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Bild: Wolfgang Maria Weber (Imago)

Aus dem Leben

Tagebuch der Überforderungen: Kritik

Jochen Schmidt veröffentlicht am 04 Juli 2025 4 min

Es sind die kleinen Dinge, die das Leben so unfassbar anstrengend machen. In seinem Tagebuch der Überforderungen hält Jochen Schmidt das Ringen mit dem Profanen fest. Diesmal: Rätsel des Urteils.

 

Vor kurzem fuhr ich auf unserem Lastenfahrrad durch die Stadt, die Straße war breit, Autos fuhren hier kaum, es handelte sich sogar um eine Fahrradstraße, als mich ein Fahrradfahrer überholte, und, ohne ein Wort zu sagen, beim Weiterfahren deutlich sichtbar (jedenfalls, wenn man darauf achtete) den Kopf schüttelte. Ich sah an mir herunter und kontrollierte links und rechts die Abstände zu allem, was mich umgab, ich prüfte, ob mir irgendetwas Riskantes an meinem Verhalten auffiel, ich dachte kurz darüber nach, ob ich jemandem die Vorfahrt genommen hatte und ob meine Kinder angeschnallt waren (aber mein Fahrrad war ja leer).

Hatte ich ein T-Shirt mit einer provokanten Aussage an? Ich besitze so etwas kaum, höchstens ein Retro-Shirt der Jugoslawischen Fußballnationalmannschaft, aber das trage ich gar nicht mehr. Ich verhielt mich korrekt und machte gerade alles richtig, selbst in einer hochsensiblen Diktatur würde ich keinen Anlass geben, mich zu kontrollieren oder zu verhaften. Ich sang nicht mal falsch zur Musik aus meinen Kopfhörern mit, ich hörte gar keine Musik, sondern einen rumänischen Politik-Podcast, es gab also wirklich keinen Grund, über mich oder mein Verhalten den Kopf zu schütteln. 

Warum machte dieser Mann das? Noch konnte ich ihn sehen und ihm schnell hinterherfahren, um ihn zu fragen, was ihm an mir missfallen hatte, wenn ich aber nicht sofort reagierte und ihm folgte, würde ich es nie erfahren! Einer meiner Mitmenschen war unzufrieden mit mir, ihm war an mir etwas Kritikwürdiges aufgefallen, und er hatte seinen Ärger in sich hineingefressen und ihm nur mit einem kaum zu sehenden Kopfschütteln Ausdruck verliehen, das tat mir leid! Aber es wurmte mich auch, denn schließlich gebe ich mir große Mühe, immer alles richtig zu machen und hätte gerne wenigstens die Chance, mich zu verteidigen. Vielleicht handelte es sich um ein Missverständnis? Vielleicht hielt er mich wegen meines Fahrrads für „Woke“? 

Ab und zu werde ich von Männern beschimpft, wenn ich mit dem Lastenfahrrad durch die Stadt fahre, ich scheine meinem Geschlecht in ihren Augen Schande zu bereiten. Beim letzten „Herrentag“ hat mir ein junger Mann aus einer Gruppe Betrunkener heraus „Lumpensammler!“ zugerufen. Ich weiß nicht, ob ihm klar war, wieviel mein Fahrrad kostet, aber wenn ich es hätte, um Lumpen zu sammeln, wäre das ein schlechtes Geschäft. Ich hatte trotzdem ein paar Stunden an diesem Zuruf zu knabbern, weil mich menschliche Dummheit in jeder Form, vor allem natürlich verbunden mit Aggressionen, deprimiert.

Für manche Männer, vor allem solche, die sich am „Herrentag“ mit anderen Männern zusammentun, um schon am Vormittag betrunken Bierkästen spazieren zu tragen und damit der Mitwelt zu signalisieren, wie egal ihnen ihr Urteil zumindest an diesem Tag ist, bin ich eine peinliche Erscheinung, weil ich nicht Auto fahre, sondern Lastenfahrrad, symbolisch scheine ich sie kastrieren zu wollen, so erkläre ich mir den Zuruf „Lumpensammler!“ Habe ich den Kopfschüttler auch symbolisch kastriert? Immerhin fuhr er ja Fahrrad wie ich, also scheint ihm meine Lebensweise nicht völlig fremd zu sein. 

Vielleicht ist es ja ganz anders, und er hat mit einem schnellen Blick erfasst, dass mein Lastenfahrrad keinen Motor hat. Ich registriere das bei anderen Lastenrädern auch routinemäßig und ärgere mich immer über die motorisierten, vor allem, wenn sie meinen Fahrradtyp fahren, für mich selbst nenne ich sie „Schummler“ (obwohl mir bewusst ist, dass es keine Verpflichtung gibt, sich beim Fahrradfahren im Alltag anzustrengen, es ist ja kein Radrennen, ich dürfte mich theoretisch sogar dopen, Amphetamine nehmen oder mein Blut mit Sauerstoff anreichern, wie die Fahrer es bei der Tour de France heimlich tun). Vielleicht hat der Kopfschüttler gesehen, dass ich keinen Motor habe, und da er mich sympathisch fand, hat er meine selbstlose Entscheidung kritisieren wollen, weil er der Meinung ist, dass ich mir zu viel zumute, dass es übertrieben ist bei allem, was ich sonst schon den ganzen Tag über leiste, auch noch bei meiner Fortbewegung ausschließlich auf Muskelkraft zu setzen? 

Aber auch das, ob er mir gegenüber so wohlwollend eingestellt war, dass er mich gerne vor mir selbst schützen würde, werde ich nie erfahren, das Kopfschütteln wird mir für immer ein Rätsel bleiben, so wie das meiste in meinem Leben, was mit anderen Menschen zu tun hat, ich verstehe sie einfach nicht, ich weiß auch nicht, warum ich unter sie geraten bin? Es muss sich um ein Missverständnis handeln. Manche Menschen fühlen sich im falschen Körper gefangen, bei mir ist es umgekehrt, mein Körper fühlt sich mit dem falschen Geist ausgestattet. Ich brauche keine Geschlechtsumwandlung, sondern eine Gehirnumwandlung. Vielleicht bin ich ja ein Außerirdischer? •

 

Jochen Schmidt wurde 1970 in Berlin geboren. Im Herbst 2025 wird bei C. H. Beck sein neuer Roman „Hoplopoiia“ erscheinen. 2004 erhielt er den Förderpreis zum Kasseler Literaturpreis für Grotesken Humor und 2023 den Stahl-Literaturpreis der Stahlstiftung Eisenhüttenstadt.
 

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