Stefan Lorenz Sorgner: „Wer Pluralität und Freiheit will, muss den Transhumanismus bejahen“
Sind wir alle Cyborgs? Lässt sich ein Leben auf die Festplatte hochladen? Und kann der Transhumanismus die Menschheit retten? Diese Fragen klären wir im Gespräch mit dem Transhumanisten Stefan Lorenz Sorgner.
Herr Sorgner, sind Sie ein Cyborg?
Aber sicher doch. Alle Menschen sind Cyborgs, weil unsere Organismen immer schon kulturell gesteuert wurden. Ein wichtiger Schritt für die Entstehung des Menschen war eine Genmutation vor 300.000 Jahren, aufgrund derer die organischen Voraussetzungen für unsere Sprachfähigkeit realisiert wurden. Im Anschluss etablierte sich dann durch kulturelle und elterliche Upgrades die Sprache im Menschen. Ein Cyborg zu sein bedeutet nichts anderes, als ein kybernetischer Organismus zu sein. Das Wort „kybernetisch“ kommt dabei von dem altgriechischen Wort für „Steuermann“. Wir alle sind mit Sprachfähigkeit ausgestattete, gesteuerte Organismen, die dann in einem beständigen „Upgrade-Prozess“ immer weiter modifiziert werden, z. B. indem wir in der Schule mathematische Fähigkeiten und historisches Wissen erlangen.
Und wie lässt sich da der Transhumanismus verorten? Womit befasst sich dieses Themenfeld?
Der Transhumanismus geht davon aus, dass es in unserem Interesse ist, mithilfe von technischen Möglichkeiten über unsere gegenwärtigen personalen Begrenzungen hinauszugehen, um ein Posthumaner zu werden, da mit der Realisierung der eigenen idiosynkratischen Bestrebungen die Wahrscheinlichkeit einer erhöhten Lebensqualität einhergeht. Das heißt: Es wird weder der Status Quo bejaht noch ein „Zurück zu einem vermeintlichen Ideal von früher“ gefordert, wie z. B. dem der Antike.
Was ist denn ein Posthumaner und ab wann kann man sich als solcher bezeichnen?
Darüber wird im Transhumanismus viel diskutiert. Die diesbezüglich radikalste Vorstellung wird etwa von Elon Musk oder Ray Kurzweil vertreten. Beide arbeiten sogar ganz praktisch daran, dass wir die Inhalte unserer Persönlichkeit in der Zukunft digitalisieren und auf eine siliziumbasierte Grundlage transferieren, also auf eine Festplatte hochladen können. Eine andere Möglichkeit ist, dass Posthumane vorhanden sind, wenn eine neue Spezies aus der menschlichen heraus entsteht und wir nicht mehr Menschen, sondern Posthumane, also Postmenschen sind. Dies wäre dann gegeben, wenn wir Eigenschaften besäßen, aufgrund derer wir uns nicht mehr auf „natürliche“, auf traditionelle Weise mit anderen Menschen fortpflanzen könnten. Eine weitere Möglichkeit ist, dass wir bereits dann Posthumane sind, wenn wir eine Eigenschaft haben, die signifikant über die Eigenschaften hinausgeht, die gegenwärtige Menschen besitzen können. Aber das kann natürlich sehr viel bedeuten.
Was müsste so eine Eigenschaft sein?
Möglicherweise, wenn man so gut Blut riechen könnte wie ein Hai. Oder wenn wir Infrarotstrahlen sinnlich wahrnehmen könnten. Aber man darf nicht vergessen, dass z. B. so jemand wie Kim Peek, der die lebensweltliche Vorlage für den Protagonisten des Films Rain Man darstellt, nahezu 12.000 Bücher Wort für Wort auswendig kannte. Was Menschen zu leisten imstande sein können, kann enorm beeindruckend sein. Darüber signifikant hinausgehen zu können, ist häufig gar nicht so einfach.
