Paul Mason: „Der Kapitalismus stößt an seine Grenzen“
Zahlreiche Unternehmen kämpfen derzeit mit Lieferengpässen. Der britische Publizist Paul Mason erläutert im Interview, warum es sich dabei nicht nur um Folgen der Pandemie handele, sondern unser Wirtschaftssystem selbst dysfunktional geworden sei.
Herr Mason, ein zentrales Versprechen des Kapitalismus besteht darin, Waren in (Über-)Fülle verfügbar zu machen. Nun erleben wir im Moment jedoch, wie weltweite Lieferketten brüchig werden und es an Halbleitern, Papier oder Wanderschuhen mangelt. Bisweilen wird sogar schon vor Engpässen bei Weihnachtsgeschenken gewarnt. Handelt es sich hierbei um temporäre Störungen innerhalb der Weltwirtschaft – oder gar um einen Systemfehler?
Die Lieferengpässe sind vorübergehend, aber strategisch. Nehmen wir das Beispiel der Halbleiter: Die Nachfrage übersteigt derzeit das Angebot, da diese Waren allerdings inzwischen als strategisch wichtig angesehen werden – und das geistige Eigentum für die Herstellung als ein geostrategisches Gut gilt – kann der Markt nicht einfach mit zusätzlichen Kapazitäten reagieren. Sobald die Knappheit also offensichtlich wurde, haben die großen geostrategischen Mächte – USA, China, die Europäische Union und Japan – begonnen, Maßnahmen zur Versorgungssicherung zu ergreifen. Schließlich spielt auch der Klimawandel bei den Engpässen eine Rolle: Die Dürre in Taiwan ist beispielsweise mitverantwortlich für das, was wir gerade erleben. Das Muster ähnelt hierbei dem Grund für den Engpass von Erdgas: Die steigende Nachfrage, gekoppelt mit geostrategischen Rivalitäten und den Auswirkungen des Klimawandels, führen zu stockenden Lieferketten. Wir haben es hier mit einer multikausalen Krise zu tun, an deren Wurzel die Erosion des neoliberalen Modells der Globalisierung sowie dem Fehlen einer Alternative zu ihm liegt.
Sie haben immer wieder argumentiert, unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem zeichne sich zunehmend durch eine allgemeine Dysfunktionalität aus. Was meinen Sie damit?
Wir befinden uns in einer „allgemeinen Krise des Kapitalismus“ und zwar in dem Sinne, in dem Historiker den Begriff „allgemeine Krise des Feudalismus“ verwenden. Damit bezeichnet man typischerweise eine Folge von Ereignissen im vierzehnten Jahrhundert, etwa den plötzliche Rückgang der landwirtschaftlichen Produktivität sowie der Bevölkerung durch den Schwarzen Tod. Hinzu kamen Bauern- und Weberaufstände. All diese Vorkommnisse machten zunächst den Anschein unabhängiger Ereignisse. Tatsächlich resultierten sie aber allesamt aus einem dysfunktional gewordenen Wirtschaftssystem, das – um den berühmten Ausdruck von Marx zu verwenden – zu einer „Fessel“ für den technischen und sozialen Fortschritt geworden war. Heute befinden wir uns aus vier Gründen in einer vergleichbaren Situation: Erstens wurde der Wirtschaft im Westen jegliche Dynamik genommen, weshalb sie nur durch sogenannte quantitative Lockerung und Verschuldung am Leben erhalten werden kann. Zweitens befinden wir uns durch Covid-19 in einer historischen Phase der Bedrohung der Weltgesundheit, die auf eine rasante Urbanisierung, die Abholzung von Regenwäldern sowie dem Aufstieg einer rücksichtslosen kommunistischen Klasse von Milliardären in China rückführbar ist. Drittens stehen wir durch ein sich rasant änderndes Klima vor massiven Herausforderungen. Und viertens erleben wird ein geopolitisches Wettrüsten der Technologien zur Kontrolle des menschlichen Denkens und Verhaltens. Und jedes einzelne dieser Phänomene geht auf diese gemeinsame Ursache zurück: Der Kapitalismus selbst stößt an die Grenzen dessen, was seine Wirte – die Erde sowie die menschliche Spezies – verkraften können.
Allerdings lässt sich schwer bestreiten, dass der Kapitalismus so vielen Menschen aus der Armut geholfen wie kein anderes System. Lässt sich das einfach ignorieren?
