Der Schwan
Was den Menschen vom Tier unterscheidet? Anstatt weiter nach Differenzen zu suchen, konzentriert sich unser Kolumnist Florian Werner auf philosophisch wegweisende Gemeinsamkeiten. Diesmal: der Schwan und die Vorsehung des Todes.
Vor Jahren sah ich im Oberen Schlossgarten von Stuttgart einen Höckerschwan. Das wäre an sich nicht weiter bemerkenswert – der Schlossgarten wimmelt von Schwänen −, wenn das Tier nicht gerade gebrütet und sich zur Eiertemperierung und anschließenden Geflügelaufzucht ausgerechnet in einem jener hässlichen quadratischen Waschbetonzuber niedergelassen hätte, die seit den sechziger Jahren unsere innerstädtischen Anlagen prägen. Mit der diesen Vögeln eigenen Würde thronte der Schwan zwischen Zebraschilf und Stiefmütterchen und betrachtete majestätisch die um ihn herumschwänzelnden Spaziergänger, Skateboarder und kommunalen Reinigungskräfte. Nur wenn man ihm zu nahe kam, reckte er kaum merklich den Hals und ließ ein kurzes, warnendes Zischen ertönen.
Ungestörtes Nisten sieht anders aus, aber aus symbolischer Sicht hatte der Schwan seinen Brutplatz glänzend gewählt. Befand er sich doch direkt vor dem Eingang zur Stuttgarter Staatsoper: Keine hundert Meter entfernt chauffierte regelmäßig ein artifizieller Artgenosse von ihm den wagnerschen Lohengrin über die Bühne, und Ballerinen tanzten in weißen Federflaumkleidchen den „Schwanensee“. Oder wusste der Schwan womöglich, dass ihm, obwohl er sich auf einem Präsentierteller für potenzielle Fressfeinde niedergelassen hatte, nichts passieren würde?
Schließlich gelten Schwäne traditionell als Vögel der Weissagung; nicht von ungefähr sagt man bei bösen Vorahnungen, dass einem „etwas schwant“. Schon Sokrates rühmte die Tatsache, dass Schwäne ihren Tod vorhersehen können, ja dass sie diesem, wenn er sie an den Schwungfedern packt, sogar freudvoll ins Auge blicken. „(E)s kommt mir vor als hieltet ihr von meiner Wahrsagekunst weniger als von der der Schwäne“, tadelt er im Phaidon, die baldige Hinrichtung erwartend, seine Jünger die, auch sonst schon dem Gesange nicht abhold, dann, wenn sie das Nahen des Todes spüren, am meisten und am kräftigsten singen aus Freude darüber, daß sie nun im Begriff sind zu dem Gott zu gelangen, dessen Diener sie sind“ − gemeint ist Apoll, der Gott der Weissagung und des Gesangs.
Entenvögel, die ums Ende wissen
Sokrates zufolge sind Schwäne also nichts weniger als der Inbegriff des auf die jenseitige Welt bezogenen, dem Diesseits den Bürzel zuwendenden Lebens − und das heißt nicht zuletzt: Sie sind wahre Philosophen. „Philosophieren heißt sterben lernen“, wie der französische Denker Michel de Montaigne, den fraglichen Platon-Dialog paraphrasierend, einmal bemerkte: Man müsse den Tod seiner Unheimlichkeit berauben, indem man regelmäßigen Umgang mit ihm pflege, an nichts anderes so oft denke wie an ihn. Denn, so Montaigne: „Wer die Menschen sterben lehrte, würde sie leben lehren.“ Vielleicht schöpfen die Schwäne ja hieraus ihre hinreißende Ruhe: dass sie andauernd furchtlos bis freudvoll das eigene Ende antizipieren.
Vielleicht. Leider können wir nur Mutmaßungen hierüber anstellen, da sich die Schwäne uns Menschen gegenüber zu dem Thema nicht semantisch präzise äußern. Und auch der Schwanen-Intimus Lohengrin, der mit dem Innenleben dieser Entenvögel besser vertraut sein dürfte als irgendwer sonst, mag sein hellseherisches Wissen nicht mit den Normalsterblichen teilen: „Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen“, warnt er in der Wagner-Oper seine Verlobte. Als sie es doch tut, geht sie an der Wahrheit zugrunde.
Womöglich bleibt das Sterbenlernen, jene philosophische Königsdisziplin, die die Schwäne so meisterhaft beherrschen, also eine Kunst, die am Ende jeder für sich allein ausbrüten muss. Dazu passt auch die einzig klar vernehmbare Todesweisheit dieser mythischen Vögel, die da lautet: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man singen. •