Philosophie für schwere Zeiten
Vielen Menschen setzt die Pandemie psychisch zu. Um trotz der aktuellen Lage nicht die innere Freiheit zu verlieren, empfiehlt die Philosophin und Psychoanalytikerin Hélène L'Heuillet die Lektüre der Selbstbetrachtungen des Stoikers Mark Aurel.
„Mark Aurels Schriften begleiten mich bereits seit über vierzig Jahren. Es gibt Werke, auf die man in seinen eigenen Texten verweist und andere, die eher ‚aus dem Hintergrund‘ wirken. Und oft sind Letztere die wichtigeren. Dass ich in letzter Zeit immer wieder an Aurels Selbstbetrachtungen denken musste, hat natürlich in erster Linie mit der Pandemie zu tun. Die dringend nötige Selbstisolation sorgt bei vielen, und eben auch bei mir, für eine innere Einkehr. Wenn wir dazu angehalten werden, zu Hause zu bleiben, liegt es einfach nahe, noch weiter nach innen zu gehen. Ich finde deshalb Hegels Kommentar zum Stoizismus sehr treffend, der sich in seiner Phänomenologie des Geistes findet. Er schreibt dort, dass der Stoizismus nur in einem Moment der Krise entstehen konnte und dementsprechend auch immer dann besonders hilfreich ist, wenn wir uns in einer Phase der Abhängigkeit, ja unter dem Joch der Gegebenheiten befinden. Auch ich glaube, dass uns der Stoizismus sowohl in persönlichen wie kollektiven Krisen besonders helfen kann, indem er wie ein Damm wirkt, an dem die Wellen kleinerer und größerer Katastrophen brechen und so ihren Schrecken verlieren. Der Stoizismus lehrt uns nämlich über die Umstände unseres Lebens nachzudenken, sodass wir ihnen nicht einfach ausgeliefert sind. Es geht in Mark Aurels Stoizismus allerdings nicht um einen Rückzug aus der Welt, sondern eher darum, ihren Geschehnissen nicht hilflos ausgeliefert zu sein.
Eine von Mark Aurels zentralen Lehren geht dabei auf die frühsten Stoiker zurück: Unterscheide das, worauf du Einfluss hast sorgfältig von dem, was du nicht ändern kannst. Eine solch differenzierte Betrachtung der Welt kann uns den Mut verleihen, sich Hindernissen im eigenen Leben zu stellen und zu erkennen, dass die wahre Freiheit im Denken liegt. Machen wir unsere Freiheit nämlich zu sehr von der Außenwelt abhängig – zum Beispiel davon, ob wir reisen können oder nicht – bedeutet das, dass wir uns selbst als Sklaven einer Situation behandeln, über die wir nicht verfügen können. Natürlich ist Bewegungsfreiheit ein wesentlicher Teil unserer Freiheit, aber wenn wir Letztere nur auf die körperliche Ungebundenheit beziehen, handelt es sich dabei um eine verkürzte Freiheitsvorstellung, die uns wiederum in unserer geistigen Bewegungsfreiheit einschränkt.
Aber kann uns gedankliche Freiheit allein tatsächlich zufrieden machen? Nein, natürlich nicht. Und so ist sie bei Mark Aurel auch nur ein Teil eines weitaus größeren Freiheitsbegriffs. Nur wer Freiheit nach Innen kultiviert hat, kann diese in einem zweiten Schritt auch nach außen treten lassen, um dort zu einer Veränderung der Verhältnisse beizutragen. Wären die Menschen in Belarus beispielsweise nicht überzeugt, dass gedankliche Freiheit wichtig ist, würden sie sicher nicht gegen einen Tyrannen demonstrieren.