Welche Möglichkeiten zum Fortschritt bieten sich denn innerhalb des Transhumanismus an? Was halten Sie für den erfolgversprechendsten Weg?
Da existiert eine große Bandbreite an Optionen. Insbesondere der große Bereich der Gentechniken ist gegenwärtig außerordentlich vielversprechend. In meinem Buch We have always been cyborgs (2022) habe ich ausführlich erläutert, dass eine strukturelle Analogie zwischen der traditionellen Erziehung und der durch die Eltern bestimmten Genmodifikation besteht, so dass beide Prozesse auch moralisch analog bewertet werden sollten. Wenn dieses Argument zutreffend ist, dann müsste das elterliche Recht, die eigenen Kinder zu erziehen, auch das Recht zur Genmodifikation des eigenen Nachwuchses beinhalten. Was die kohlenstoffbasierten Techniken angeht, ist die Modifikation der Gene natürlich nur ein Bereich.
Was wäre eine andere Gentechnik?
Bereits jetzt stellt die Möglichkeit der Selektion von befruchteten Eizellen nach der künstlichen Befruchtung und der anschließenden Präimplantationsdiagnostik eine praktische Option im Bereich der Gentechniken dar. Hierbei handelt es sich um eine separate Gentechnik. Bioprinting und synthetische Biologie stellen wiederum andere Bereiche dar, die wohl in der Zukunft noch viel wichtiger werden. Das weite Feld der Gentechniken ist somit der erste zentrale Bereich. Nicht zu unterschätzen ist auch das Potential von Gehirn-Computer-Schnittstellen, was als eine Cyborg-Enhancement-Technik klassifiziert werden kann. Die Firma Neuralink des Transhumanisten Elon Musk hat diesbezüglich ein besonders herausstechendes Potential.
Gibt es noch weitere wichtige Techniken?
Die dritte entscheidende Technik, um die personalen Begrenzungen zu überschreiten, ist das Mind uploading. Es gibt aber noch zahlreiche andere Techniken, die im transhumanistischen Kontext häufig thematisiert werden, wie etwa die Kryonik, womit die Kältekonservierung des Kopfes oder des gesamten Körpers nach dem Ganzhirntod einer Person gemeint ist. Hier besteht die Hoffnung einer zukünftigen Wiederbelebung. Ich erachte sowohl das Mind uploading als auch die Kryonik für höchst unplausibel hinsichtlich der Möglichkeit einer zeitnahen Realisierung.
Könnte eine philosophische Auseinandersetzung mit diesen Techniken trotzdem interessant sein?
Das Spannende an der Kryonik ist aus meiner Sicht, dass sie relevante philosophische Überlegungen inspiriert. Zum Beispiel ist man bis vor ca. 50 Jahren davon ausgegangen, dass ein Mensch tot ist, wenn Atmung und Herztätigkeit nicht mehr gegeben sind. Mit dem Aufkommen neuer Möglichkeiten, Menschenleben zu retten, z. B. mithilfe der Organtransplantation, hat man die damals vorherrschende Todesdefinition revidiert und geht nun vom Ganzhirntod als hinreichendem Todeskriterium aus.
Warum hielt man das für ein geeignetes Kriterium?
Weil ein funktionierendes Gehirn eine Notwendigkeit für das Vorhandensein eines Bewusstseins darstellt. Wenn ein Gehirn dysfunktional ist, dann ist auch der Wiedergewinn eines Bewusstseins nicht mehr zu realisieren. Bei den im Rahmen der Kryonik thematisierten Prozesse wird nun hinterfragt, inwiefern der Hirntod wirklich ein irreversibler Zustand sein muss. Denn: Es handelt sich ja eigentlich nur um gewisse Gehirnstrukturen, die auf einmal nicht mehr funktionieren. Könnte es nicht eine Möglichkeit sein, hier mit Hilfe von entsprechenden Nanorobotern, synthetischer Biologie, Stammzellen und dem Bioprinting die verloren gegangenen Funktionen wiederherzustellen? Warum sollte der Zustand der Dysfunktionalität des Gehirns nicht wieder rückgängig gemacht werden können? Das ist ein äußerst spannender Gedanke. Dass die Kryonik als Technik zur Wiederbelebung sich zeitnah als lebensweltlich relevante Option etablieren wird, erachte ich jedoch für unplausibel. Das Risiko der mit dem Prozess verbundenen zusätzlichen Zellschädigungen scheint mir ein höchstproblematisches zu sein.
