Meine Bestimmung
Am Anfang des Lebens stehen unzählige Möglichkeiten offen, am Ende sind die Entscheidungen gefallen. Doch welche Instanz entscheidet, ob unsere Selbstwerdung geglückt ist? Drei Menschen verschiedener Generationen erzählen.
„Wie könnte eine Next-Level-Version von mir aussehen?“ Mit dem Ziel, diese Frage zu beantworten, hat Julian Böhm in einem Workshop ein Poster erstellt. Für den 24-Jährigen erstreckt sich das Dasein als ein weites Feld der Möglichkeiten vor ihm. Kein Wunder also, dass die Frage seines Plakats nicht vom Lebensende, sondern von der Gegenwart aus gedacht ist. Gesucht wird nach einer verbesserten Version dessen, was man bereits ist. Es geht um eine Steigerung und Intensivierung der eigenen Vorzüge. Im Zentrum des Posters, das Julian Böhm sich neben einem Spiegel aufgehängt hat, befinden sich ein Foto von ihm und der Schriftzug „Ich bin“. Darunter stehen allgemeine Eigenschaften, etwa: „Ich bin ein herzzentriertes menschliches Wesen“ und „Ich lebe ein außergewöhnliches Leben und inspiriere andere, indem ich ein Vorbild in beruflichen und persönlichen Belangen bin“. Auf der linken Seite stehen konkrete Aussagen wie: „Ich kann mühelos einen Halbmarathon laufen.“ Bei den Beschreibungen, erzählt der junge Mann, handle es sich zum Teil um noch nicht verwirklichte Ziele, die Formulierung im Präsens diene der Selbstmotivation.
Julian Böhm hat zurückgebundene schwarze Haare und klare Gesichtszüge. Sein offenes Lachen und seine ruhige Sprechweise stehen in einer gewissen Spannung zu dem Ehrgeiz und der Anspruchshaltung, die sich in seinem Plakatprojekt erkennen lassen. Unser Gespräch findet über Skype statt, denn Julian Böhm ist ein sogenannter „digitaler Nomade“: Er arbeitet für zwei Start-ups als Produktdesigner und Entwickler und bereist die Welt. Zuletzt war er lange auf der indonesischen Insel Bali, derzeit ist er in Barcelona.
Das Next-Level-Poster zeugt deutlich vom Individualismus einer jungen Generation, die vermeiden möchte, was ihr als standardisierte und wenig aufregende Daseinsform erscheint: ein von Routinen geprägter 40-Stunden-Job am Schreibtisch, Hauskauf und Heirat. Stattdessen gilt es, aktiv eine eigene Lebensvision zu designen. Diese Idealversion des eigenen Selbst wird sodann zur kritischen Instanz, vor der es zu bestehen gilt. Nicht „Wer will ich gewesen sein?“ ist die relevante Frage, sondern: „Was denkt mein zukünftiges perfektes Ich von mir?“ In Julian Böhms Fall ist das sehr wörtlich zu verstehen: Er berichtet, dass er sich das Plakat neben seinem Spiegel aufgehängt und jeden Morgen vorgelesen hat. Während es einst der göttliche Blick war, der die Seele der Gläubigen begutachtete, tritt hier der Blick der eigenen Idealversion an seine Stelle.
Kriterien des Selbstdesigns
Julian Böhms Arbeit an sich selbst beschränkt sich keineswegs auf das Poster, sondern enthält auch eine Reihe spiritueller Praktiken. Unter anderem hat er auf Bali ein „Tantra Retreat“ besucht. In dem Retreat ging es insbesondere um die Aneignung „innerer Schatten“. Mithilfe eines Tanzlehrers setzen sich die Teilnehmer auf körperlicher Ebene mit menschlichen Abgründen wie Rechthaberei, Gier und Zorn auseinander, wobei die tantrischen „Schatten“ den christlichen Wurzelsünden bemerkenswert ähnlich sind. Insgesamt habe er im Retreat viel geschrien und geweint. Eine wichtige Ergänzung zum verkopften Umgang mit sich selbst, wie er im Westen vorherrscht, findet er. Julian Böhms Techniken erscheinen einerseits als Blüten spätmoderner Selbstoptimierung. Andererseits jedoch lassen sie sich im Sinne Peter Sloterdijks als Übungen verstehen, die in einer langen religiösen und philosophischen Tradition stehen und „durch innere Aktivierungen ein Übungssubjekt heranbilden, das seinem Leidenschaftsleben, seinem Habitusleben, seinem Vorstellungsleben überlegen werden soll.“ Das Ziel: Anstelle eines passiven Sich-bestimmen-Lassens durch unverstandene Gefühlslagen, eingeschliffene Gewohnheiten und verworrene Gedanken soll deren aktive Beherrschung und Formung treten. Die Übungen übersetzen das designte Idealbild in den Alltag.
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