Mark Aurel erinnert uns in seinen Schriften immer wieder daran, dass wir uns besonders in schwierigen Zeiten nicht selbst aus dem Blick verlieren sollten. Dies allerdings hat nichts mit Einigelung zu tun, sondern soll der inneren Beruhigung dienen. Denn was wäre neben dem Verlust des eigenen Lebens oder eines geliebten Menschen in dieser Krise schlimmer als die innere Balance zu verlieren und sie nicht wieder zurückerlangen zu können? Wie sich also wappnen? Wie sich orientieren? Indem wir uns die Gedanken, die uns beunruhigen, einen nach dem anderen vornehmen, sie untersuchen, aufschlüsseln und uns fragen, woraus sie bestehen und warum sie existieren. Mark Aurel hat mich gelehrt die schlechten und absurden Gedanken nicht einfach zu verjagen und sie dadurch nur noch größer werden zu lassen, sondern sie anzunehmen und ihnen so nicht selten Lehrreiches abzugewinnen. Auf diese Weise ziehe ich aus nahezu jeder Bewegung des Geistes Ruhe oder zumindest ein bisschen Orientierung.“
Hass entschärfen
Der Philosoph Pierre Hadot, der sich viel mit dem Denken Aurels auseinandersetzte, prägte das Bild der „inneren Burg“, um damit eine zentrale Idee Mark Aurels zu veranschaulichen. Ich halte es allerdings für verwirrend, den Vorgang der gedanklichen Einkehr so zu beschreiben, weil ich nicht glaube, dass Aurel die Vorstellung gefallen hätte, einen Schutzwall gegen andere Menschen und damit die Welt zu errichten. Natürlich geht die Sorge um das eigene Selbst und der inneren Freiheit Hand in Hand mit dem Gedanken des Selbstschutzes. Dieser allerdings steht in keiner Weise im Widerspruch zur Welt. Denn bei den Stoikern gibt es eine Parallele zwischen dem Mikrokosmos, also unserem menschlichen Leben, und dem Makrokosmos, dem Kosmos insgesamt. Im stoischen Idealfall stülpt sich meine innere Freiheit aus und durchdringt mein ganzes Leben. Oder anders formuliert: Innere Freiheit ist die Voraussetzung für Selbstwirksamkeit in der Welt.
Wem die Idee der inneren Burg dennoch gefällt, sollte sie mit folgender Geisteshaltung errichten, die sich gut morgens einüben lässt, indem man sich klar macht: Ich werde heute undankbaren, gewalttätigen, hinterlistigen und arroganten Menschen begegnen. Alle ihre Fehler entspringen jedoch ihrer Unwissenheit darüber, was richtig und falsch ist, und haben meist nichts mit mir zu tun. Es geht also um die Antizipation all der Situationen, die uns im Laufe des Tages nicht gefallen könnten, aber auch darum, uns daran zu erinnern, dass wir selbst Teil dieser Welt sind und deshalb wiederum für andere Hindernisse darstellen. Mark Aurel macht uns in seinen Schriften klar, dass wir zu dieser Welt gehören, wie unsere Augenlieder Teil unseres Organismus sind. Ein solch stoischen Umgang mit der Wirklichkeit fällt uns heute schwer, ist für ein gelungenes Leben im Sinne Aurels allerdings auch nicht zwingend erforderlich. Es ist nämlich schon ausreichend, wenn wir erkennen, dass das Errichten einer inneren Burg nicht notwendigerweise die Abwehr der Außenwelt implizieren muss. Mark Aurel fordert uns lediglich dazu auf, uns darin zu üben, den unvermeidlichen Hass zu entschärfen, den wir gegenüber unseren Mitmenschen empfinden können.
Man könnte dem Stoizismus nun vorwerfen, dass er der Illusion einer vollkommenen Autonomie des Subjekts Vorschub leistet. Die Illusion also, dass Freiheit unabhängig von allen äußeren Gegebenheiten existieren kann. Ja sogar, dass ein innerer Frieden göttlichen Ausmaßes tatsächlich erreichbar wäre. Allerdings ist diesem Vorwurf leicht zu begegnen, indem man klarstellt, dass es Mark Aurel keineswegs darum geht, vollen inneren Frieden und innere Freiheit jemals tatsächlich zu erreichen. Vermutlich würde er sogar sagen, dass dieser gar nicht erreicht werden kann. Denn in Wirklichkeit ist Aurel ein Denker des Scheiterns, was ihn für mich zutiefst sympathisch macht. Bei näherer Betrachtung stellt er sich für mich als der unvollkommenste aller Stoiker heraus. Denn wenn wir ihn mit Seneca oder Epiktet vergleichen, wirkt er am wenigsten mit seinen Überzeugungen im Einklang. In seinen Schriften macht er sogar nicht selten einen gequälten Eindruck. Sein ganzes Leben blieb er fast notgedrungen der Auffassung treu, dass man sich nicht entmutigen lassen sollte, wenn die eigenen Erwartungen unerfüllbar bleiben. Unsere einzige Aufgabe ist es, das betont er immer wieder, die Flamme am Leben zu erhalten – auch wenn sie flackert. Die Schriften Aurels sind für mich deshalb eine großartige Medizin gegen Leistungsdruck und Narzissmus. Während die meisten unserer heutigen Führungskräfte damit angeben, nur drei Stunden Schlaf pro Nacht zu bekommen, gibt er zu, dass es ihm schwerfällt, morgens aufzustehen. Seine eigene Fehlbarkeit zeigt sich auf jeder Buchseite. Selbstwirksamkeit und Disziplin sind also eher regulative Ideen, denn verwirklichte Ideale. Allein der Versuch, so lehrt er uns, zählt bereits.
