Jeremy Bentham
Stellen Sie sich vor, in einer rasenden Straßenbahn sitzt eine einzige Person, während drei Schaulustige auf den Bahngleisen sitzen und Gefahr laufen, zu Tode gequetscht zu werden. Mit dem Hebel in der Hand können Sie die Weiche umstellen und die Straßenbahn entgleisen lassen: einen Fahrgast opfern um drei Unglückliche zu retten. Tun Sie es? Jeremy Bentham hätte dies mit Sicherheit getan, auch wenn er nicht derjenige war, der das berühmte „Trolley-Problem“ (von engl. trolley = „Straßenbahn“) formuliert hat. Er hätte die Situation nach dem Nützlichkeitsprinzip entschieden. Dieses Prinzip bewertet jede Handlung danach, ob es zu einer Steigerung oder Verringerung von Glück führt. Und bedeuten drei gerettete Leben nicht ein höheres Maß an Glück als eines?
Der Begründer des Utilitarismus stammte aus einer angesehenen englischen Familie und war ein Wunderkind: Mit zwölf Jahren wurde er an der Universität Oxford zugelassen, mit fünfzehn promovierte er und schlug eine juristische Karriere ein, bevor er sich endgültig der Philosophie zuwandte. Unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus dem Anwaltsberuf widmete sich Bentham dem Entwurf eines rechtlichen und politischen Systems zu, das auf solideren Grundsätzen beruht als Gewohnheit, Sitte, Moral oder Glauben.
Dieses System ist der Utilitarismus, der in einer individualistischen und hedonistischen Moral wurzelt: „Die Natur hat den Menschen unter die Herrschaft zweier souveräner Herren gestellt, Schmerz und Lust. Es ist allein ihre Sache, uns aufzuzeigen, was wir tun sollten, und zu bestimmen, was wir tun sollen.“ (Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung, 1789) Die Moral beinhaltet eine wahre Arithmetik von Lust und Schmerzen, aus der sich das größtmögliche Glück für die Menschheit ergeben sollte. Anhand von sieben Kriterien – Dauer, Intensität, Gewissheit, Nähe, Verbreitung, Fruchtbarkeit und Reinheit – lässt sich seiner Ansicht nach der Grad der Moralität einer Handlung messen. Dies geht einher mit erstaunlich modernen Implikationen für die Behandlung von Tieren: „Die Frage ist nicht ‚Können sie denken?‘ oder ‚Können sie sprechen?‘, sondern ‚Können sie leiden?‘.“
Bentham, der zur Zeit der Französischen Revolution in Frankreich lebte, war ein entschiedener Gegner des Naturrechts, das in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verankert war. Allerdings formulierte er Rechtsgrundsätze, die in den Code Napoléon aufgenommen wurden. Zurück im Vereinigten Königreich schlug er der Regierung ein innovatives Strafvollzugsprojekt vor, das Panoptikum, das durch Michel Foucaults Überwachen und Strafen (1975) Bekanntheit erlangte. Benthams Einfluss ist beträchtlich, insbesondere durch seine Freunde und Schüler wie Jean-Baptiste Say und John Stuart Mill.
Der Utilitarismus ist bis heute sehr einflussreich und findet etwa bei der Entwicklung selbstfahrender Autos Anwendung. In der Tat ist Benthams Versuch, die Moral einer Handlung zu quantifizieren, besonders dann geeignet, wenn es um die Entwicklung von Maschinen geht, die in der Lage sind, ethische Entscheidungen zu treffen. •