Michel Onfray: „Camus’ Politik ist immer ethisch“
In seinem mittelmeerischen Denken wendet sich Camus dem Leben zu und verweigert sich jeder Form von Dogmatismus und Totalitarismus. Ein Gespräch mit Michel Onfray über den Wert des Unmittelbaren in Camus’ Philosophie.
Herr Onfray, im letzten Kapitel von „Der Mensch in der Revolte“ spricht Camus über „das mittelmeerische Denken“. Worum handelt es sich dabei?
Dieser Ausdruck findet sich, um genau zu sein, bereits bei Nietzsche. Um seine Verwendung bei Camus zu erklären, muss kurz erzählt werden, in welchem Verhältnis er zu dem deutschen Philosophen stand. Nietzsche war ein lebenslanger Begleiter von Camus. Mit nicht einmal 20 Jahren veröffentlicht er einen kurzen Text über Musik in der Zeitschrift seines Philosophielehrers Jean Grenier, in dem er die Thesen Nietzsches treffend analysiert. 1960, als der Facel Vega von Gallimard von der Straße abkommt und den Verleger und seinen Autor ins Nichts beförderte, landet Camus’ Aktentasche in einem Feld. In ihr wird man neben dem Manuskript zu „Der erste Mensch“ ein Exemplar von Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ finden. Zwischen diesen beiden Momenten ist der deutsche Philosoph ständiger Bezugspunkt für Camus.
Wie sieht dieser Bezug aus?
Es gibt zwei ausdrücklich nietzscheanische Momente bei Camus: ein erster, vor Auschwitz, der ein Moment reiner Zustimmung zu allem Seienden ist; es ist der Moment von „Hochzeit des Lichts“, ein Moment der Freude, der Sonne, des Meeres, des Lichts, des Strandes, der schimmernden Körper unter der noch griechischen Sonne von Tipasa. Der zweite nietzscheanische Moment ist der einer Zustimmung ausschließlich zu dem, was das Leben bejaht, und eine Ablehnung alles Lebensverneinenden. Diese Verneinung des Lebensverneinenden bildet die Revolte von „Der Mensch in der Revolte“. Der Mensch in der Revolte sagt Nein, und er sagt Nein zu dem, was Ja zum Tod sagt. Man kann nicht mehr Ja zu allem sagen, was geschieht, wenn man von den Konzentrationslagern der Nazis weiß … Camus wechselt über von einem orthodoxen Nietzscheanismus, der dazu einlädt, ja zu allem zu sagen und sein Schicksal zu lieben, zu einem Linksnietzscheanismus, der Ja sagt zu dem, was das Leben bejaht, und Nein zu dem, was das Leben verneint. Die Macht, Nein zu sagen, existiert in der Ontologie Nietzsches nicht, es gibt nur fortwährende und endlose Wiederholung des Gleichen – unmöglich, was auch immer an dem zu ändern, was auf ewig geschehen wird und in denselben Formen schon ewig geschehen ist ...
Was heißt es also, wenn Camus sich in seinem Werk auf das „Mittelmeerische“ bezieht?
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Die neue Sonderausgabe: Camus
Engagiert, sinnlich, mutig, charismatisch: Es gibt kaum einen Philosophen, der mehr Anziehungskraft besäße als Albert Camus. Zumal in diesen Tagen, in denen sich Camus als der Denker unserer Zeit zeigt. In dieser Sonderausgabe stellen wir Ihnen Werk und Leben des französischen Existenzialisten vor.
Werfen Sie einen Blick auf unsere umfangreiche Heftvorschau!

Philippe Sabot: „Camus verurteilt die revolutionär entfesselte Gewalt“
Nachdem Camus bereits in Die Pest Distanz zu den großen Ideen hält, entwickelt er diese Haltung in Der Mensch in der Revolte zu einer philosophischen Kritik. Camus warnt vor einem revolutionären Verständnis der Geschichte. Sein Gegenentwurf ist die Revolte. Philippe Sabot erläutert Camus’ Position.

Catherine Camus: „Mein Vater sah mich, wie ich war“
Väter sind besondere Menschen in unserer aller Leben. Im Guten oder im Schlechten. In diesem Interview erinnert sich Catherine Camus, die Tochter von Albert Camus, an ihre Kindheit, den früh verstorbenen Vater und das moralische Gewicht seines Erbes.

Der blinde Fleck im Absurden
In seinem Roman Der Fremde hat Albert Camus den Kolonialismus auffällig unthematisiert gelassen. Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud hat deshalb einen Gegenroman geschrieben. Doch verrät die Lücke auch etwas über Camus’ Philosophie?

Die Macht der Form
Donald Trumps Rede, in der er seine Wahlniederlage anerkennt, lässt nach wie vor auf sich warten. Den hergebrachten Konventionen und Formen der Machtübergabe verweigert sich der abgewählte Präsident strikt. In seiner Schrift Über die Demokratie in Amerika (1840) hat der Philosoph Alexis de Tocqueville den verbreiteten Widerwillen gegen die Form klar benannt – und gleichzeitig auf deren unverbrüchlichen Wert hingewiesen. Formen sind Mechanismen des Triebaufschubs und der Kontrolle. Im privaten wie auch im politischen Raum. Hier ein Textauszug.

Frédéric Worms: „Sartre fokussiert das Subjekt, Camus die ganze Welt“
Es ist das wohl bekannteste Zerwürfnis in der Geschichte der zeitgenössischen Philosophie. Waren Sartre und Camus während des Zweiten Weltkrieges einander noch als Freunde verbunden, wurden sie in der Epoche der Entkolonialisierung und des Kalten Krieges zu Gegnern. Über die philosophischen Streitfragen sprachen wir mit Frédéric Worms.

Kriegstagebücher – Jonas, Sartre, Camus und Weil
Wie fühlt es sich an, den Übergang vom Frieden zum Krieg zu erleben? Und was bedeutet es, wenn die Gewalt zum Alltag wird? Auszüge aus den Tagebüchern von Hans Jonas, Albert Camus, Jean-Paul Sartre und Simone Weil.

Helmuth Plessner und die Gemeinschaft
Scharfsinnig und stilistisch virtuos wendet sich Helmuth Plessner in seinem 1924 veröffentlichten Werk Grenzen der Gemeinschaft gegen den Wir-Kult, der damals die junge Demokratie der Weimarer Republik von rechter und linker Seite bedroht. In Ihrem Essay erläutert Marianna Lieder, warum Plessers Verteidigung von Takt, Diplomatie und Höflichkeit gegen sämtliche Form von Unmittelbarkeitsbestreben noch immer hochaktuell ist.