Und welche philosophisch relevante Überlegung könnte mit dem „Mind uploading“ in Verbindung stehen?
Das Mind uploading ist ebenso ein technischer Vorgang, dem ich eher kritisch gegenüberstehe. Aber auch hier wird ein spannender Gedanke thematisiert. Ist das, was wir als Leben und Bewusstsein bezeichnen und nur auf einer kohlenstoffbasierten Grundlage kennen, auch auf einer Siliziumbasis möglich? Gegenwärtig ist das wohl noch nicht der Fall. Obwohl jemand wie Stephen Hawking sagte: So etwas wie ein Computervirus sei bereits eine lebende Entität. Aber natürlich wendet er hier nicht die Kriterien an, die weithin für eine hinreichende Definition von Leben angesehen werden. Ein Computervirus hat schließlich keinen Metabolismus. Aber man kann durchaus erkennen, warum manche Experten hier erste Anzeichen von Leben sehen. Vielleicht besteht auch die Möglichkeit der Entstehung von digitalem Leben, denn Analoges ist bereits vor dreieinhalb Milliarden Jahren auf der Erde geschehen. Auch damals haben sich wohl auf der Basis von Anorganischem, wie Wasser und Blitzen, die ersten Lebensformen entwickelt. Da Ähnliches bereits in der Vergangenheit geschehen war, ist es grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass eine Entwicklung von Leben auch auf einer Siliziumbasis möglich sein könnte. Aus dem Grund schließe ich einen solchen Prozess dezidiert nicht aus. Das Spannende an derartigen Reflexionen ist: Bei solchen Überlegungen werden die verkrusteten Relikte unseres Denkens herausgefordert.
Bezogen auf genetische Veränderungen sagen Sie, dass uns Verbesserungen in diesem Bereich zu autonomeren Menschen machen können. Inwiefern?
Hier sollten wir zunächst klären, was wir unter Autonomie verstehen. Autonom zu sein, kann zunächst bedeuten, dass jemand sich dazu entscheiden kann, der zu sein, der er sein möchte. Diese Auffassung ist allerdings durchaus angreifbar. Wie soll es denn möglich sein, Kriterien für die eigene Persönlichkeit zu bestimmen, ohne vorher bereits irgendwelche besessen zu haben? Diese Überlegung führt zu einem infiniten Regress. Außerdem ist zu beachten, dass die eigene Persönlichkeit zu einem erheblichen Teil von der Umwelt, dem kulturellen Umfeld, der Erziehung und den elterlichen Genen bestimmt wird. Kann es hier überhaupt einen Wählenden geben, der separat von diesen Einflüssen vorhanden ist? Dann gibt es die Vorstellung, dass ich autonom bin, wenn ich erkennen kann, was ich selbst will. Hier gilt es zu unterscheiden zwischen den Wünschen, die das „Man“ in Form von Facebook, Instagram und TikTok in uns etabliert hat, und denjenigen, die stärker mit unseren grundlegenden Trieben, Affekten und Sehnsüchten übereinstimmen. Herauszufiltern, was uns wichtig und was uns weniger wichtig ist, ist gar kein so einfacher Vorgang.
Aber auch noch ein drittes Verständnis von Autonomie sollte nicht unerwähnt bleiben.
Welches?
