Improvisieren lernen mit Jack Kerouac
In der Pandemie stößt unser rationaler Umgang mit dem Ungewissen an seine Grenzen. Wir sollten uns vielmehr an die Improvisationsratschläge des amerikanischen Schriftstellers Jack Kerouac halten.
Unserer Fähigkeit zu improvisieren wohnt eine Paradoxie inne. Auf der einen Seite improvisieren wir unentwegt und oft ohne große Anstrengung. Wir weichen anderen Menschen auf der Straße aus oder nehmen den Bus, wenn die U-Bahn zu voll ist. Ständig passen wir uns flexibel an unsere Umwelt an. Selbst in Situationen, die uns vor weit größere Herausforderungen stellen als der Weg zu Arbeit, adaptieren wir ganz natürlich. Ereignisse wie der erste Kuss, das erste Kind oder ein Trauerfall in der Familie treffen uns gänzlich unvorbereitet und dennoch finden wir uns zurecht, indem wir Gesten und Worte ausprobieren, die auf dem beruhen, was wir bereits wissen.
Doch auf der anderen Seite kommen wir oft auch ins Straucheln, wenn etwas nicht nach Plan läuft. Wer beispielsweise in einem Zoom-Meeting plötzlich bei einer komplexen Angelegenheit nach seiner Meinung gefragt wird, gerät schnell ins Stottern. Sobald wir aufgefordert werden, öffentlich zu improvisieren, verlieren wir nicht selten unsere Fähigkeit spontaner Anpassung, als ob wir nicht auf jahrelange Erfahrungen zurückgreifen könnten. Aber wie verhält es sich denn nun mit der Improvisation? Ist sie für uns selbstverständlich? Oder doch eine Fähigkeit, die wir nie ganz souverän meistern können? Wie kann etwas Alltägliches gleichzeitig so schwierig sein?
In den letzten Jahrzehnten haben sich zahlreiche Denkerinnen und Denker mit dem Thema Improvisation beschäftigt. Besonders fruchtbar für die eigene Anwendung sind die Ausführungen des amerikanischen Schriftstellers Jack Kerouac. Fasziniert von den Jazzclubs der Westküste, suchte er vehement nach Wegen, etwas von der Leichtigkeit und Spontanität dieser Musik in die Literatur zu übersetzen, die seiner Meinung nach nicht selten angestaubt und träge daherkam. Zu diesem Zweck hielt Kerouac in einem Brief an den Verleger Don Allen aus dem Jahr 1958 eine Liste 30 kurzer Ratschläge fest, die seine Glaubenssätze und Techniken für moderne Literatur umreißen. Besonders drei dieser Ratschläge scheinen unerlässlich für all jene, die besser improvisieren wollen.
Tanzen ohne Angst
Der Ausgangspunkt für erfolgreiches Improvisieren ist ein stabiles Selbstbewusstsein, daher auch der im ersten Moment eigentümlich anmutende Ratschlag: „Du bist immer ein Genie“ (Tipp Nr. 29). Aus Kerouacs Sicht ist dies aber kein Aufruf zum Größenwahn, sondern vielmehr eine sinnvolle Form emotionaler Gestimmtheit. Um zu improvisieren, muss man seinen Fähigkeiten nämlich vollends vertrauen. Wer die eigenen Einfälle zu schnell selbstkritisch hinterfragt, lähmt sich und gleicht einem Tänzer, der nur verlegen von einem Bein auf das andere tritt, weil er Angst hat, sich vor anderen zu blamieren. Es empfiehlt sich daher mit der gleichermaßen extravaganten wie befreienden Einstellung auf die Tanzfläche zu treten, wonach das Urteil der Umwelt zunächst zu vernachlässigen ist, da man um seine Tanzkünste weiß.
Ein weiteres Grundprinzip besteht für Kerouac in der Akzeptanz, dass einem zwangsläufig Fehler passieren, die man auch nicht wieder ausbügeln kann: „Akzeptiere Verluste als endgültig“, lautet entsprechend der 19. Ratschlag. Wer einen Fehler begangen hat, kann seine Tat noch lange Zeit bedauern oder aber einfach einsehen, dass Scheitern zum Leben gehört und auf bessere Zeiten hinarbeiten. Ein Loch in der Wand ist ein Loch in der Wand ist ein Loch … Die Richtung, in die die Improvisation weisen sollte, ist also stets: vorne. Schulterblicke lässt sie nur bedingt zu. Man sollte es deshalb halten, wie ein Musiker, der trotz eines falschen Tons weiterspielt oder wie ein Schauspieler, der sich die Gedächtnislücke nicht anmerken lässt, bis ihm wieder einfällt, wie die nächste Textzeile lautet.
