt, dass nur sehr wenige Angeklagte Reue gezeigt haben. Ich hatte sogar den Eindruck, dass einige Verteidiger aktiv dazu beigetragen haben, den Angeklagten das Gefühl zu geben, dass sie sich wirklich nicht viel vorzuwerfen hätten. Einige lachten untereinander, andere sagten vor Gericht skandalöse Dinge... All das macht mich tatsächlich ein wenig bedrückt. Der ethische Horizont der Geschlechterdiskussion, den ich skizziert habe, scheint mir sehr weit entfernt, sehr utopisch. Eines ist jedoch sicher: Einvernehmlichkeit muss im Mittelpunkt der Gespräche, der Kindererziehung und der Politik stehen. Viele Männer wissen offensichtlich nichts über Einwilligung. Es ist höchste Zeit, ihnen das beizubringen und vor allem zu verhindern, dass sie so tun, als würden sie die fehlende Einwilligung nicht sehen oder nicht verstehen.
Camus: Die Argumentation, dass alle Männer betroffen sind, erscheint mir etwas voreilig. Ich bleibe dabei, dass die Tat selbst der entscheidende Punkt ist und bleibt.
Garcia: Natürlich sage ich nicht, dass jeder Mann in dieser Situation hätte sein können. Die Männer von Mazan haben kein Gespür für das Gesetz und die Bedeutung der körperlichen Unversehrtheit, das andere davon abhält, zur Tat zu schreiten. Allerdings hat die überwiegende Mehrheit der Männer Fantasien und Vorstellungen von Sexualität, die den Fantasien ähneln, die die Angeklagten von Mazan zur Tat getrieben haben. Es gibt etwas in der Männlichkeit selbst, das erklärt, was Gisèle Pelicot widerfahren ist. Und ich glaube, wir kommen nicht weiter, wenn Männer nicht anfangen, darüber nachzudenken.
Camus: Frauen sollten von diesen Überlegungen nicht ausgeschlossen werden, sondern im Gegenteil voll und ganz daran beteiligt sein. Die Aussagen der Partnerinnen, Schwestern und Töchter der Angeklagten, die sie vor Gericht unterstützt haben, manchmal etwas blind, geben zu denken. Frauen müssen eine entscheidende Rolle dabei spielen, diese Gewalt in Frage zu stellen und sich ihr zu widersetzen, und sei es nur, indem sie ihre Rechte nutzen, um sie entschlossen zu bekämpfen. Das ist auch eine der Lehren aus diesem Prozess: Gisèle Pelicot zeigt uns allen, dass dieser Weg möglich ist! Um Ihre Niedergeschlagenheit mit einer etwas optimistischeren Note zu überwinden: Ich bin überzeugt, dass das Gespräch, für das Sie sich einsetzen, eine Botschaft der Hoffnung und ein Kompass für die Zukunft der Beziehungen zwischen Männern und Frauen bleibt. •
Manon Garcia ist Professorin für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin. 2022 erhielt sie für Ihr Buch "Das Gespräch der Geschlechter. Eine Philosophie der Zustimmung" den Prix des Rencontres philosophiques de Monaco.
Antoine Camus ist Anwalt mit Schwerpunkt auf Wirtschaftsrechts. Im vergangenen Jahr vertrat er Gisèle Pelicot und ihre Kinder vor Gericht.
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