Demnach ist Autonomie mit der Möglichkeit verbunden, schnell und effizient ein bestimmtes Ziel erreichen zu können, indem ich z. B. als Schachspieler in der Lage bin, nicht nur 25 Züge im Voraus zu denken, sondern plötzlich mit Hilfe einer gesteigerten kognitiven Kapazität, auch 50 Züge im Voraus zu planen im Stande bin. Dann hätte ich meine Autonomie im Sinne der Realisierung eines bestimmten Ziels gesteigert. Mithilfe einer genetischen Modifikation sind wir gegenwärtig selbstverständlich noch nicht in der Lage, solche Fähigkeiten zu fördern. Wenn dies aber einmal möglich sein sollte, dann ließe sich auf diese Weise die Autonomie einer Person durchaus steigern.
Folgen daraus nicht weitreichende Probleme bezüglich eines demokratischen Gleichheitswerts? Nehmen wir als Beispiel die Corona-Impfung. Ein eher niedrigschwelliger Schritt, den nicht alle gegangen sind, führte zu einer ungleichen Verteilung von Teilhabemöglichkeiten im alltäglichen Leben. Wenn ich mir jetzt vorstelle, dass es Menschen geben könnte, die zehnmal schneller denken können als ich und es gleichzeitig andere gibt, die diesen Schritt nicht gegangen sind, dann zeigt sich hier doch ein gewaltiges Potenzial zum Auseinanderdriften der Gesellschaft. Oder?
Genau. Das ist in der Tat eine der zentralen philosophischen Herausforderungen, die mit der Entwicklung neuer Techniken verbunden sind und die seit den Anfängen des Transhumanismus im Rahmen dieser kulturellen Bewegung ernsthaft diskutiert werden. Das nennt sich im Transhumanismus das Gattaca-Argument. Wer den hervorragenden Film Gattaca gesehen hat, wird verstehen, was damit gemeint ist; nämlich die Aufspaltung der Gesellschaft in die genetisch Geförderten und die natürlich Gezeugten. Ausschließlich die genetisch Geförderten erhalten im Film den Zugang zu sozial herausgehobenen Jobs. Den natürlich Gezeugten bleibt jede Möglichkeit des sozialen Aufstiegs verwehrt. Sie haben in diesem Kontext treffenderweise die Covid-19-Impfung angesprochen. Das Beispiel verdeutlicht nämlich genau eine der Herausforderungen, die in der Praxis gegeben sind. Denn: Haben diejenigen, die die Chance besitzen, zuerst auf technische Möglichkeiten zugreifen zu können, nicht ungemeine Vorteile? Überspitzt gesagt: Sind die Bewohner der Schweiz und die des Silicon Valley nicht prädestiniert dazu, zu Übermenschen bzw. zu Posthumanen zu werden?
Und?
Schauen wir uns das doch mal an, wie das bei den Covid-19-Impfungen in unserer Lebenswelt abgelaufen ist. Diejenigen, die zu Beginn die Möglichkeit dazu hatten, konnten insbesondere auf den AstraZeneca-Impfstoff zurückgreifen. Das war zumindest der erste, der hier in Italien angeboten wurde. Es hat sich aber herausgestellt, dass in ganz wenigen Fällen für jüngere Frauen unter 55 Jahren ein erhöhtes Risiko bestand, durch die Impfung eine schwere Erkrankung, z. B. eine Hirnvenenthrombose, zu erleiden beziehungsweise auch daran zu sterben, so das Robert Koch-Institut. Das macht Folgendes deutlich: Für die meisten war ein großer Vorteil durch eine solche Impfung gegeben, aber für einige wenige nahm der technische Fortschritt einen tragischen Ausgang. Das heißt: Hier sind Menschen wohl an der Impfung gestorben, weil sie zuerst auf eine solche Impfung haben zugreifen können. Wären diese Menschen an Covid erkrankt, wäre das Risiko, an dieser Krankheit zu sterben, für sie nur sehr gering gewesen. Die Impfung hatte zwar enorme Vorteile für die meisten, die sie erhielten, aber gleichzeitig gingen diejenigen, die sich als erste impfen ließen, auch die größten Risiken ein. So ist dies bei jeder neuen Technik.