Eine zyklische Zeit
Wer die Selbstbetrachtungen liest, bekommt nicht zuletzt auch ein anderes Verhältnis zum Verlauf der Zeit. Noch nie habe ich dieses Buch gelesen – und ich habe es bereits mindestens ein Dutzend Male gelesen – ohne, dass ich den Buchdeckel am Ende mit einer neuen Erkenntnis zugeklappt hätte. Die Art und Weise, wie Aurel den Lesefluss führt, seine Gedanken parallel zu jenen der Leser voranschreiten, hin und her gehen und sich selbst zitieren, hat etwas Zyklisches. In jeder Zeile wird deutlich, dass er eines unmissverständlich erkannte: Über sich selbst zu schreiben, bedeutet für sich selbst zu sorgen. Deshalb bedauere ich auch sehr, dass heutzutage nur noch wenige Menschen ein Tagebuch führen. Denn mitnichten versucht man in diesem Prozess einen Moment festzuhalten oder einzufrieren, wenn man ihn zu Papier bringt. Im Gegenteil erlaubt uns diese Praxis auf uns selbst zurückzublicken. In der Psychoanalyse spielt das Überraschungsmoment der mündlichen Erzählung eine bedeutende Rolle. Aber auch die schriftliche Aufzeichnung ist wichtig, wenn man beispielsweise am Morgen nach dem Aufwachen seine Träume festhält. Mark Aurel und die Psychoanalyse verstehen das Schreiben über sich selbst gleichermaßen als eine Technik des Selbst, um sich deutlicher wahrzunehmen.
Zu Beginn der Pandemie sprangen auf Google Suchanfragen nach dem Wort „Alptraum“ in zuvor nie dagewesener Weise nach oben. Und auch die Zahl der Menschen, die an Depressionen leiden, hat zugenommen. Das ist allerdings kein Wunder, werfen uns die Maßnahmen zur Viruseindämmung doch auf uns selbst zurück und geben uns viel Zeit zum Nachdenken. Das ist auch der Grund, warum wir uns sonst so oft bereitwillig der Raserei des Alltags aussetzen. Gefangen im Rausch all unserer Angelegenheiten, denken wir nicht über die großen Probleme unseres Lebens, unsere tiefen Ängste oder den Tod nach. Die Lektüre Mark Aurels ist deshalb auch nützlich, weil sie uns eine Art Ruhe zu schenken vermag, die kein Stillstand ist, sondern eine geregelte Bewegung der Seele, die uns tief nachdenken lässt.
Während wir vor der Pandemie in der Vorstellung eines sehr linearen Fortschritts gefangen waren, hat uns das Virus wieder dem Gefühl einer zyklischen Zeit nähergebracht. Und zwar unter anderem deshalb, weil wir uns nicht mehr ohne weiteres in die Zukunft entwerfen können. Viele Menschen haben Verwandte oder Nachbarn verloren und wir alle denken mittlerweile an Covid, wenn wir einen Krankenwagen hören. So ist es kein Zufall, dass auch in Aurels Selbstbetrachtungen der Tod immer präsent ist. Über das Vergehen der Zeit nachzudenken, heißt auch, über den Tod nachzudenken. Bemerkenswert ist allerdings, dass Aurel dies nicht in erster Linie auf melancholische Weise tut. Wer Aurel zufolge über die Zeit nachdenkt, setzt Probleme ins Verhältnis und kann die Schwierigkeiten des Lebens betrachten wie Perlen auf einer Schnur. Geordnet und eine nach dem anderen. Diese Vorgehensweise erlaubt es uns, unsere Traumata anzugehen und ihnen vielleicht sogar ihre schmerzliche Seite zu nehmen.
Radikale Veränderung
Denn eine weitverbreitete Fehlannahme besteht darin, ein Trauma lähme einen Menschen mache ihn unempfänglich für die Signale der Außenwelt im Allgemeinen und die Reize des Schönen im Besonderen. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Ein Trauma versetzt eine Person in permanente Wachsamkeit und überfordert sie so fortlaufend mit Eindrücken. Die geistige Erregung lässt bei einem Trauma nie nach. Aurel rät deshalb in einem solchen Fall: Wen ein Ereignis nicht mehr loslässt und auf eine derart fesselnde Weise immer wieder heimsucht, der solle sich klar machen, dass es geschehen ist und wieder geschehen kann, man dann allerdings die Möglichkeit hat, vorbereitet zu sein. Die stoische Vorstellung einer zyklischen Zeit steht unserer heutigen Zeitauffassung fundamental entgegen und kann uns dennoch helfen, die inneren Wunden möglichst klein zu halten. Wer sich beispielsweise vergangener Pandemien bewusst ist, kann aus ihnen lernen und künftige besser angehen.
