Natalie Wynn: „Ich glaube an die Kraft intellektueller Empathie“
Ihrem YouTube-Kanal ContraPoints folgen aktuell 1,6 Millionen Menschen, was diesen zu einem der größten mit philosophischen Inhalten macht. Im Interview spricht Natalie Wynn über die Kraft der Inszenierung, ihre Transition und den Umgang mit Hass.
Eine längere Version dieses Interviews im englischen Original lesen Sie hier.
Natalie Wynn, obwohl Sie sich in Ihren Videos immer wieder auf Denker wie Karl Marx oder feministische Einflüsse beziehen, bezeichnen Sie sich selbst als Ex-Philosophin und Vollzeit-YouTuberin. Warum?
Beginnen wir mit der Bezeichnung Ex-Philosophin. Als Promotionsstudentin wurde mir klar, dass ich keine akademische Karriere einschlagen würde. In der Welt passieren politisch und gesellschaftlich so viele furchtbare Dinge, dass mir abstrakte Fragen wie die nach der möglichen Existenz anderer Welten im Vergleich nicht relevant erschienen. Und was YouTube angeht, wissen Sie, ich bin ein 33-jähriges Mitglied der Generation Y und habe einen großen Teil meines Lebens in den sozialen Medien verbracht. Und als es auf YouTube 2015 einen massiven Anstieg von politisch rechtsextremen Inhalten gab, hatte ich die Idee: Vielleicht könnte ich eine Person sein, die sich einmischt und etwas verändert. Rückblickend hatte ich recht.
Neben der Auseinandersetzung mit politischen Strategien von rechts finden sich auf Ihrem Kanal Contrapoints auch zahlreiche Videos zum Thema Gender. Inwieweit hat das mit Ihrem persönlichen Leben als Person zu tun, der bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde?
Im Jahr 2017 wurde mir klar, dass ich eine Transition vollziehen muss. (Anm. d. Red.: Als Transition wird der Prozess bezeichnet, in dem eine Person eine soziale, körperliche und/oder juristische Änderung vornimmt, um die eigene Geschlechtsidentität auszudrücken; die Schreibweise gendersensitiver Begriffe wie „trans Person“ oder „Anhänger:innenschaft“ erfolgt auf Wunsch der Gesprächspartnerin.) Kurz danach habe ich, ähnlich wie viele andere trans Personen das in der Anfangsphase ihrer Transition auch tun, zahlreiche Inhalte rund um trans Themen veröffentlicht. Unabhängig von dieser persönlichen Motivation gibt es aber auch einfach einen großen Bedarf an öffentlicher Bildungsarbeit. Viele Menschen sind neugierig, wissen aber nicht, wo sie sich informieren sollen oder wie sie sich verhalten können. Außerdem gibt es eine Menge hasserfüllter Propaganda zu diesen Themen.
Sie nutzen Ihren YouTube-Kanal, um die Öffentlichkeit mittels philosophischer Video-Essays zu diesem Thema aufzuklären. Wie kann die Philosophie zu verstehen helfen, warum die Gesellschaft in Teilen noch immer mit so viel Unverständnis und Ablehnung auf Personen reagiert, die eine Transition vollzogen haben?
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Her YouTube channel ContraPoints is currently followed by 1.6 million people, making it one of the largest with philosophical content. In this interview, Natalie Wynn talks about the power of performance, her transition and dealing with hate.

Susanne Schmetkamp über Empathie
Lebt es sich als emphatischer Mensch leichter? Warum ist der Begriff Empathie philosophisch interessant? Und welche anderen Denkerinnen und Denker haben sich mit ihm beschäftigt? Auf der diesjährigen phil.cologne sprachen wir mit Susanne Schmetkamp über Empathie. Susanne Schmetkamp ist Philosophin und leitet eine Forschungsgruppe zur Ästhetik und Ethik der Aufmerksamkeit an der Universität Fribourg (Schweiz). Ihre Forschungsgebiete sind ästhetische Erfahrung, Empathie, Aufmerksamkeit, Perspektivität, Film und Serien.

Gibt es einen guten Tod?
Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

„Hate Watching“: Warum sind wir fasziniert von dem, was wir hassen?
Wer kennt das nicht: Eine Realityshow anschauen, obwohl man sie albern findet; einem Filmsternchen in den sozialen Netzwerken folgen, das man verachtet; eine Serie bis zum Ende gucken, obwohl sie einen vor Langeweile gähnen lässt... Warum sind wir derart fasziniert von dem, was wir verabscheuen? Weil wir im Grunde genau das begehren, was wir angeblich hassen, antwortet René Girard.

Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
Kann uns die Liebe retten?
Der Markt der Gefühle hat Konjunktur. Allen voran das Geschäft des Onlinedatings, welches hierzulande mit 8,4 Millionen aktiven Nutzern jährlich über 200 Millionen Euro umsetzt. Doch nicht nur dort. Schaltet man etwa das Radio ein, ist es kein Zufall, direkt auf einen Lovesong zu stoßen. Von den 2016 in Deutschland zehn meistverkauften Hits handeln sechs von der Liebe. Ähnlich verhält es sich in den sozialen Netzwerken. Obwohl diese mittlerweile als Echokammern des Hasses gelten, strotzt beispielsweise Facebook nur so von „Visual-Statement“-Seiten, deren meist liebeskitschige Spruchbildchen Hunderttausende Male geteilt werden. Allein die Seite „Liebes Sprüche“, von der es zig Ableger gibt, hat dort über 200 000 Follower. Und wem das noch nicht reicht, der kann sich eine Liebesbotschaft auch ins Zimmer stellen. „All you need is love“, den Titel des berühmten Beatles-Songs, gibt es beispielsweise auch als Poster, Wandtattoo, Küchenschild oder Kaffeetasse zu kaufen.
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