Sokrates
Würde es die Philosophie ohne ihn überhaupt geben? Zweifellos hätte sie nicht dasselbe Gesicht. Sokrates steht am unmittelbaren Beginn der abendländischen Philosophie. Nicht, dass es vor ihm keine Philosophen gegeben hätte; doch werden diese auch „Vorsokratiker“ genannt, als hätten sie lediglich darauf hingearbeitet, sein Kommen vorzubereiten. Was macht also diesen Mann, der selber nichts geschrieben hat, und dessen Lehren uns heute nur dank einiger seiner Schüler wie Platon bekannt sind, so einflussreich?
Sokrates war nicht zuletzt eine schillernde Persönlichkeit und wurde von vielen als ein außergewöhnlicher Mensch wahrgenommen. Im Symposion beschreibt ihn beispielsweise der schöne Staatsmann Alkibiades, als einen Helden, der in Kriegen bewundernswerte Stärke und Mut zeigte, der auch unter dem Einfluss von Alkohol seine Würde niemals aufgab, der in der Lage war, prächtige Reden zu improvisieren sowie stundenlang zu meditieren. Seine außergewöhnliche Seelenstärke stellte Sokrates auch im Moment seines Todes unter Beweis, indem er kein Zeichen von Traurigkeit oder Angst zeigte. Seine Freunde hingegen, die ihn in diesen letzten Momenten begleiteten, brachen unter der Ungerechtigkeit seiner Verurteilung zum Tode durch den Schierlingsbecher zusammen.
Hatte er es verdient, dafür angeklagt zu werden, die Jugend zu verderben? Wahr ist sicherlich, dass Sokrates mindestens so sehr beunruhigte wie er andere begeisterte. Man muss sich nur die Reaktionen seiner Mitbürger, darunter Sophisten, Würdenträger und die angesehensten Staatsmänner vorstellen, die er auf den Straßen Athens und auf der Agora zum Gespräch aufforderte und ihnen nicht selten ihr vermeintliches Wissen als bloßes Meinen aufzeigte. Mit seinen kompromisslosen Fragen und seiner sehr effektiven ironischen Fragemethode, war er in der Lage, jeden argumentativ ins Wanken zu bringen. Denn anders als oft zitiert behauptete Sokrates nicht nichts zu wissen, sondern nicht zu wissen. Will heißen, dass er sich der Tatsache bewusst war, dass er keinen Zugriff auf die Wahrheit hat, sondern wie alle anderen Menschen auch nur Meinungen und kein Wissen hat.
Gerne erinnerte er seien Diskutanten auch daran, dass er der Sohn einer Hebamme war und von seiner Mutter die Gabe geerbt hatte, nicht körperliche, sondern geistige Geburten einzuleiten. Seine Fragemethode der Mäeutik bestand demnach darin, die zu kühnen Anmaßung der einen zu entkräfteten und wiederum andere, schüchternere Gesprächsteilnehmer den Mut zu weiteren Fragen zu geben. Nicht selten wurde er mit einer stechenden Pferdefliege oder einem Zauberer verglichen, so sehr schaffte er es, jeden zum Zweifeln zu bringen.
Sokrates widerlegte aber nicht nur oder stellte Fragen. Manchmal unterstützte er auch bestimmte Thesen, wie beispielsweise die, dass „es besser ist, ein Unrecht zu erleiden, als es zu begehen“. Für Sokrates fügt derjenige, der ein Unrecht begeht, sich selbst einen größeren Schaden zu als derjenige, der es ihm zufügt: Denn indem er moralisch falsch handelt, macht er sich selbst unglücklich und handelt gegen sein eigenes Wohl. Denn auch das ist Sokrates, wie Nietzsche es richtig sah: ein Moralist, der uns dazu antreibt, besser zu denken, damit wir besser leben können.