Gibt es denn bei der Entwicklung neuer Techniken nicht auch Herausforderungen bezüglich der globalen Gerechtigkeit?
Besten Dank für die Nachfrage. Oft zeigt sich: Wenn eine verlässliche und sehr effiziente, nützliche Technik entsteht, dann ist es häufig so, dass die Kosten schnell und signifikant zurückgehen, sodass die Möglichkeiten einer breiteren Nutzung gegeben sind. Das zeigt sich z. B. auch an der Behandlung von HIV-Positiven. Während 2014 nur 41 Prozent aller Positiven medikamentös behandelt wurde, konnten 2017 bereits 79 Prozent auf entsprechende Medikamente zugreifen. Der Fortschritt ist beachtenswert, jedoch besteht auch noch viel Raum nach oben. Es liegt an unserem politischen Einsatz, ob sich Herausforderungen für die globale Gerechtigkeit ergeben oder nicht.
Was motiviert Sie dazu, den Transhumanismus voranzutreiben? Sie zitieren in einem ihrer Bücher Nietzsche: „Der Übermensch ist der Sinn der Erde.“ Ist vielleicht auch für Sie das posthumane Dasein der eigentliche Sinn des menschlichen Lebens?
Die Frage nach dem Sinn ist in der Tat eine ganz zentrale. Über die Möglichkeit einer bedeutsamen Antwort auf die Sinn-Frage vor einem transhumanistischen Kontext habe ich mich in der Monographie We have always been cyborgs detailliert geäußert. Für unsere alltägliche Lebenswelt spielen jedoch noch andere Reflexionen eine entscheidende Rolle dafür, mich für den Transhumanismus einzusetzen. In den letzten 200 Jahren haben wir enorme Fortschritte im wissenschaftlichen und technischen Bereich gemacht und die individuelle Lebensqualität hat sich enorm verbessert. Diese Dynamik fortzuführen, ist eine zentrale Zielsetzung des Transhumanismus. Es hat sich zudem herausgestellt, dass entscheidende Verbesserungen nicht nur in Europa, sondern weltweit aufgetreten sind.
Woran machen Sie denn diese Einschätzung fest?
Vor 200 Jahren lag die absolute Armutsrate weltweit bei über 90 Prozent. Zu beachten ist, dass ich hier von der absoluten Armutsrate rede und nicht von der relativen. Über neun von zehn Menschen haben damals täglich um das Überleben gekämpft. Mithilfe des sozialen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritts der jüngsten 200 Jahren wurde diese absolute Armutsrate weltweit auf etwa zehn Prozent gesenkt. Das ist immer noch nicht perfekt, aber es ist eine deutliche Verbesserung. Das ist die entscheidende Stoßrichtung des Transhumanismus, die es zu beachten gilt.
Auf individueller Ebene wurden durch Innovationen die Lebensqualität und auf globaler Ebene die soziale Gerechtigkeit gefördert. Zusätzlich tritt der Transhumanismus für Freiheit, Demokratie und Pluralität ein. Jeder, der Pluralität und Freiheit leben möchte, müsste eigentlich den Transhumanismus bejahen.
Wie meinen Sie das?
Schauen Sie nach Russland, wo transhumanistische Ideen derzeit heiß diskutiert werden. Alexander Dugin, einer der einflussreichsten russischen Philosophen und Vordenker einer sogenannten eurasischen Wahrheit, erachtet den Transhumanismus für eine Idee des Teufels, da mit ihm Demokratie, Pluralität und LGBTQIA+-Rechte einhergehen. Diese Forderungen repräsentieren für ihn eine große Gefahr. Auch der Patriarch Kyrill I, der Vorsteher der russisch-orthodoxen Kirche, teilt Dugins Einschätzung hinsichtlich des Transhumanismus. Wer für Pluralität eintritt, sollte sich, meiner Meinung nach, mit dem Transhumanismus auseinandersetzen.