Den Sumpf trockenlegen
Hinter diesem zweiten Hinweis steht eine so einfache wie folgenreiche Einsicht: Das Leben lässt sich nicht im eigentlichen Sinne einrichten und ausgestalten wie ein Wohnraum. Es gleicht im Gegenteil eher einem Weg, den man im Laufe der Jahre abschreitet und an dessen Seiten alle guten und schlechten Entscheidungen die Wegmarken bilden. Man kann die letzte zwar bereuen, sie allerdings nicht ungeschehen machen und sollte tunlichst nicht zu lange zurückschauen.
Wo die ersten beiden Ratschläge auf unsere innere Einstellung zielen, ist der letzte Ratschlag Kerouacs zur Improvisation eher theoretischer Natur: „Wenn Sie etwas wirklich fühlen, es ihnen damit wirklich ernst ist, wird es sich seine eigene Form geben“ (Ratschlag Nr. 5). Nehmen wir an, Sie führen ein wichtiges Gespräch mit einer Person, die Sie lieben. Sie beginnen einen Satz, wissen aber nicht, wie er enden wird, und dennoch findet er während des Sprechens seine Form. Allein: diese gleichermaßen erleichternde wie erfreuliche Erfahrung beschränkt sich oft auf bestimmte Fälle, haben wir doch in anderen alltäglichen Bereichen unseres Lebens meist klare Muster, Rollen, Protokolle und Erwartungen, die weitgehend vorgeben, was am Ende herauskommt. Um nochmals das Bild des Weges aufzugreifen: Wir führen unser Leben nicht selten wie ein Baumeister, der auch Land begehbar machen will, das stark bewaldet oder sumpfig ist. Die Improvisation als Lebensweise zu akzeptieren, bedeutet auch, einen Umweg in Kauf zu nehmen und darauf zu hoffen, dass in der Rückschau schon alles einen bestimmten Sinn erhalten wird. Selbst wenn es während der Wanderung nicht danach aussieht.
Diese Einstellung gegenüber dem Leben steht allerdings im krassen Kontrast dazu, wie wir unser Leben in der Regel führen. Denn auch in Deutschland sind wir die geistigen Erben des französischen Philosophen René Descartes. Dessen Schaffen lädt dazu ein, unser Denken, unsere Umwelt und unsere Erfahrungen in eine mathematische Sprache zu übersetzen. Als einer der bedeutendsten Beiträge zu diesem mathematischen Verständnis der Welt darf das nach Descartes benannte Kartesische Koordinatensystem gelten. Dabei handelt es sich um jenes Koordinatensystem, das aus der Schule gut bekannt sein dürfte und im zweidimensionalen Raum mit einer x- und einer y-Achse, im dreidimensionalen Raum zusätzlich mit einer z-Achse versehen ist.
Lehren der Pandemie
Diese Darstellungsform erlaubt es uns, sämtliche Sachverhalte aus unserem Leben mathematisch und damit wissenschaftlich analysierbar darzustellen. Egal, ob es sich um die monatlichen Ausgaben für Nahrungsmittel, die eigene Herzfrequenz nach einem Dauerlauf oder komplizierte mathematische Gleichungen handelt. Durch die einfache, da visuell leicht zu erfassende Veranschaulichungsform von Daten in einem Koordinatensystem, lassen sich Berechnungen anstellen, bedingte Vorhersagen machen und Entscheidungen auf dieser Grundlage treffen. Ein sehr mächtiges Werkzeug.
Allerdings leben wir aktuell in einer Zeit, die uns die Begrenzungen dieser mathematischen Methode der Entscheidungsfindung und damit Lebensführung deutlich bewusst macht. Vieles im Leben hat nur noch wenig mit dem zu tun, was es noch vor einem Jahr war, was viele Zahlen und Modelle aus der Zeit vor der Pandemie unbrauchbar macht. Wie also handeln in einer Welt, in der das morgen nicht sicher dem heute gleicht? Die Antwort lautet: Indem wir unserer Improvisationsfähigkeit mehr zutrauen, nicht zu viel kontrollieren wollen, Fehler als Teil des Prozesses akzeptieren und auf die Form vertrauen, die wir uns selbst geben werden. Oder um es auf die Formel eines verspäteten Neujahrsvorsatzes zu bringen: Weniger Descartes, mehr Kerouac! •
Übersetzt von Dominik Erhard
Alexandre Lacroix ist Chefredakteur des französischen Philosophie Magazine. Auf Deutsch erschien von ihm „Kleiner Versuch über das Küssen“ (Matthes & Seitz, 2013)
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