Über den Tod nachzudenken heißt aber auch, über Transformation und damit über radikale Veränderung nachzudenken und diese zu akzeptieren. Zu Beginn der Pandemie waren wir zwischen zwei Gefühlen gefangen: Der Hoffnung auf eine wohltuende Pause – was sich als illusorisch erwies, wie aktuelle Zahlen von Burnout und Depression zeigen – und der Empörung darüber, dass sich die Welt, wie wir sie kannten, so radikal verändern konnte. Denn ganz offensichtlich gibt es Dinge, die nicht von uns abhängen und Veränderungen, die sich einfach vollziehen – mit oder ohne unser Zutun. Wir vergessen nur zu oft, dass sich Situationen mitunter schnell und grundlegend wandeln. Auch wenn uns die Pandemie dies recht brutal vor Augen führt, zeigen Aurels Werke ein entscheidendes Mittel dagegen auf: Ruhe bewahren.“ •
Aufgezeichnet von Victorine de Oliveira / Übersetzt von Dominik Erhard
Hélène L'Heuillet ist Philosophin und Psychoanalytikerin und lehrt politische Philosophie und Ethik an der Pariser Sorbonne-Universität.
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Die Redaktion des Philosophie Magazin trauert um Imre Kertész. In Gedenken an den ungarischen Schriftsteller veröffentlichen wir ein Interview mit ihm aus dem Jahr 2013.
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Nietzsche, Wittgenstein, Camus – es war die Philosophie, die Imre Kertész den Weg zur Literatur wies. Der ungarische Nobelpreisträger blickte in seinem, wie er selbst vermutete, „letzten Interview“ zurück auf ein Leben, das sich weder durch Konzentrationslager noch die kommunistische Zensur zum Schweigen verdammen ließ.
„Wissen Sie, ich habe viel über Ihre Fragen nachgedacht“, sagte Imre Kertész gleich zu Beginn, als er uns in seiner Wohnung in Buda, einem Stadtteil von Budapest, empfing. „Mir liegt daran, mit Ihnen ein schönes Interview zu führen, weil es vermutlich mein letztes sein wird.“ Dieser testamentarische Satz könnte makaber wirken, aber im Gegenteil: Seiner kurzatmigen Stimme zum Trotz leuchtet es in seinen Augen lebhaft und verschmitzt. Seit gut einem Jahrzehnt kämpft Kertész mit der Parkinsonkrankheit, Ursache zahlloser Schmerzen und Schwierigkeiten, von denen seine veröffentlichten Tagebücher berichten. Diese Krankheit zwang ihn, 2012 offiziell das Schreiben aufzugeben, und lässt ihm täglich nur wenige kurze Momente der Ruhe.
Es ist schwer, nicht gerührt zu sein bei der Begegnung mit diesem so geprüften und zugleich so zäh durchhaltenden Menschen, der unentwegt über die Paradoxa des Daseins als „Überlebender“ nachgesonnen hat. Imre Kertész wurde 1929 geboren. 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert, dann nach Buchenwald gebracht, wo er 1945 die Befreiung des Lagers erlebte. Den wesentlichen Teil seines Lebens hat er daraufhin unter dem kommunistischen Regime in Ungarn verbracht. Kertész begann Mitte der fünfziger Jahre zu schreiben. Zugleich toleriert vom Regime und sorgsam ferngehalten von der Öffentlichkeit, veröffentlichte er in äußerst überschaubaren Auflagen und kühl aufgenommen von der offiziellen Kritik Meisterwerke wie „Roman eines Schicksallosen“ oder „Der Spurensucher“. Erst mit dem Zusammenbruch des Ostblocks wurden seine Werke in aller Welt übersetzt und fanden internationale Anerkennung, gekrönt vom Literaturnobelpreis im Jahr 2002.
Wenn es eine weniger bekannte Dimension seiner Existenz gibt, dann ist es das Verhältnis des Schriftstellers zur Philosophie. Aus Leidenschaft, doch auch, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, übersetzte Imre Kertész zahlreiche deutsche Philosophen vom Deutschen ins Ungarische, unter ihnen Friedrich Nietzsche und Ludwig Wittgenstein. Die Lektüre dieser Autoren sowie die von Albert Camus und Jean-Paul Sartre hat unentwegt sein Werk genährt. Vor allem aus dem Wunsch heraus, sich über seine – intensive und beständige – Beziehung zur Philosophie zu äußern, stimmte Kertész unserer Interviewanfrage zu.

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