Nein, natürlich nicht. Der industrielle Kapitalismus ist die Voraussetzung für die menschliche Befreiung. In meinem Buch Postkapitalismus zeige ich auf, dass der digitale Kapitalismus die Möglichkeit besitzt, jene von Leninisten prognostizierte Knappheitsphase des „Sozialismus“ zu überspringen, um direkt in ein Zustand des Überflusses einzutreten. Allerdings treten wir in eben diese historische Phase nun zu jenem Zeitpunkt ein, an dem eine wichtige Voraussetzung für das menschliche Leben knapp wird – nämlich ein stabiles und lebensfreundliches Klima. Der Klimawandel erfordert rasches und radikales Handeln und es bleibt schlicht keine Zeit, sich mit dem Sturz des gegenwärtigen Kapitalismus bis 2035 Zeit zu lassen, wenn wir unsere Kohlestoffemissionen schnellstmöglich auf Nettonull senken müssen. Aber der Kapitalismus, den wir brauchen, um dieses Ziel zu erreichen, sieht so anders aus, als der, den wir aktuell haben, und er wird so viele der aktuellen Eliten entmachten, dass es schwierig sein wird, ihn ohne Massenmobilisierung durchzusetzen. Aus diesem Grund wiederhole ich meine Selbstbeschreibung als „revolutionären Sozialdemokraten“.
In Ihrem Buch Klare, lichte Zukunft argumentieren Sie für eine gesellschaftliche Ordnung, die mehr auf den Menschen ausgerichtet ist. Bedeutete dies – auch vor dem Hintergrund des Klimawandels – letztlich eine Form der Deglobalisierung?
In einem ersten Schritt müssen wir die Bevölkerungen innerhalb der einzigen effektiven Einheit stärken, die die Politik bisher hervorgebracht hat: dem Nationalstaat. Zweitens müssen wir eine Koalition von willigen Staaten schaffen, die bereit sind, das zu tun, was ich bereits als notwendig ausgeführt habe. Drittens müssen wir die Architektur der transnationalen Regierung neugestalten. Um das britische Energiesystem schnell auf erneuerbare Energien umzustellen, soziale Gerechtigkeit sowie die Versorgung sicher zu stellen, brauchen wir meiner Meinung nach ein zentralisiertes staatliches Energieunternehmen und einen wirtschaftlichen Kommandoplan. Ich weiß, dass diese Vorschläge nicht für alle überzeugende klingen, aber sie sind allemal besser als das Szenario, dass Überschwemmungen wie zuletzt in Nordrhein-Westfalen bald auch London mit vergleichbarer Wucht treffen könnten. Doch selbst wenn wir sämtliche Marktelemente aus nationalen Energiesystemen entfernen, gibt es noch immer den globalen Großhandelspreis für Strom, Gas usw. Nötig ist also eine Form der Kooperation auf internationaler Ebene. Für eine Welt, die nicht mehr von Energie aus Kohle und Erdöl abhängt, brauchen wir grenzüberschreitende und interkontinentale Infrastrukturen. Die nächste Globalisierung muss auf ökologischer Nachhaltigkeit, Basisdemokratie und staatlicher Regulierung der Konzerne fußen. Und ja, um das zu bewerkstelligen, werden wir die Deglobalisierung eventuell auch aktiv vorantreiben müssen. Dabei allerdings kann der Weg nicht im Isolationismus oder gar Nationalismus liegen, sondern wir müssen diesen Prozess als ein notwendiges Übel betrachten, so wie man sich einen Zahn ziehen lässt.
In einem Interview, das Sie dem Philosophie Magazin im Mai letzten Jahres gegeben haben, waren Sie optimistisch, dass eine politische Elite aus der Pandemie hervorgehen könnte, die stärker nach nachhaltigen Antworten für gesellschaftliche Probleme suchen wird. Sehen Sie diese Hoffnung bestätigt?
In Großbritannien nicht. Die politische Elite des Vereinigten Königreichs hat sich einfach an der Süßigkeitenschublade sogenannter wettbewerbsfreier Verträge bedient und dadurch Milliarden von Pfund erwirtschaftet. So wurden zu Beginn der Pandemie Aufträge im Zusammenhang mit Covid-19 im Wert von etwa 19 Milliarden Pfund ohne Wettbewerb vergeben. Häufig an Firmen, die direkt Lobbyarbeit bei der Regierung betrieben hatten. Mindestens drei Milliarden Pfund Auftragsvolumen dieser Verträge gingen dabei an Unternehmen, die Geldgeber der Konservativen Partei waren. In einem Fall vergab das Gesundheitsministerium einen Job an einen kleinen Geschäftsmann, der der Nachbar des Gesundheitsministers war. Die britische Regierung befindet sich im Dauerkrisenmodus, weil sie – wie Erdogan und Orban – erkannt hat, dass eine Dauerkrise der beste Weg ist, um anschlussfähig bei den fremdenfeindlichen Teilen Arbeiterklasse zu bleiben. Was mir allerdings Hoffnung macht, ist die Resilienz der jungen Menschen: Keine Generation war je so gebildet und hatte zudem ein so großes Interesse daran, dass wir unseren Lebensstil möglichst schnell CO2-frei gestalten. Alles was wir jetzt noch brauchen, sind politische Parteien und Führungspersönlichkeiten, die diese jungen Menschen inspirieren können, anstatt sie auszugrenzen und zu ignorieren. •
Paul Mason ist Journalist und Publizist. 2020 wurde ihm der Erich-Fromm-Preis verliehen. Zuletzt erschien von ihm „Klare, lichte Zukunft – Eine radikale Verteidigung des Humanismus“ (Suhrkamp, 2019).