Frédéric Worms: „Sartre fokussiert das Subjekt, Camus die ganze Welt“
Es ist das wohl bekannteste Zerwürfnis in der Geschichte der zeitgenössischen Philosophie. Waren Sartre und Camus während des Zweiten Weltkrieges einander noch als Freunde verbunden, wurden sie in der Epoche der Entkolonialisierung und des Kalten Krieges zu Gegnern. Über die philosophischen Streitfragen sprachen wir mit Frédéric Worms.
Philosophie Magazin: Herr Worms, was eint und was trennt Sartre und Camus philosophisch?
Frédéric Worms: Sprechen wir zunächst davon, was sie eint. Zwei Dinge. Zunächst gehen beide davon aus, dass es kein metaphysisches Fundament für unsere Existenz gibt – kurz gesagt: dass das Leben keinen Sinn hat. Dies wird von Camus als das Absurde und von Sartre als Kontingenz bezeichnet. Dann stellen sie inmitten dieser radikalen Abwesenheit von Sinn fest, dass zwei Pole bestehen bleiben: auf der einen Seite die Dinge oder die Welt; auf der anderen Seite der Mensch oder das Bewusstsein. Denn für Camus – und in gewisser Weise auch für Sartre – ist das Absurde nicht einfach nur Sinnlosigkeit. Es ist die Sinnlosigkeit, der jemand gegenübersteht, der nach Sinn fragt. Das Absurde zeugt also stets von einer Beziehung zwischen jemandem, der „Warum?“ fragt, und einer Welt, die keine Antwort gibt, was jedoch nicht heißt, dass die Frage nicht berechtigt sei und derjenige, der die Frage stellt, keinen Respekt verdiene. Hierin bleibt Camus Humanist. „Wozu sich auflehnen in einer absurden Welt?“ Das ist die Frage und die nihilistische Versuchung, der sich Camus entgegenstellt, indem er die Frage nach Sinn als Akt des Widerstandes gegen die Sinnlosigkeit versteht. Ein Akt, auf den keine Antwort folgt, der aber die Würde des Menschen ausmacht.
Wie ist damit umzugehen, dass diese Frage unbeantwortet bleibt?
Halunken sind für Camus, wie für Sartre, diejenigen, die vorgeben, dass es eine Antwort gäbe: der Metaphysiker oder Religionsanhänger, der betrügt, wenn er vom Absoluten, von Gott oder einer besseren Zukunft in der Ewigkeit spricht … Kurzum, wer auch immer behauptet, es gäbe eine Antwort, lügt. Aber wer erwidert, dass es wegen der mangelnden Antwort nicht wert wäre, die Frage überhaupt zu stellen, lügt ebenfalls. Man ist gefangen zwischen dem Irrtum, der zum Selbstmord führt, und dem anderen Irrtum, der zum Mord im Namen des Absoluten verleitet. Camus wendet sich gegen Ersteren mit seinem Buch „Der Mythos des Sisyphos“ und gegen den Zweiten mit „Der Mensch in der Revolte“. Sartre seinerseits behauptet, dass die Kontingenz Freiheit bedeute und dass diese Freiheit Sinn konstruiere; und auch er betont, dass der Mensch, den er als „nutzlose Leidenschaft“ versteht, auf das Absolute verzichten muss. Das ist es, was die beiden Männer eint.
Und was trennt sie?
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