Nachhaltiger Konsum: Zwischen Wissen und Wollen
Die Modeplattform Zalando befragte ihre Kunden und stellte fest: Viele befürworten zwar nachhaltige Kleidung, kaufen aber preisgünstige Massenware. Wie solch ein „Attitude-Behaviour-Gap“ entsteht, wusste bereits Aristoteles.
Der Versandhändler Zalando untersuchte jüngst das Kaufverhalten seiner Kunden und stieß dabei auf eine Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach nachhaltig produzierter Kleidung einerseits und dem Konsum preisgünstiger Massenware andererseits. In der Studie in eigener Sache fragte die Modeplattform 2500 Kunden im Alter von 18 bis 35 Jahren, wie wichtig ihnen die nachhaltige Herstellung ihrer Kleidung sei. Die Hälfte der Befragten gab zwar an, großen Wert auf Nachhaltigkeit zu legen, doch nur bei einem Fünftel beeinflusste diese gute Absicht auch die Kaufentscheidung. Es war für die Kunden bisweilen attraktiver, preisreduzierte Kleidung einzukaufen als solche, die umweltfreundlichen und fairen Produktionsstandards entsprach. Zalando spricht deshalb von einem „Attitude-Behaviour-Gap“.
Dass Konsumenten so offensichtlich hinter ihren moralischen Ansprüchen zurückbleiben, ist natürlich kein spezielles Problem der Textilbranche. So ist es etwa eine weit verbreitete Ansicht, dass die Arbeitsbedingungen bei Amazon mitunter moderner Sklaverei gleichkommen – und dennoch soll das neue iPhone so schnell wie möglich bis vor die Haustür geliefert werden. Kaum jemand würde explizit die oft katastrophalen Zustände in der Massentierhaltung befürworten, die Nachfrage nach Billigfleisch bleibt davon aber weitestgehend unberührt. Angesichts dieser Widersprüche könnte man meinen, dass es einfach noch mehr Überzeugungsarbeit bräuchte, damit aus Worten auch Taten werden. Vielleicht ist der Wunsch der Zalando-Kunden nach ethisch vertretbarer Textilproduktion schlicht noch nicht stark genug?
Keine weiße Weste, nirgends
Entgegen dieser Vermutung scheint selbst vertiefte Auseinandersetzung mit moralischen Prinzipien die Kluft zwischen Haltung und Handlung nicht zu überbrücken. Wie die empirischen Untersuchungen der amerikanischen Philosophen Eric Schwitzgebel und Jonathan Rust zeigen, haben selbst Ethikprofessoren Schwierigkeiten damit, ihren eigenen moralischen Standards gerecht zu werden. Die 2014 von Schwitzgebel und Rust veröffentlichte Studie maß verschiedenste Indikatoren für eine moralisch weiße Weste, von Vegetarismus über rege Wahlbeteiligung bis hin zu regelmäßigem Spenden. Dazu wurden drei Gruppen von Professoren – aus der Moralphilosophie, anderen Bereichen der Philosophie sowie den Naturwissenschaften – befragt, wie sie bestimmte Handlungen bewerten und wie oft sie selbst entsprechend handelten.
Das überraschende Ergebnis: Zwischen den drei Gruppen fanden sich keinerlei signifikante Verhaltensunterschiede in der Praxis, wenngleich die Ethikprofessoren in der Theorie höhere moralische Standards vertraten. Sie spendeten zum Beispiel deutlich weniger Geld, als sie laut eigener Aussage für angebracht hielten. Selbst wer hauptberuflich über das richtige Handeln nachdenkt, ist also nicht vor moralischen Fehltritten gefeit. Das Problem kann somit nicht in mangelndem Wissen oder Wollen begründet sein. Viel eher handelt es sich um eine bestimmte Form der Willensschwäche, die schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik beschrieb.
Aristoteles nennt willensschwaches Handeln wider besseres Wissen Akrasia. Eine Person handelt dann akratisch, wenn sie weiß, dass eine Handlung A einer alternativen Handlung B vorzuziehen sei, sich aber trotzdem für Handlung B entscheidet. Nur: Warum sollten wir etwas tun, von dem wir wissen, dass es nicht gut ist? Aristoteles erklärt dieses paradoxe Phänomen mit dem Verweis darauf, dass uns nicht immer unser gesamtes Wissen zugänglich sei. Wir wissen zum Beispiel, dass die EU 27 Mitgliedsstaaten hat, müssen aber einen Augenblick überlegen, um dieses Wissen abzurufen. Die akratisch handelnde Person weiß ebenso, welche Handlung die beste ist, allerdings ist ihr dieses Wissen nicht im Moment der Handlung präsent, weshalb sie sich von anderen Vorlieben und Schwächen verleiten lässt.
Nicht nur Transparenz, sondern auch Anreize
Laut Aristoteles ähnelt die akratisch handelnde Person deshalb einem Betrunkenen. Und wie nach einem Vollrausch meldet sich das Wissen um die richtige Handlung erst wieder zu Wort, nachdem die falsche Handlung ausgeführt wurde. Solche späte Einsicht beschreiben auch die Teilnehmer der Zalando-Studie: Über 80 Prozent der Befragten gaben an, Reue über ihre Kaufentscheidungen zu empfinden, nachdem die erste Konsumeuphorie verflogen sei.
Um Gewissensbisse in Zukunft zu vermeiden, liefert Zalando mit seiner Studie auch zehn Empfehlungen, um die Textilbranche nachhaltiger zu gestalten. Die meisten zielen darauf ab, Kunden noch mehr Wissen zu vermitteln, etwa durch die leicht verständliche Erklärung von Nachhaltigkeitsstandards oder transparente Informationen über Produktionsstätten und Lieferketten. Da sich Akrasia aber eben nicht allein durch Wissen überwinden lässt, ist der aussichtsreichste Vorschlag wohl jener, nicht-nachhaltige Rabatte zu vermeiden und Kunden somit sanft in Richtung eines besseren Kaufs zu lenken. Oder allgemeiner gesagt: Will man nachhaltiges Handeln befördern, geht es nicht „nur“ um die Vermittlung individuellen Wissens, sondern bedarf ebenso kollektiver Anreizsysteme. •