Findet sich im Transhumanismus vielleicht auch eine Lösung für eines der aktuell schwersten Probleme unserer Zeit, für die Bekämpfung des Klimawandels?
Selbstverständlich wird innerhalb transhumanistischer Debatten auch diese Herausforderung intensiv diskutiert. Ein entscheidender Gedanke ist, dass Menschen maßgeblich für den Anstieg des Kohlendioxidausstoßes verantwortlich sind. Je mehr Menschen es gibt, desto höher ist der Ausstoß an Kohlendioxid. Hier ist zu beachten, was Max Roser von der University of Oxford festgestellt hat, nämlich dass mit dem Vorhandensein von höheren Hygienestandards, einer gesteigerten Lebensqualität und Bildungsrate sowie einem verbesserten Zugang zu Nahrung, zu Unterkünften und zur Krankenversorgung der Rückgang der Reproduktionsrate einhergeht. Studien der Vereinten Nationen legen sogar nahe, dass der 12 Milliardste Mensch nie geboren werden wird, wenn die Förderung der Lebensqualität so voranschreitet wie bisher. Technische Innovationen und wissenschaftliche Forschungen waren in der Vergangenheit für diese Entwicklungen verantwortlich. Wenn wir diese Bereiche weiterhin fördern, dann ist zu erwarten, dass damit nicht nur die weltweite Lebensqualität gesteigert wird, sondern es werden quasi mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die soziale Gerechtigkeit verbessert sich, die allgemeine Lebensqualität nimmt zu und die Reproduktionsrate nimmt ab. Hiermit wäre auch ein entscheidender Schritt zur erfolgreichen Bekämpfung des Klimawandels unternommen.
Wie ist der Rückgang der angenommenen Reproduktionsrate zu erklären?
Hier spielen eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Dynamiken eine Rolle. Entscheidend für die Frage des Klimawandels ist, dass die gerade erwähnten Korrelationen bestehen. Dies hat auch zur Folge, dass in Deutschland mittlerweile eine Reproduktionsrate von 1.5, in Österreich von 1.4 und in Italien von 1.2 gegeben ist. Für eine genauere Erklärung empfehle ich, sich das Video Overpopulation der fantastischen Youtube Reihe Kurzgesagt – In a Nutshell anzusehen. Dieser Youtube-Channel ist generell ganz hervorragend. In zwei Büchern von mir zum Transhumanismus, die zeitnah erscheinen werden, werden diese hier nur kurz angerissenen Überlegungen ebenso noch genauer ausgeführt. •
Stefan Lorenz Sorgner ist Philosophieprofessor an der John Cabot University in Rom, Direktor und Mitbegründer des Beyond Humanism Network, Fellow am Institute for Ethics and Emerging Technologies (IEET), Research Fellow am Ewha Institute for the Humanities an der Ewha Womans University in Seoul und Visiting Fellow am Ethikzentrum der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Außerdem ist er in diesem Jahr Global Fellow an der Ewha Womans University. Er ist Herausgeber von mehr als 10 Aufsatzsammlungen und Autor mehrerer Monographien; z. B. „Menschenwürde nach Nietzsche“ (WBG 2010), „Transhumanismus“ (Herder 2016) und „We have always been cyborgs“ (Bristol University Press 2022). Darüber hinaus ist er ein gefragter Redner in allen Teilen der Welt (World Humanities Forum, Global Solutions Taipei Workshop und weitere) und regelmäßiger Ansprechpartner von nationalen und internationalen Journalisten und Medienvertretern (Die Zeit, Cicero, Der Standard; Die Presse am Sonntag, Philosophy Now, Il Sole 24 Ore).
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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