Von Tieren lernen: Der Delfin
Was den Menschen vom Tier unterscheidet? Anstatt weiter nach Differenzen zu suchen, konzentrieren wir uns an dieser Stelle auf philosophisch wegweisende Gemeinsamkeiten. Diesmal der Delfin und das Geheimnis der Balance.
Sie leisten einsamen Fischern Gesellschaft und retten Menschen in Seenot. Sie können angeblich Autismus und andere Entwicklungsstörungen heilen. Und bei der „Delfinstrategie für Manager“ dienen sie als Vorbild für besonders elegantes betriebswirtschaftliches Handeln. Zu behaupten, dass Delfine Sympathieträger seien, ist noch weit untertrieben: Die Angehörigen dieser 40 Arten umfassenden Walfamilie sind die beliebtesten Meeressäuger überhaupt. Vor allem der Große Tümmler, der durch die Rolle des Flipper zum TV-Prominenten wurde, gilt als Inbegriff von Freundlichkeit, Klugheit und Milde. Delfine sind dieser anthropomorphisierenden Lesart zufolge nicht nur besonders gelehrig und sozial – sie sind Heiler und Heilige. Bessere Menschen.
Neben ihrer Verspieltheit gilt vor allem ihr beharrliches Lächeln als Beleg dafür, dass Delfine einfach rundherum gut drauf und sogar in der Tristesse eines Delfinariums mit ihrem Schicksal versöhnt sind. Physiologisch betrachtet entsteht der vermeintlich fröhliche Gesichtsausdruck durch die Form der Kiefer sowie die Tatsache, dass Delfine über keine Gesichtsmuskulatur verfügen, um angewidert den Mund zu verziehen. Aber könnte es nicht sein, dass das delfinische Permagrinsen tatsächlich Ausdruck einer optimistischen Grundhaltung ist? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir tief in ihren lächelnden Schädel schauen. Das Gehirn der Delfine ist, wie beim Menschen, in zwei Hemisphären gegliedert, eine rechte und eine linke Hälfte, die jeweils mit der gegenüberliegenden Körperseite verdrahtet ist. Allerdings haben Delfine eine besondere Fähigkeit: Wenn sie schlafen, versetzen sie jeweils nur eine Hirnhälfte in den zeitweiligen Ruhezustand – die andere bleibt wach und das damit verknüpfte Auge offen.
Keine Binarität
Dadurch sind Delfine jederzeit in der Lage, allfällige Gefahren zu erkennen. Vor allem aber sind sie vor jener unseligen Weltwahrnehmung gefeit, die alle Phänomene in rechts und links, richtig und falsch, gut und böse unterscheidet. Unsere menschliche Tendenz zum binären Denken geht, wenn wir dem Religionssoziologen Robert Hertz folgen, mit der Aufteilung unseres Leibes in zwei unterschiedliche Hemisphären einher. „Wie könnte der menschliche Körper, der Mikrokosmos, dem Gesetz der Polarität entkommen, das alle Dinge regiert?“, fragt er in Die Vorherrschaft der rechten Hand. „Die Gesellschaft, das ganze Universum hat eine sakrale, adlige, wertvolle Seite und eine andere, profane und gemeine – könnte da einzig der menschliche Organismus symmetrisch bleiben?“ Unsere Körperhälften verhalten sich zwar spiegelbildlich zueinander – aber wir gestehen ihnen niemals dieselbe Wertigkeit zu, sondern betrachten die eine stets als die rechtmäßige, richtige – die andere hingegen als linkisch und falsch.
Da unsere Hirnund Körperhälften unterschiedlich spezialisiert sind, tragen wir unablässig einen kosmischen Konflikt in uns aus. Es liegt auf der Hand, dass diese interne Querele strukturell darauf angewiesen ist, dass beide Gehirnhälften in Betrieb sind: Wenn eine hingegen schläft, steht die andere ohne satisfaktionsfähigen Gegenspieler da. Ja, das gesamte manichäische Prinzip ist damit ad absurdum geführt: Wo es nur eine Seite gibt, gibt es auch keine Binarität und keine Hierarchien. Vielleicht haben die Delfine also deswegen so gut Lächeln: Weil sie keine ihrer beiden Körper- und Hirnhälften bevorzugen, sondern die Verantwortung abwechselnd an die eine oder die andere Seite delegieren. Weil sie im wahrsten Sinne ein ausgeglichenes Leben führen. Ein Vorbild für uns Menschen? Das Geheimnis der inneren Balance? Hm. Schlafen Sie mal drüber. Aber: nach Möglichkeit nur mit einer Gehirnhälfte. •
Weitere Artikel
Von Tieren lernen: Das Faultier
Was den Menschen vom Tier unterscheidet? Anstatt weiter nach Differenzen zu suchen, konzentrieren wir uns an dieser Stelle auf philosophisch wegweisende Gemeinsamkeiten. Diesmal das Faultier und das Risiko.

Von Tieren lernen: Die Kuh
Was den Menschen vom Tier unterscheidet? Anstatt weiter nach Differenzen zu suchen, konzentrieren wir uns an dieser Stelle auf philosophisch wegweisende Gemeinsamkeiten. Diesmal die Kuh und das Glück des Immergleichen.

Von Tieren lernen: Der Krake
Was den Menschen vom Tier unterscheidet? Anstatt weiter nach Differenzen zu suchen, konzentrieren wir uns an dieser Stelle auf philosophisch wegweisende Gemeinsamkeiten. Diesmal: der Krake und die Uneigentlichkeit des Seins.

Der Hund
Was den Menschen vom Tier unterscheidet? Anstatt weiter nach Differenzen zu suchen, konzentrieren wir uns an dieser Stelle auf philosophisch wegweisende Gemeinsamkeiten. Diesmal der Hund und die Frage nach der Beherrschung.

Der Elefant
Was den Menschen vom Tier unterscheidet? Anstatt weiter nach Differenzen zu suchen, konzentrieren wir uns an dieser Stelle auf philosophisch wegweisende Gemeinsamkeiten. Diesmal der Elefant und das Wesen der Wirklichkeit.

Der Igel
Was den Menschen vom Tier unterscheidet? Anstatt weiter nach Differenzen zu suchen, konzentrieren wir uns an dieser Stelle auf philosophisch wegweisende Gemeinsamkeiten. Diesmal der aktivistische Winterschlaf des Igels.

Das Mammut
Was den Menschen vom Tier unterscheidet? Anstatt weiter nach Differenzen zu suchen, konzentriert sich unser Kolumnist Florian Werner auf philosophisch wegweisende Gemeinsamkeiten. Diesmal: Das Mammut als Zeichen männlichen Übermuts.

Die Schnecke
Was den Menschen vom Tier unterscheidet? Anstatt weiter nach Differenzen zu suchen, konzentriert sich unser Kolumnist Florian Werner auf philosophisch wegweisende Gemeinsamkeiten. Diesmal: Die Schnecke, die noch ganz Herr über den eigenen Körper ist.
